– Zu Volker Brauns Gedicht „Schiff im Land“ aus Volker Braun: Texte in zeitlicher Folge – Band 3. –
VOLKER BRAUN
Schiff im Land
In eine Pfütze Europas hält ein blasser
Magerer Junge ein Schiffchen aus weißem Papier.
Er steht am Meer. Er sieht aufs unendliche Wasser.
Ein Duft von Brot und Süße streift über die Pier
Und steift mein Segel: ich kreuze in dem warmen
Hauch, der über der dunklen Küste weht.
Und ich bin voll von Lust und von Erbarmen.
Gegen Abend geb ich Feuer auf die Winterpalais.
Aus den Kanonen, die im entjungferten Himmel prahlen
Schlagen Platzgranaten: ein Pud
Die Stadt bricht ins Knie mit ihren Kathedralen
Die Docks entrollen, wie Taue, ihren Mut.
In den Speichern, wo sie sortiert in Fächern lagen
Falten sie wieder Knie auf und Händ.
Ich fühle meine Mannschaft verwegen tagen
Im Frührot, das über den Banken brennt.
Im Bilderbuch sah ich träumend die Vögel so gleißen;
Jetzt seh ich mich satt an der Schande der Strände und streife sie roh.
Ich bade im Unermeßlichen, das mir verheißen
Ist. Nie war ich so froh.
Aber ich schwimme stromauf: die Flüsse ermatten.
Dünne Nebel netzen den Kiel, die Ufer schlagen mich leck.
Langsam ramme ich die seltsamen festen Schatten
Und transparentne Tore hängen rot wehend ins Deck.
Aus den Hallen fallen die fahlen Gespenster
Die sich an den Maschinen morden mit eigner Hand.
Blinde Luft besetzt die Fenster.
Etwas klebt wie Kleister am Bug: das Land.
Und ich fahre noch, feuernd aus den Rohren
Detonationen reißen gewaltige Schluchten her;
Ich seh mich, mit meinen Kinderaugen, verloren.
Und manchmal stell ich mich quer und daß was war jetzt weg wär
Stoße ich die steinigen Lawinen
Und Beton über Bord in die Täler: und da
Steigt das Wasser zu Seen in die Turbinen
Ich schwebe in weißen Gewässern, die nie ein Schiff sah.
Teiche voll Teig und harschen Entschlüssen
Mit bleichen Lippen in den Tag geschrien.
Schotterseen, die in die Schablonen müssen.
Pleiße geplagt vom Sound der Raffinerien.
Ich muß in den Dreck hinein, ich will ihn greifen
Besudelt von Salz und Notwendigkeit.
Ich muß meinen Leib durch diese Arbeit schleifen.
Ich schirre den Schlamm an, das Gezähe der Zeit.
Lust, Reibeisen der Realitäten
Auf dem ich mich hingebe, meinen süßen Bast.
Rausch der Kanäle, die aus dem Schoß der Erde treten.
Schamlippen leuchtende Fahne am Mast.
O Ufer Rand der Verzweiflung Schicksal Schlammassel.
Die Mannschaft seilt sich ab von den Takeln der Lust.
Aus dem Drahtbett wälzt sich, mit kaltem Gerassel
Der Alltag mit planierter Brust.
Es ist ein langsamer knirschender Morgen.
Das Meer von versunkenem Jubel erbricht
Sich, im schäumenden Zeitungspapier verborgen.
Idiotische Lampions im Leuna-Licht.
Ich fahre (was sind das für Fahrradspangen an meinen Hosen)
Ich fahre, ich fahre fort: (einst ging es mir gut)
Meer aus Scheiße, Geduld, das täglich erstickte Tosen.
Sümpfe über den Plänen brütend, förmliche Flut.
Meer unterm Rauch vertagt, wo panische Wolken klaffen.
Ich sehe, ich seh, der Inseln gelber Hohn
Winselndes Meer aus Wäldern und kahlen Waffen
Diese steppenhafte Umarmung, geizige Vision.
Des Morgens sanfte Finger spielen in der Scheide…
Ich fahre voraus in taumelnder Bilder Schnee.
Ich fahre ich sehe noch einmal die köstlich Weite;
Das kotige Segel schleppt den Wind der Idee.
Ich sehe Lichtungen grasgrün, ihren köstlichen Namen nennend
Ich sehe, was die Ertrunknen sahn im Stacheldraht
Entsetzliche Freude auf meinen Brettern brennend
Untergänge: sie halten den Aufruhr parat.
Das ist das Element, das meine Fahrt befeuert.
Ich kreuz wie ein Feind, der aus den Wällen bricht
Mit starren Masten, nur von der Hoffnung gesteuert
In diesen kalten Bericht.
Jetzt habe ich das lächelnde Schreckgesicht der Rotten
Die in ihren Bretterbuden warten an der Transsib
während die Kamele ruhig in die Horizonte trotten
über des Treibers verdurstendes Geripp.
Vielleicht ist es nur mein Schatten noch, mein Scheitern
Mit zersplissenen Planken, auf denen ich ruhig lieg
Im Anprall des letzten Bilds, und die anderen, heitern
Greifen es mit den Lippen und schmecken den Sieg.
Auch Gedichte haben ihr Schicksal. Im Falle von Volker Brauns „Schiff im Land“ das, erst mehr als zwei Jahrzehnte nach der Niederschrift das Licht der Öffentlichkeit erblickt zu haben. Obwohl es schon in den Druckfahnen existierte, entschied man sich (ob Autor oder Verlag mag dahingestellt bleiben), „Schiff im Land“ nicht in den 1965 erschienenen Gedichtband Provokation für mich aufzunehmen. Und auch in den später edierten Gedichtbüchern ist dieser Text nicht zu finden. Erst im 3. Band der Texte in zeitlicher Folge, der 1990 in Brauns Hausverlag in Halle herauskam, war das Gedicht zu lesen, rubriziert unter die Überschrift „Verstreute Gedichte 1959–1968“, umgeben von Texten, die den Titel „Kinderlieder“ oder „Pauls Lieder“ tragen, obwohl sich „Schiff im Land“ für jedermanns Auge sichtbar schon seines Umfangs wegen von diesen wie ein Berg im Hügelland unterscheidet. Erst recht natürlich – und deshalb ist von ihm die Rede – seinem generellen Stellenwert in Volker Brauns Lyrik nach. Den hat in dem auf die Texte in zeitlicher Folge 1996 nachkommenden Auswahlband Lustgarten. Preußen inzwischen auch Braun unmißverständlich markiert, indem er nahezu alle in Provokation für mich veröffentlichten Gedichte ausschied. „Schiff im Land“ hingegen unter die Ausgewählten Gedichte des Zeitraums von 1959–1974 aufnahm, nunmehr auch in den Anmerkungen mit dem Datum der Entstehung versehen: August 1963. Gründe genug also, danach zu fragen, was für eine Bewandtnis es mit diesem Gedicht hat. Die Antwort darauf wird mehr als eine persönliche Lesart sein müssen.
Als Novum oder Sonderfall kann „Schiff im Land“ allein schon gelten, weil das Gedicht die bisherigen Maße der für die frühen sechziger Jahre typischen Braun-Gedichte sprengt. Mit 21 Strophen (also 84 Zeilen Länge) fällt es aus dem gewohnten Rahmen. Es handelt sich – borgt man sich dafür einen Terminus aus, der in den damaligen bundesdeutschen Lyrikdebatten oft gebraucht wurde – um ein „langes Gedicht“. Eine genrespezifische Bezeichnung wie in zahlreichen anderen Fällen, wo sich Braun für „Lied“ oder „Psalm“ entschied, fehlt bei diesem Text mit gutem Grund.
Auch der Titel des Gedichts „Schiff im Land“ ist kein geläufiger, weil er – anders als andere Überschriften in den Gedichtbänden dieses Autors – keine Rückschlüsse darauf zuläßt, um welche Art von Schiff und um welches Land es sich handelt. Und doch steht hinter dieser Überschrift eine poetische Idee – noch kein Programm –, die für Braun damals wohl ebenso neu war wie für die Lyrik der DDR: ein ästhetisch emanzipiertes Schreiben, das eine Art von Selbstverwirklichung ermöglichte, wie sie in diesem Text vorgeführt wurde. Daß dabei ein Lyriker Pate gestanden hatte, der zu den Kronzeugen einer modernen Lyrik gezählt wurde (in der DDR damals eher durch eine „negative“ Fixierung in Hugo Friedrichs Buch Die Struktur der modernen Lyrik einigen Spezialisten bekannt), verrät das Gedicht nicht. Erst die Gedichtauswahl aus dem Jahre 1996 dokumentiert die wörtliche Anleihe, die der damals vierundzwanzigjährige deutsche Lyriker bei seinem noch jüngeren französischen Impulsgeber Arthur Rimbaud genommen hatte. Daß sich im Sommer 1963, als das Gedicht entstand, zwei wahlverwandte Poeten geistig begegneten und fortan miteinander im Bunde waren, ist diesem Gedicht zwar nicht auf manifeste Weise eingeschrieben, wird bei einem Textvergleich aber offenkundig. Rimbauds „Bateau ivre“ und Brauns landaufbrechendes Schiff, das eine aus dem Geist der Kommune, das andere aus dem des Aufbruchs in eine neue Gesellschaft entstanden, gleichen sich auch in der äußeren Form der gereimten vierzeiligen Strophe, und auch deren Zahl ist annähernd die gleiche. Beide Texte stimmen zudem darin überein, daß ein symbolisch überhöhtes lyrisches Ich die Sprechweise bestimmt. Es ist ein durch die Größe des Schiffes und die Weite des Meeres gleichsam potenziertes Subjekt, aus dem all das in einem spricht, was zuvor auf mehrere Stimmen und Gedichte verteilt von diesem Lyriker kundgetan worden war. In der Bewegungsrichtung unterscheiden sich beide Schiffe freilich: Rimbaud läßt es hinabschwimmen, bei Braun wird der Kurs durch die Flüsse ins Land hinauf gesteuert, und auch die Räume und Zonen, die sie durchfahren, unterscheiden sich voneinander. Beiden gemeinsam aber ist das Übermaß des Sehens, das ebenfalls die Erlebnis- und Erfahrungsgrenzen eines Menschen bei weitem übersteigt. Es ist die große Welt, in die die beiden Dichter ausgreifen: bei Braun auch aus einer klein und banal auf die DDR eingegrenzten Wirklichkeitssicht. Es ist auch eine Wortwelt anderer Art, in die man beim Lesen des Gedichts von Volker Braun geführt wird. Die Lexik verrät es. Sie ist das Spiegelbild jener Wirklichkeiten, aus denen sich dieser Text speist.
Da ist zunächst das Schiff selbst, das in vielgestaltiger Erscheinung vorkommt: als Papierschiff (des Knaben) am Anfang, wo das Meer auch zum ersten Mal – mit Rimbaud – eine „Pfütze Europas“ genannt wird, als Segelschiff, das in Gegenden „kreuzt“, wo sich „Winterpalais“ befinden (zum ersten Mal eine historische Chiffre), die beschossen werden (eine Reminiszenz an den Kreuzer Aurora), und schließlich, als die Fahrt „stromauf“ geht, als ein amphibisches Fahrzeug, das zumindest virtuell vermag, was maritimen versagt ist. In der Schwebe bleibt auch, was als inneres Erlebnis dieser Wasserfahrt Braun mit Rimbaud verbindet und auch wieder trennt: „Untergänge“ und „Sieg“ (das letzte Wort im Text von Braun). Nicht zu übersehen ist, daß in Brauns Gedicht ein Thema anklingt, das in seinem Drama Die Kipper gestaltet wurde: das Gegenspiel von Zukunftserwartung und Alltagsmisere (im Dramentext an die Technologie der Braunkohleförderung gebunden). Nicht von ungefähr heißt es beim Übertritt vom Wasser auf das Land:
Teiche voll Teig und harschen Entschlüssen
Mit bleichen Lippen in den Tag geschrien.
Schotterseen, die in die Schablonen müssen.
Pleiße geplagt vom Sound der Raffinerien.
Ich muß in den Dreck hinein, ich will ihn greifen
Besudelt von Salz und Notwendigkeit.
Ich muß meinen Leib durch diese Arbeit schleifen.
Ich schirre den Schlamm an, das Gezähe der Zeit.
Hier ist das Schwimmen, das sich mit einem maritimen Wortschatz mühelos assoziiert, zur anstrengenden Arbeit geworden, die nicht spurlos am Menschen vorübergeht, der nicht zufällig mit seinem „Leibe“ ganz sinnlich faßbar werden soll. Dieser Übergang setzt der vorherigen Schwimmbewegung handfesten Widerstand entgegen. Es ist nicht nur ein Wechsel der Tag- und Nachtzeiten, mit dem der „Alltag mit planierter Brust“ der Lust und dem Rausch ein Ende setzt:
Es ist ein langsamer knirschender Morgen.
Das Meer von versunkenem Jubel erbricht
Sich, im schäumenden Zeitungspapier verborgen.
Idiotische Lampions im Leuna-Licht.
Die Landschaft, die sich hier auftut, ist die der industriellen Arbeitswelt, die bei Braun eher nüchtern und bedrohlich beschrieben wird, punktuell schon an spätere Texte erinnernd, in denen die industriell verursachte Umweltzerstörung auf erschreckende Weise gezeigt wird.
Dennoch bleibt der Impetus des Gedichts ungebrochen, vor allem durch die Verben der Bewegung („Ich fahre“) und der sinnlichen Wahrnehmung („Ich sehe“) vor Stillstand abgesichert. Dies verdankt sich aber auch dem Gesetz, das dieser Bewegung in ihrer Tiefe innewohnt, wo „Untergänge“ immer wieder den „Aufruhr“ herausfordern. Und das gilt im weiteren Sinne auch für den Gedichtschluß, der „Scheitern“ an die Vorahnung künftigen Siegs koppelt. Es ist kein bitterer Tod, sondern einer, der noch im letzten Augenblick von Bildern begleitet wird, die „Hoffnung“ unversehrt lassen.
Nimmt man alles in allem, dann kann es keinen Zweifel daran geben, daß hier ein Gedicht vorliegt, das in mehrfacher Hinsicht über die Zeit seiner Entstehung – auch im poetologisch-literaturgeschichtlichen Sinne – hinausweist. Verglichen mit damaligen Wertvorstellungen von Lyrik, ist unschwer auf Begriffe zu bringen, mit welchen dieser Text n i c h t mehr zu fassen ist:
Es ist kein auf operative Wirkung angelegtes Gedicht (in diesem Falle schon durch seine verspätete Publikation ausgeschlossen).
Es ist kein Gelegenheitsgedicht, das seinen Anlaß thematisiert.
Es ist kein aktuelles Zeitgedicht, das sich an Ereignissen der DDR-Geschichte festmachen läßt.
Es ist kein Gedicht, das sich gängiger Genre-Rubrizierung fügt.
Es ist kein Gedicht, das Tatsachen widerspiegelt, sondern einen Text, dessen Verfasser Wirklichkeit nach Maßstäben definiert, die nicht aus dem Lehrbuch der Ästhetik hergeleitet werden, sondern aus der Souveränität des Umgangs mit Wirklichkeit, wie von Rimbaud in „Bateau ivre“ gezeigt.
Es ist ein Initiationsgedicht, das in Brauns Lyrik eine Rimbaud-Rezeption einleitete, die zwanzig Jahre später in ihre produktiv-folgenreiche Phase eintrat, als er sich einer gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenübersah, die ihm neue und andere Schreibweisen als Lyriker abverlangte.
Dies konnte man zum ersten Mal nachlesen in der gedruckt vorliegenden Rede „Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität“, die am 4. Mai 1983 in der Plenarsitzung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz gehalten wurde. Für Kenner der Lyrik Brauns war es danach keine Überraschung mehr, daß der drei Jahre später publizierte Gedichtband Langsamer knirschender Morgen auf eine Gedichtzeile aus „Schiff im Land“ (auf ein Zitat also) zurückgriff, die an den Text aus dem Jahre 1963 erinnert. Nicht minder signifikant nahm sich aus, daß Braun als Schlußgedicht dieses eine plazierte, das an Rimbaud erinnert: mit seinem Titel „Das innerste Afrika“ und mit einem nun auch als „Material“ kenntlich gemachten Zitat aus Rimbauds Illuminations, das in deutscher Übersetzung wiedergegeben wurde:
Non! Wir werden den Sommer nicht mehr in diesem geizigen
Land verbringen, wo wir immer nur einander versprochene
Waisen sind,
aaaaaaaaaakomm
Steckmuscheln, Zikaden
Mach dich auf
Lebenslänglicher Leib:
SIEH DAS MEER, DAS DAGEGEN IST.
ERREICHE ES VOR DER RENTE.
DU MUSST DIE GRENZE ÜBERSCHREITEN.
Noch einmal wurde ein Rest Utopie mit Rimbaud beschworen, aber schon zwei Jahre später nahm die Grenzüberschreitung in der Wirklichkeit einen Verlauf, der den deutschen Lyriker in eine ähnliche Lage versetzte wie den Kommunarden Rimbaud 1871. Was Volker Braun nun kommen und gehen sah, nannte er, auf Brecht anspielend, „das nicht Nennenswerte“.
Klaus Schuhmann, aus Peter Gosse, Roland Opitz, Klaus Werner (Hrsg.): Was ist das Bleibende? Zwanzig Einmischungen von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern, edition ost, 1999
Schreibe einen Kommentar