EIN ROBOTER
Er ist schön
ich kaufte ihn wie einen sklaven
ich kaufte ihn für alles geld
ich werde mit den ohren essen gehn
er ist stark
so wie er wurde in dem zuchthaus
die tauben schreie der sechs ätherkreise
atmet er gelassen ein und aus
ich frage ihn:
du den mein stummgeschlagner bruder schuf
mit wessen stimme willst du reden sag
der taster tastet: – schweigen –
er ist weise
Christa Reinig
Das erste Atelier – das zeitgenössische deutsche Prosa sammelte – hat viele Leser gefunden. Der Herausgeber dankt diesen Lesern ebenso wie den Autoren, Verlagen, Freunden und Kritikern, die seinen Versuch unterstützt haben und unterstützen. Er wünscht sich allerdings, daß das Atelier nicht allzu sehr mit dem Gewicht einer verbindlichen Repräsentation belastet wird, wie es hier und da geschehen ist. Im Nachwort zum Atelier I wurde bereits darauf hingewiesen, wie „subjektiv und widerrufbar“ das Unternehmen einer Anthologie von Texten aus nur wenigen Jahren sein muß. Deswegen werden die Bände des Atelier – der erste wie auch der vorliegende – von Zeit zu Zeit ergänzt werden durch neue Zusammenstellungen. Zweck dieser Versuche ist, die literarische Situation der jeweiligen Jahre an Hand von Beispielen möglichst genau zu demonstrieren: auf wichtige Arbeiten bekannter Autoren hinzuweisen und Texte unbekannterer Autoren vorzustellen.
Dieses zweite Atelier kann als Buch mit neun Kapiteln gelesen werden – so wurde es zusammengestellt –, die Aufeinanderfolge der Gedichte innerhalb der Abteilungen ist nur als Vorschlag gedacht. Die einzelnen Abteilungen belegen die Hauptthemen der Gedichte der letzten Jahre: die kritische Reserve gegenüber den gegenwärtigen Umständen (III) und die Erinnerung – das Gedicht „vergißt“ langsamer – an frühere (I und II), die Stationen des Exils, des äußeren wie des inneren (IV und V), und schließlich – dies besonders ist eine neuere Entwicklung – die freien Spiele mit der Sprache: die (zumeist parodistische) Wiederaufnahme überlieferter Formen: Kinderreim und Chevy-Chase-Strophik, Klapphornverse und Bänkellied (VIII). Gedichte zu Jahreszeiten (VI) oder Landschaften (VII) treten hingegen zurück – bezeichnenderweise fand sich nur ein Gedicht, das von einer Stadtlandschaft handelt. Die letzte Abteilung sammelt Gedichte zur Sprache zum Schreiben. Der Herausgeber bekennt, daß er bei der vorliegenden Auswahl die Arbeiten einer bestimmten Gruppe von Autoren nicht berücksichtigte, die Peter Rühmkorf einmal bissig als „abstrackte Fliesenlegerpoesie“ bezeichnete. Er bekennt, daß er die vorgebliche „harte bewußtheit“ dieser Gruppe gegenüber dem „material“ und den „strukturen“ in ihren Arbeiten nicht wiederfindet, daß ihm scheint, die literarische Verantwortung werde allzu sehr der Typographie überlassen, und daß er in den lesbaren Zeilen nur Althergebrachtes zu entdecken vermag („mein atem zehrt am gras der erde“; „aus blüten hervor tritt leuchtende spreu“). Man muß zudem fürchten daß diese Lyrik (die, nach den Verlautbarungen ihrer Verfasser, genauso auf die Realität zurückwirken will wie jede) der Vorstellungswelt einer bestimmten gesellschaftlichen Realität mehr entspricht denn widerspricht: Vorstellungen etwa der Art, daß unsere Freiheit sich gerade dadurch definiere, daß in ihr auch die größte Narretei Platz habe. Den freilich ungefährlichen Platz der zoologischen Kuriosität.
Dieser stillschweigenden oder ungewollten Affirmation der gesellschaftlichen Realität scheint eine Art Neobukolik bei manchen der jüngsten Autoren zu entsprechen, ein Rückzug auf wertneutrale Fauna und Flora. Diese Versuche, zweifellos neueren Datums (etwa ab 1960/61) als die der „Materialien“ (die etwa 1953/54 begannen), durften nicht unterschlagen werden wenn auch vorerst unsicher bleiben muß, ob sie auf eine bloß formal neuinstrumentierte Imitation gegenwärtiger Leitklischees oder auf deren ironisches Konterfei hinauslaufen. Mit Nachahmung oder Bestätigung aber hat das heutige Gedicht nichts zu schaffen. Nichts mit Weihe, ob Waffen- oder Warenweihe aber auch nichts mit dem bloßen Abseits, ob Wiesengrund oder Meßtisch. Nichts mit Gefolgschaft, alles mit Widerpart. Von dieser Interferenz des heutigen Gedichts zu dem, was Cummings „mostpeople“ nannte, berichtet das hier Gesammelte.
Klaus Wagenbach, Nachwort
anschließend an Das Atelier 1, das zeitgenössische Prosa vorstellte – will Eigenart und Ort der deutschen Lyrik zu Beginn der sechziger Jahre mit Texten von Autoren der Bundesrepublik, der DDR, Österreichs und der Schweiz beschreiben. Die Auswahl beschränkt sich dabei weder auf die großen Namen noch auf bereits Publiziertes. Die Absicht des Herausgebers ist, dem Leser mit diesen jüngsten Gedichten und einer Auskunft über ihre Autoren beides in die Hand zu geben: Beispiele und Materialien.
Fischer Bücherei, Klappentext, November 1963
Der vorliegende Band gibt einen Querschnitt durch die zeitgenössische deutsche Lyrik. Er knüpft an Atelier 1 an, das der Prosa gewidmet war; das Prinzip der Auswahl ist jedoch leicht verändert: Während der Herausgeber bei Atelier 1 aus unpublizierten Werken seine Wahl traf, erschließt er dem Leser hier die Fülle der in den letzten Jahren entstandenen Gedichte, veröffentlichte wie unveröffentlichte. Auf diese Weise entsteht eine poetische Bestandsaufnahme, die freilich manchen Vorstellungen vom Gedicht als Spiegel einer „Heilen Welt“ entschieden widerspricht.
Fischer Bücherei, Klappentext, November 1963
(…)
Von anderen Voraussetzungen als Leonhard und Schwedhelm ging Klaus Wagenbach bei der Zusammenstellung seiner Gedichtsammlung Das Atelier II. Zeitgenössische Deutsche Lyrik aus, die er der Prosa-Anthologie Das Atelier vom Frühjahr 1962 folgen lässt.
Auch Wagenbach will einen Ueberblick geben und „die literarische Situation… an Hand von Beispielen möglichst genau… demonstrieren“.
Dabei will er aber nicht nur Neues und Unveröffentlichtes präsentieren; seine Absicht vielmehr ist es, „auf wichtige Arbeiten bekannter Autoren hinzuweisen und Texte unbekannter Autoren vorzustellen“. Somit hatte Wagenbach die grössere Auswahl, und Lyriker wie Arp, Bachmann, Celan, Eich, Grass, Enzensberger, Huchel, Kaschnitz und Rühmkorf sind in seiner Sammlung ausnahmslos vertreten. Manche neuen Gedichte bekannterer Autoren – etwa von Huchel, Celan, Fried und Kunert – sind den letzten Gedichtbüchern dieser Lyriker entnommen, die seit der Buchmesse bereits vorliegen.
Der Schwerpunkt liegt beim Atelier II auf den Gedichten der letzten Jahre, die einigermassen ausgereift erscheinen, die also Aussicht haben, einige Zeit wenigstens zum Bestand zu gehören. Somit ist das Atelier II eine „Anthologie“, eine Blütenlese in nahezu ursprünglichem Sinne geworden, eine Sammlung, die das wahrscheinlich Beste aufheben und – das Buch erscheint in einer Taschenbuch-Reihe – einem grossen Publikum zugänglich machen will. Neue Entdeckungen wird der Kenner zeitgenössischer deutscher Lyrik hier allerdings kaum machen können. Ihm fallen unter den Lyrikern vielleicht einigte Namen auf, die ihm bisher nur von Prosa- oder Essay-Veröffentlichungen her bekannt waren: Herbert Heckmann etwa, oder Klaus Nonnenmann und Martin Walser. Entdeckungen wird man sie aber kaum nennen können, da ihre Gedichte nicht über den Durchschnitt hinausragen.
Klaus Wagenbach betont in seinem Nachwort ausdrücklich, dass er bei seiner Auswahl jene Autoren nicht berücksichtigt habe, deren Arbeiten Peter Rühmkorf einmal als „abstrakte Fliesenlegerpoesie“ gekennzeichnet habe. In ihren Gedichten, so scheint es Wagenbach, werde „die literarische Verantwortung allzu sehr der Typographie überlassen“. Im Zusammenhang mit dieser Bemerkung verdient ein Gedicht Helmut Heissenbüttels, das Wagenbach in sein Atelier II aufgenommen hat, einige Beachtung. Auch dieses Gedicht scheint auf den ersten Blick nach der Art der mit geistvollen Texttheorien verbissen laborierenden lyrischen Avantgarde gebastelt zu sein. Durch seinen pointierten Schluss aber erhält es einen leichten Beigeschmack von Ironie, der es reizvoll macht und der die Möglichkeit der Selbstparodie einschliesst :
1 Mann auf 1 Bank
1 Zwieback in 1 Hand
aaaaaaaaaaaaaaaa a a1 Hand
aaaaaaaaaa ain 1 Hand und
1 Mann und
1 Zwieback und
aaaaaaaaaaaaaaaaa aaHand
aaaaaaaaaa ain Hand und
aaaaaaaaaa auf 1 Bank
1 Zwieback
1 Zwieback Hand und
aaaaaaaaa a Krümel
Als ich noch in Berlin, aber schon auf gepackten Koffern für München saß, fragte mich Klaus Wagenbach, ob ich mit ihm ein literarisches Jahrbuch herausgeben wolle. Wir hatten uns über Kafka kennengelernt, nämlich über dessen erste Veröffentlichungen, die ich in Franz Bleis Zeitschrift Hyperion gelesen und zu denen ich Herrn Dr. Wagenbach befragt hatte. Das war 1965, lange vor Wikipedia, als man noch nicht im Handumdrehen die Publikationsgeschichte der großen Autoren nachlesen konnte. Und ich hatte kein Geld, mir alle Bücher zu kaufen, die ich unbedingt und sofort lesen musste. Ich litt darunter, nicht alles lesen zu können, was ich lesen wollte, auch wenn ich mir mit meinem etwas angeberischen Eifer in nicht-literarischen Kreisen nicht nur Freunde gemacht habe. Erklärt habe ich mir mein zeitweiliges Strebertum damit, dass ich das versäumte Studium „kompensieren“ wollte, wie das damals hieß. Mit dieser Attitüde war es Gott sei Dank bald vorbei, geblieben ist die Bewunderung für Menschen, die so viel mehr als ich gelesen haben – und die auch im Alter noch wie geübte Jongleure darüber verfügen können: Norbert Miller, Volker Klotz, Peter von Matt, George Steiner, Hans Blumenberg, diese Gedächtnisweltmeister. Es hat etwas gedauert, bis ich begriffen hatte, dass man weder alles gelesen haben muss – George Steiner: „Du kennst doch sicherlich das gewaltige Werk über Hiob von Mordechai Ginsberg?“ – noch gelesen haben kann: Selbst Canetti, der sich fest vorgenommen hatte, nicht zu sterben, bevor er nicht alle bedeutenden Bücher gelesen hätte, musste irgendwann aufgeben. Sogar über die schmerzliche Tatsache, dass man – aus welchen Gründen auch immer – einen Haufen fürchterlicher Bücher gelesen hat, kommt man eines Tages hinweg, wenn man begriffen hat, dass sie das Unterscheidungsvermögen stärken.
Wagenbach hatte auf meine Kafka-Frage sehr freundlich geantwortet, wir lernten uns kennen, als er von Frankfurt (wo er beim Modernen Buch-Club und bei S. Fischer gearbeitet hatte) nach Berlin zog und seinen Verlag gründete, ich lernte durch ihn seine ersten Autoren (und Autorinnen) kennen oder besser kennen, wir tauschten uns aus. Und natürlich sagte ich zu, als er mich fragte, ob ich mit ihm ein noch unbenanntes Jahrbuch herausgeben wolle. Es gab damals kaum Verlage in West-Berlin, alle großen Unternehmen der Vorkriegszeit hatten sich über Deutschland verstreut, und die kleinen waren wirklich klein. Aber von Anfang an hat mich – abgesehen von seinen Kafka-Kenntnissen – Wagenbachs Humor angezogen, der immer über seine gelegentlichen Anfälle von Besserwisserei siegte. Wir entwickelten einen Leselistenaustausch, der einmal im Monat stattfand, und trafen uns in der heißen Phase der Endredaktion drei- oder viermal in seiner Wohnung in Berlin, die auch sein Büro war, um das sogenannte „Gemetzel“ auszuführen: was muss rein, was kann rein, was sollte rein. Es ging ja nicht nur darum, ein Bild zu geben von den zum Teil sonderbaren Auseinandersetzungen über die Frage, ob die Literatur das Leben ändern könne, sondern auch darum, ob man die vielen Bücher überhaupt brauche und was man – wenn man sie nicht auf den Müll befördern wolle – mit der Literatur anfangen könne. Und im Anschluss daran musste geklärt werden, ob die Produktionsmittel nicht ganz in die sauberen Hände der Autoren gelegt werden sollten. Da wir beide „ausgebildete“ Verlagsbuchhändler waren, beantwortete sich für uns die letzte Frage von selber: Nur wir wussten im Detail, wie ein Verlag funktionierte. Selbstverständlich durften Autoren Einblick nehmen in die Geschäfte, aber die Geschäfte selber… Ich erinnere mich, in einer der vielen vielleicht notwendigen, gleichwohl entsetzlich langweiligen, vor allem aber nicht enden wollenden zähen Diskussionen um Mitbestimmungsmodelle, wie sie damals geführt wurden, in meiner Not gesagt zu haben: Nur weil ihr ein Sparbuch habt, wollt ihr doch auch keine Bank leiten! Tumult, Geschrei, Durcheinander, denn natürlich waren viele der Ansicht, sie seien als geborene Banker auf die Welt gekommen. Ich war froh, mit heiler Haut den Saal verlassen zu können. Als ein paar Jahre später der Wagenbach Verlag nach ähnlichen Diskussionen sich spaltete in Wagenbach und Rotbuch – unvergessen die Rede von Alain Finkielkraut, der den Spruch von Mao: Lasst tausend Blumen blühen, abwandelte in: Lasst tausend Verlage entstehen –, standen auch Fragen danach im Mittelpunkt, wem ein Verlag eigentlich gehöre. Dass er nicht den Autoren gehört, wurde in der Folge lebhaft bewiesen, als nämlich eine nach amerikanischem Vorbild einsetzende Konzernbildung begann, an deren Ende ein großer Teil der unabhängigen literarischen Verlage zu gewaltigen international operierenden Konglomeraten umgeschmolzen wurde: Man schlief als Autor des Limes Verlages ein und erwachte bei Bertelsmann, der dann wenig später Random House und schließlich sogar Penguin hieß oder umgekehrt. Neben Wagenbach hat unser Freund André Schiffrin, Sohn des Pléiade-Gründers und selbst Verleger von Pantheon in New York, dazu das Nötige gesagt: Kartellbildung fördert nicht gerade die literarische Qualität. Dass in dieser Lage, die ja bis heute andauert, den kleinen oder großen unabhängigen Verlagen eine besondere Rolle zufällt, liegt auf der Hand.
Ich habe zu allen runden Geburtstagen von Klaus Wagenbach, der auch meine ersten Erzählungen druckte, Geburtstagsartikel geschrieben. Zum Fünfzigsten erschien im Buchmarkt sogar ein „Sonett auf meinen Freund Klaus Wagenbach“, mit erklärenden Fußnoten, zum Sechzigsten und Siebzigsten Artikel in der FAZ, zum Neunzigsten im Börsenblatt. Und zum Tod im Dezember 2021 ein Nachruf in der Welt. Da ich in meinem Leben viele Nachrufe geschrieben habe, frotzelte Klaus schon als junger Mann gerne, dass ich um Himmels willen nicht vergessen solle, einen Nachruf auf ihn zu schreiben: Er bestehe darauf! Ich habe mich daran gehalten.
Ich zitiere aus einer meiner Geburtstagsreden:
Es muss – wenn mich mein lückenhafter werdendes Gedächtnis nicht trügt – im Juni 1967 gewesen, als wir hier in Berlin, in der Jenaer Straße, beschlossen, ein Jahrbuch für schöne Literatur herauszugeben, das ein Jahr später, im Monat Mai 1968, unter dem Titel TINTENFISCH erscheinen sollte. „Ich glaube, meine Sammlung historischer Gummiknüppel aus Ost und West war die einzige ihrer Art“, schrieb Günter Eich fröhlich in der ersten Ausgabe, in der Uwe Johnson den Leuten empfahl, das Maul zu halten: „Auch diese guten Leute“ – schrieb er – „werden demnächst ihre Proteste gegen den Krieg verlegen bezeichnen als ihre jugendliche Periode, wie die guten Leute vor ihnen jetzt sprechen über Hiroshima und Demokratie und Kuba.“ Reinhard Lettau bat in seinem Beitrag um Verzeihung dafür, dass er als Resultat seiner Berliner Presseanalyse die Berliner Zeitungen öffentlich zerreißen müsse, Martin Walser ersuchte die im Bundestag vertretenen Parteien, Vietnam auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen, die deutschen Schriftsteller unterzeichneten die Resolution gegen Springer, Hartmut Lange schrieb: „Wer ein Sonett verschlingt und nebenan wird geknüppelt, oder wer hinter die Mühen eines Dramenschreibers kommen will, und nebenan wird wieder geknüppelt, und er nimmt keine Notiz davon, der ist nicht wert, dass ihm auch nur eine Zeile Literatur unter die Augen kommt.“
Das war, wie gesagt, vor etwas mehr als zwanzig Jahren, ich war noch nicht vierundzwanzig Jahre alt, hatte langes Haupthaar und eine ausgeprägte Schwäche für ältere Herren, die ihr Objekt fand in dem 37-jährigen Dr. Klaus Wagenbach, Verleger zu Berlin, der es schon damals, als einziger rechtmäßiger Witwer des früh verstorbenen Schriftstellers Dr. Frank Kafka, zu historischer Bedeutung gebracht hatte. Heute ist ein Drittel der Autoren des ersten TINTENFISCH tot – Uwe Johnson, Günter Eich, Günter Bruno Fuchs, Johannes Bobrowski, Herbert Marcuse, Erich Fried, Heinrich Böll, Nicolas Born, Arno Schmidt und Axel Springer –, ein Drittel ist in den Nischen des Betriebs auffällig verstummt, der Rest ist wohlbehalten und ein wenig traurig über die Zeit gekommen, hochdekoriert und auf der Suche nach einem Thema, Berlin hat eine neue reißfeste Tageszeitung, der Krieg in Vietnam ist, ohne den Bundestag länger zu verwirren, lange vorbei, geknüppelt wird seltener, das Sonett hat – freilich ironisch gebrochen, wie heute üblich – Konjunktur und immer weniger Leser, der Verlag Klaus Wagenbach feiert sein 25-jähriges Jubiläum.
Wir haben allen Grund zum Feiern.
Manchmal, beim Blättern in den neuen Büchern des Verlags, stelle ich mir vor, was du wohl gesagt hättest, wenn ich dir damals, 1967, den Vorschlag gemacht hätte, ein Buch über den Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter zu verlegen, eine Studie über den Alltag von Florenz in Macchiavellis Briefen oder eine über Gnadengesuche und ihre Erzähler. Du hättest mich, milde ausgedrückt, für verrückt erklärt; die Untersuchung über Zeitvorstellungen im England der frühen Neuzeit hättest du mir an den Kopf geworfen, mit den exemplarischen Beiträgen zum Verständnis des kulturellen Unterbaus der Epoche zwischen Hochrenaissance und Barock wäre ich auf der Straße gelandet. Vielleicht hätte ich mit einer Geschichte des Geruchs den Fuß noch einmal in die Tür gekriegt, aber mit dem Vorschlag einer 300-seitigen Studie über Leonardo hätten sich unsere Wege für immer getrennt. Und zwar nicht deshalb, weil du eine Studie über Leonardo für verachtenswert gehalten hättest – im Gegenteil –, sondern weil wir so maßlos damit beschäftigt waren, einen zeitgemäßen Begriff des Politischen zu formulieren, eine soziale Anschauung zu entwickeln, dass wir die Geschichte – der Politik, der Kunst, der Gesellschaft – nur in den Maßen sehen konnten, wie sie unseren Zwecken nützlich waren: eindimensional – wenn auch auf andere Weise, als Herbert Marcuse es gemeint hat. Wir waren – vielleicht uneingestanden – froh, dass Bertaux seine Studie über Hölderlin und die französische Revolution veröffentlichte, weil er uns uneingeschränkt gestattete, Hölderlins Gedichte zu lesen. Wir waren froh über jede Rettung dieser Art, weil sie uns, den Ästheten, Gelegenheit ab, die enganliegende Maske des Politischen ein wenig zu lüpfen. Ich erinnere mich gut, wie wir endlich wieder lachen konnten über die Interpretation von Goethes „Wanderers Nachtlied“, die uns die Zeile „Über allen Gipfeln ist Ruh“ als Ausdruck der Klassenlage verkaufen wollte, weil von dem, was unten, an den Wurzeln, vor sich ging, geschwiegen wurde.
Und gar nicht zu erinnern brauche ich dich an die vielen quälenden Diskussionen über das rasche Ende dessen, was heute erst unangefochten in voller Blüte steht: des Kapitalismus. Nach dem dritten Bier konnte der Zeitpunkt seines Verlöschens genau bestimmt werden. War das alles nur ein Witz? Gibt es die Dritte Welt noch? Ist sie immer noch so furchtbar arm? Wenn es ein Witz war, dann hat er uns viel Zeit gekostet. Vielleicht war es ein notwendiger Witz, ein blutiger, notwendiger Witz mit kathartischer Wirkung. Jedenfalls haben wir uns, als es vorbei war, verändert wiedergefunden: als Erzähler unter anderem von vergangenen Zeiten, von radikaler Demokratie, Mitbestimmungsmodellen, Rätesystemen. Weil es nicht allzu viel war, haben wir ein bisschen übertrieben, das Flugblatt wurde gern zum Stein. Aber weil es nicht allzu viel war, waren wir etwas resistenter geworden. Die Rentenreform kann uns nun nicht mehr auf die Palme bringen, die Abtreibungsfrage ist nicht abendfüllend, Ski und Wasserski lassen uns nicht nur deshalb kalt, weil du aufrecht auf die sechzig zugehst, ich auf die fünfzig zukrieche, auch dem Greifen der Quotenregelung schauen wir gelassener zu als vor fünfundzwanzig Jahren. Der Kampf um die dritten Welten wird von anderen gekämpft. Bleibt der Kampf um den festen Ladenpreis und die Kunst.
Auch wir, lieber Klaus, haben ein paar Avantgarden verzucken und verflattern sehen und in ihrem Rücken die Heraufkunft der alten Formen. Heute müssen wir uns nicht mehr Gedanken darüber machen, wie und ob die Kunst an- und eingreift, wie und ob ihre Form die Utopie verspricht oder der Vorschein des Neuen ist – das quält nur noch die Börse. Heute zählen die harten Tatsachen: Kann der Mann erzählen, beherrscht das Kind die Kunst der Fuge? Wir haben in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren den Übergang vom bittersten Ernst zur heitersten Ironie mitangesehen, den Übergang vom Rand zur Mitte, von der Kälte in die Wärme. Und diese Bewegung zur Mitte hin hat uns ganz ohne Frage entlastet, Zeit geschenkt, die sich beschleunigende Zeit etwas geruhsamer anzuschauen. In dem Maße, in dem die Literatur, das Schreiben, an den Rand der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gedrängt wurde, in die unmittelbare Nachbarschaft der früher verpönten Freizeitbeschäftigung, in dem Maße sie Konkurrenz erhielt und sich strecken musste, wollte sie mithalten – in dem Maße ist sie zu einer Sache einer Minderheit geworden, die sich nach viel subtileren Auswahlkriterien richtet als früher. Plötzlich ist der junge Autor nur noch der junge Autor, nicht mehr das Hätschelkind des Marktes. Plötzlich ist aber auch die politische Äußerung eines Autors nur noch eine Marginalie, eine Fußnote, und nicht mehr ein substantieller, moralisch bedeutsamer Einwurf, plötzlich laufen die Forderungen und Appelle ins Leere, in den Schatten. Es hängt auch damit zusammen, dass die Verlage heute anders aussehen als noch vor zwanzig Jahren, dass die Qualitätskriterien sich verändert haben, die Ansprüche andere sind: Ob man sich darüber freut oder diese neue Situation bedauert, ist gleichgültig. Ich selber freue mich natürlich darüber, dass ich bei dir nun Bücher über John Aubrey oder die Kunst der Renaissance lesen kann, über Giorgiones Gewitter oder über Piero und seine Auftraggeber. Von Giotto bis zum elektronisch herstellbaren Bild sind knapp siebenhundert Jahre vergangen, rund dreißig Generationen, eine lächerliche Zahl, und jede hat von dem mächtigen Mosaik des Anfangs ein paar Steine abgetragen, so dass man sich wundert, dass überhaupt noch etwas zu sehen ist. Wir sind dabei, im Moment des Verschwindens die Strecke noch einmal abzulaufen, die ganze Strecke, auch wenn dieses Unterfangen angesichts der Akzeleration am Ende, in der Gegenwart, verrückt anmutet. Andererseits bin ich davon überzeugt, dass heute nur aufgeklärte Verrückte, wie du einer bist, imstande sind, eine solche Arbeit zu leisten.
Ich erinnere mich gut an die Zeit in der Jenaer Straße, wo Leben und Arbeit eine bizarre Einheit ergaben. Die Vorzüge und Nachteile einer hedonistischen Lebensweise wurden aus naheliegenden, um nicht zu sagen durchsichtigen Interessen diskutiert, aberwitzige Diskussionen entbrannten um sozialistisch dürftige und weniger dürftige Papers, und Günter Bruno Fuchs trompetete in die bierernste Runde die klassischen Sprüche der Scheerbart’schen Katerpoesie: Charakter ist nur Eigensinn, es lebe die Zigeunerin. Da lachten die verräkelten Töchter, da überlachte sie der Vater, da machte Katja ein ernstes Gesicht, wenn ein aufgeregter Revolutionär seine chiliastischen Gedanken über das Ende der bevorstehenden Verhältnisse zum Besten gab, weil die Rechnungen noch bezahlt werden mussten; da wurde die Frage erörtert, ob Tanja trotz einer schulischen Entgleisung mit einem SEW-Buben zum Tanzen gehen dürfe – von Katja ein langer Seufzer, von Klaus ein „Muss das sein“, von mir ein Kompromissvorschlag, mit dem man gewiss keine Revolution gewinnen konnte: Bis 11.00 und keine Minute länger. In diesem Ambiente entstanden – mit Verspätung, antizyklisch – die Bücher, und mit den wechselnden Wohnungen traten andere Farben zum Schwarz der Quarthefte hinzu, erst das Rot, dann das Blau, inzwischen ist man, nach fünfundzwanzig Jahren, mit der Kleinen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek beim Weiß angekommen – der Farbe, mit der alles anfängt und wohl auch aufhört.
Ein Verleger zeugt. Wenn es keine Kinder sind, dann sind es – nach Art der Junggesellenmaschine – Bücher, die seinen Namen tragen. Je mehr Bücher seinen Namen tragen – so das narzisstische Gesetz, unter dem er antritt –, desto besser für die Unsterblichkeit. „Die Buchmacherei“ – so Kant 1798 – „ist kein unbedeutender Erwerbszweig in einem der Kultur nach schon weit fortgeschrittenen gemeinen Wesen: wo die Leserei zum beinahe unentbehrlichen und allgemeinen Bedürfnis geworden ist… Ein erfahrener Kenner der Buchmacherei wird als Verleger nicht erst darauf warten, dass ihm von schreibseligen, allezeit fertigen Schriftstellern ihre eigene Ware zum Verkauf angeboten wird; er sinnt sich als Direktor einer Fabrik die Materie sowohl als die Façon aus, welche mutmaßlich – es sei durch ihre Neuigkeit oder auch Skurrilität des Witzes, damit das lesende Publikum etwas zum Angreifen und zum Belachen bekomme, – welche, sage ich, die größte Nachfrage oder allenfalls auch nur die schnellste Abnahme haben wird, wo dann gar nicht danach gefragt wird: wer oder wie viel an einer dem Persiflieren geweihten, sonst vielleicht dazu wohl nicht geeigneten Schrift gearbeitet haben mögen, der Tadel einer solchen Schrift aber alsdann doch nicht auf seine (des Verlegers) Rechnung fällt, sondern den gedungenen Buchmacher treffen muss.“
Klaus Wagenbach starb am 17. Dezember 2021 in Berlin, wo er am 11. Juli 1930 geboren wurde.
Michael Krüger, aus Michael Krüger: Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen, Suhrkamp Verlag, 2023
Alexander Cammann: Wenn ein linkes Herz irgendwann südlich schlägt
Die Zeit, 8.7.2020
Helmut Böttiger: Bunter Tintenfisch
Süddeutsche Zeitung, 9.7.2020
Michael Krüger: Kafkas Witwe
Börsenblatt, 10.7.2020
Cornelia Geißler: Was Leute lesen sollen
Frankfurter Rundschau, 10.7.2020
Peter von Becker: Klaus Wagenbach lässt Poesie und Politik zusammenklingen
Der Tagesspiegel, 11.7.2020
Hans Magnus Enzensberger: Ein Mann, der nie zu Boden geht
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7.2020
Christoph Buchwald: Klaus Wagenbach (90)
Buchmarkt.de, 11.7.2020
Thomas Blum: Salto vorwärts
neues deutschland, 10.7.2020
Knut Cordsen: Ein Verleger-Urgestein
BR24, 11.7.2020
Klaus Wagenbach – Das Herz sitzt links (Portrait).
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