Konrad Bayer: der stein der weisen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Konrad Bayer: der stein der weisen

Bayer-der stein der weisen

NACHWORT

alles kann dies und jenes heißen.
alles mag auch etwas anderes heißen.
der apfel zwischen den zähnen ist geschmack.
der stein auf meinem schädel ist ursache einer beule.
die dame vor deinen augen ist einstweilen noch ein
aaaaaanblick.

 

 

 

Beitrag zu diesem Buch:

Ulrich Janetzki: Versuch, das Unsagbare zu zeigen
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 68, 1978

 

Erinnerung an Konrad Bayer

Bekannt geworden ist Konrad Bayer nur wenigen. Vermutlich hätte er den üblichen Erfolg auch nicht ertragen: Lektoren zu haben, Verleger, Kritiker, Bücher zu signieren, im Fernsehen aufzutreten, Einkommensteuerformulare auszufüllen, Bedeutendes schaffen zu müssen.
Was er geschrieben hat, ist nur zu einem geringen Teil gedruckt worden, und das meiste davon mehr oder minder unter Ausschluß der Öffentlichkeit, in esoterischen Zeitschriften, Reihen und Anthologien, von denen sich der normale Bücherleser nichts träumen läßt. Ein einziges dünnes Buch gibt es von ihm: die pseudo-alchimistische Dichtung der stein der weisen, verlegt bei Wolfgang Fietkau in Berlin. Seine montierte Biographie vitus behring oder die theorie der Schiffahrt soll noch im nächsten Frühjahr im Walter-Verlag erscheinen. Und Ledig-Rowohlt, unter den Verlegern einer, der zwar einen großen Produktionsapparat bedient, dem dabei aber doch die bürokratisierten Formen des sogenannten literarischen Lebens ein Greuel geblieben sind, der sich die Sympathie bewahrt hat auch für abartigere Lebensäußerungen, wollte einen Kurzroman von Bayer veröffentlichen, der sechste sinn. Ausschnitte daraus stehen in den akzenten (1/1964) und in der ZEIT (46/1963); Bayer hatte sie im vorigen November in Saulgau gelesen, vor der Gruppe 47, die erstaunt war und vielleicht zu überschwenglich lobte („eine neue Kosmologie!“), als daß die Reaktion ausbleiben konnte („Kabarett!“): In diesem Jahr, in Sigtuna, soll harte Kritik an Bayer verübt worden sein.
Er gehörte zur wiener dichtergruppe, die sich 1952 um den Poeten Hans Carl Artmann zusammenfand – mit dem Komponisten Gerhard Rühm (dem Erfinder der Eintonmusik), mit Oswald Wiener, mit Friedrich Achleitner. Artmann, schreibt Bayer, „war mir anschauung, beweis, daß die existenz des dichters möglich ist“. Die Existenz des Dichters – es ging hier, in den Kellern und Bars Wiens, weniger um „das Werk“ und um dessen mögliche Wirkung auf irgendein Publikum; es ging um die Verwirklichung einer dichterischen Existenz, in einer unerwarteten Umkehrung des Wortes „le style est l’homme même“: das Leben ist der Stil.
Noch vor kurzem beschrieb Bayer diese Jahre der wiener gruppe, knapp im Times Literary Supplement, ausführlicher in einer neuen Wiener Zeitschrift mit dem Namen Werkstatt aspekte, beide Male aus gehörigem Abstand. Es wurden damals Proklamationen verfaßt, „Tatsachen“ präsentiert, „poetische acte“ vollzogen (als erster eine Prozession durch die Straßen Wiens: „Die damen und herren der procession mögen in absolut schwarzer Kleidung und wol auch mit weißgeschminktem gesicht erscheinen. Während der procession werden die weißen blumen einer subtilen morbidität vor sich getragen wie auch herbstlich und ultimat brennende lampions und candelabres. Die melancholie eines flötenspielers geleitet den mit feierlichkeit und tiefer stille schreitenden zug… An den markantesten stellen der procession – werden passagen aus den oeuvres von Ch. Baudelaire, Edgar A. Poe, Gérard du Nerval, Georg Trakl und Ramon Gómez de la Serna im original deklamiert“), Surrealismus, Manierismus, Lettrismus, „konkrete poesie“ wurden erkundet, es wurde Theater und Kabarett gemacht, die Liebe zur Geometrie und mathematischen Reihe entdeckt, Bayer arbeitete an Experimentalfilmen und führte die Montagetechnik in die Gruppe ein, welche nun aus Leibeskräften Texte montierte. Höhepunkt sollte die Montage über die Montage werden („ein montierter text aus einem fachbuch über montage von maschinen. Dieser text soll in der maschinenhalle einer großen fabrik verlesen werden. Wir werden Overalls tragen“). Gestört wurde die Eintracht der Gruppe, die die Kunst als „Volkssport“ betrieb, hauptsächlich durch etwaigen äußeren Erfolg – wie er, als erstem, H.C. Artmann zuteil wurde. Als Bayer sich eines Tages porträtieren ließ, wurde er „wegen unsittlichen Lebenswandels“ ausgeschlossen.
Wer will, mag diese Verrücktheiten der Gruppe als kindische oder genialische Albernheiten nehmen. Aber denkbar ist es auch, sie als die Äußerungen eines Produktionsdrangs zu verstehen, der sich von den Vergangenheiten erdrückt fühlt und keine vernünftigen Ziele mehr für sich weiß; eines Willens, der das Arrangement mit den als unzulänglich erkannten Lebensformen ablehnt.
Der Humor Konrad Bayers hatte nichts Gelöstes, nichts Abgeklärtes, er selber nannte ihn tödlich. Er entsprang der Radikalität seines Fragens und seiner Betrachtungsweise. Besonders deutlich zeigt sich das in seinen letzten Arbeiten, den Abschnitten aus dem „sechsten sinn“, in denen sich seine Eigenart wahrscheinlich am sichtbarsten ausgeprägt hat. Hier herrscht der Blick, der – auch im buchstäblichen Sinn – unter die Haut gerichtet ist, der das Geschehende aus dichtester Nähe oder weitester Ferne sieht, von innen, unwahrscheinlich vergrößert, unwahrscheinlich verkleinert, zusammen mit seiner Geschichte, zusammen mit seinen physikalischen oder anatomischen Ursachen: eben ein sechster Sinn. Ein Biß in eine alte Birne erweist sich ihm als ein Akt mit einer nicht zu bewältigenden Vorgeschichte. Im Wirtshaus klingelt eine Tischglocke – und Bayer beschreibt den verwickelten Hörvorgang. Andere Texte wundern sich darüber, daß es überhaupt Menschen gibt, daß sie alle Namen tragen, alle ein Bewußtsein haben; daß jedes Bewußtsein „ich“ heißt.
Diese Methode durchstößt die Oberfläche der Dinge (und der Sprache); das Selbstverständliche erscheint als eine trügerische Kruste; die alltägliche Sicherheit als eine Ermüdungs- und Abstumpfungserscheinung. Denn unter der Oberfläche gibt es die Welt nur als Labyrinth.
„es gibt nichts gemeinsames, nur die sprache schafft gemeinsamkeiten“, heißt es im stein der weisen. Aber diese Gemeinsamkeit geht auf Kosten der Wahrheit; indem das Labyrinth in Worte gefaßt wird, in eine Sprache, die nicht Worte für individuelle Erfahrungen bereitstellt, sondern diese Erfahrungen selber bestimmt, wird es auch schon verfälscht. Daher wohl das Fragmentarische dieser Prosa, ihre innere Gefährdung, ihre Nähe zum Verstummen wie zum Drauflossprechen aufs Geratewohl.
In den letzten Monaten hatte sich Konrad Bayer auf ein ödes Schloß zurückgezogen, in ein Leben zwischen Petroleumlampen und Fledermäusen. In der vergangenen Woche nahm er sich das Leben, zweiunddreißig Jahre alt: jemand, der mit seinem Leben und seinem Schreiben nicht fertig wurde.
Es wäre angenehm, an dieser Stelle sagen zu können, was man bei solchen Anlässen zu sagen pflegt: aber sein Werk wird bestehen bleiben, die Zeit wird ihm Bedeutung verleihen. Ein solches blindes Vertrauen will sich nicht einstellen. Die Literatur ist keine Hollywooder Ruhmeshalle, in der jeder Mitspieler sein Körpergewicht unvergänglich in Beton drücken darf. Die Lebenschancen eines so schmalen, so verstreuten, so provisorischen, so etüdenhaften Werkes sind gering. Die es kennen, werden es nicht so bald vergessen. Aber das hilft ihm noch wenig. Darum gerade wurde hier nun noch einmal daran erinnert.

Dieter E. Zimmer, Die Zeit, 23.10.1964

Über Konrad Bayers Zweifel an der Kommunikationsfähigkeit

der Sprache in einem engeren privaten Sinn

und inwiefern er verstanden oder mißverstanden wurde

Wie lange muß ein österreichischer Dichter tot sein, damit seine literarische Auferstehung auch in Wien gefeiert wird?
Im Fall Konrad Bayer, der hier in seiner Heimatstadt zu seinen Lebzeiten mißachtet und totgeschwiegen wurde, sind es genau 15 Jahre. Nach 15 Jahren größter Bewunderung und Wertschätzung bundesdeutscher Verlage und Kritiker ist es endlich soweit. Seine Person ist inzwischen zu einer mythologischen geworden, über die sich nur wenige seiner engsten Freunde wie Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner ungestraft äußern dürfen.
Knurrend bewachen die meisten Freunde und Jünger von damals die Erinnerung an den Freund und Meister, in erster Linie voreinander. Soll er denn nicht genannt werden? Nein, auch nicht gepriesen. Die Erinnerung an ihn ist ihr Besitz. Daß jeder Erklärungsversuch bei einem so privaten nach innen gerichteten Werk unzureichend ist, ist auch mir klar, ob er auch ein Sakrileg ist, weiß ich nicht.

1.
In welchem Klima sind die Arbeiten von Konrad Bayer und der Wiener Gruppe entstanden?
In den 50er Jahren, in der Zeit der schwarz-roten Koalition in Österreich und des kalten Krieges an allen Fronten, war die sogenannte Verwichtelung auch im Kulturbetrieb perfekt und allgemein.
Eine gewiß antifaschistische und verschwommen humanistisch ausgerichtete offizielle, zumeist aus PEN-Club-Mitgliedern bestehende Staatsliteratur gab den Ton an, hatte die Macht über Medien, Verlage und Preisverleihungen und ebenso die Macht, alles von einer dementsprechend lethargischen und versumperten Öffentlichkeit fernzuhalten, was sie selbst nicht verstand oder was ihrem dem 19. Jahrhundert abgelauschten Literaturverständnis widersprach. Blind oder allergisch gegenüber Sprachproblemen und ihrer Erörterung drängte diese selbstgerechte und bornierte Literaturmafia problembewußte, in ihrem Leben und Schreiben Experimente riskierende Autoren wie eben die der Wiener Gruppe in ein esoterisches Abseits (auch so ein Mißverständnis, über das noch zu reden sein wird) und in die zunächst gar nicht freiwillig gewählte Isolation. Verständigung mit diesen Offiziellen, ein Diskurs auf so unterschiedlichen Ebenen, war nicht möglich, im Punkt 62 im starken toback, einer Gemeinschaftsarbeit von Konrad Bayer und Ossi Wiener, heißt es:

warum haben konrad bayer und oswald wiener die führenden politiker der welt noch nicht aufgeklärt?
beweis: ein hund kann über seine hundheit nicht belehrt werden.

Immer enger schlossen sich die Ausgeschlossenen zusammen und begannen nun ihrerseits sich anbiedernde Adepten zu stampern, man kann auch sagen zu verscheuchen, oder hartnäckigeren knifflige erkenntnistheoretische Fragen zu stellen. Wer schon etwas Vorkenntnisse mitbrachte, rasch lernte und den Jargon der Gruppe bald gut beherrschte, durfte immerhin bei den öffentlichen Treffen in Lokalen dabeisein. Diejenigen, die dabei waren, ohne nur Adabeis zu sein, machten einen radikalen Prozeß der Verunsicherung durch, sie lernten zum Beispiel redend auf jedes ihrer Worte zu achten und sich Sprache auch nicht mehr arg- und kritiklos wie Speisen reinzustopfen.
Jedenfalls realisierte die Gruppe mit ihrem gemeinsamen Arbeiten, Feiern, Ausgehen, Diskutieren der Grundlagen, der Anwendung von Theorie auf ihre alltägliche Lebenspraxis, ein Programm, von dem linke Autoren meist nur reden oder träumen.

2.
Es ist das Verdienst der Wiener Gruppe, und zwar vor allem Bayers, Wieners und Rühms, Probleme der Philosophie, vor allem der Erkenntnistheorie, exemplifiziert und poetisiert zu haben. Artmann kam eindeutig vom Surrealismus her, Achleitner vom Konstruktivismus, was zunächst auch für Rühm zutrifft, dessen Werk aber das breiteste Spektrum der formalen Möglichkeiten umfaßt. Bayer war zeitweise Artmann sehr nahe, wenn nicht sein Schüler, wo es um surreale, phantastische, romantische und hermetische Schreibweisen ging, andererseits war er ebenso wie Wiener an wissenschaftlichen und philosophischen Problemen und Welterklärungsmodellen bzw. ihrer Verwerfung interessiert. Wiener wird in Bayers Aufsatz über „hans carl artmann und die wiener dichtergruppe“ der Theoretiker der Gruppe genannt, und dann wörtlich: „seine theorien bilden das rückgrat vieler versuche“, und ich möchte hinzufügen, daß es Wieners Verdienst ist, die uralte versteinte philosophische Problematik des Universalienstreits und der Abbildtheorie in den permanenten Diskurs der Gruppe eingeführt zu haben, unakademisch, witzig, in umgangssprachlichen Formulierungen. Und worin besteht das Verdienst Bayers? Als ob sich das nun wieder sagen ließe. Nur im engen Bezug zum erwähnten Thema kann man zum Beispiel sagen: Bayer, der Poet, hat gezaubert und aus dem uralten Fels noch mal Wasser sprudeln lassen, oder anders gesagt, er hat das Poetische in der Problematik gesehen, ähnlich wie Wittgenstein, den ich auch für einen großen Dichter halte und dessen zweiphasiges Werk auf die zwei Phasen der Entwicklung der Wiener Gruppe, die man sich natürlich nicht scharf abgegrenzt denken darf, tiefgehenden Einfluß hatte.
Mit den zwei Phasen meine ich die von Wittgensteins Frühwerk beeindruckte neopositivistische (hinsichtlich Sparsamkeit und der Ökonomie der Mittel mit dem höchsten Entwicklungsstand der positivistisch fundierten Wissenschaft wie der Warenproduktion korrespondierend), ich meine die der Konkreten Poesie nahestehenden Periode, der sich viele Gemeinschaftsarbeiten verdanken, während in einer zweiten, sagen wir es abgekürzt, einer antipositivistischen Periode die umfangreichen Einzelleistungen wie eben der sechste sinn oder die VERBESSERUNG VON MITTELEUROPA entstanden. Wie hört sich das an, wenn Bayer, der niemals didaktisch sein wollte und es dennoch war (wie er auch Konsequenz verlacht hätte und in seinem Arbeiten, Leben und Sterben doch sehr konsequent war), wenn er in wenigen einprägsamen und amüsanten Sätzen die Position des Solipsismus beschreibt?

seit ich weiss, dass alles meine erfindung ist, vermeide ich es, mit meinen freunden zu sprechen. es wäre albern. allerdings hüte ich mich, ihnen zu sagen, dass ich sie erfunden habe, weil sie schrecklich eingebildet sind und glauben, dass sie mich erfunden haben. es würde ihre eitelkeit verletzen. ich staune über die eitelkeit und die überheblichkeit meiner erfindungen. gestern wollte jemand unter dem hinweis, dass er mir geld geliehen habe, eine grössere summe kassieren. ich versuchte, ihm die sache vorsichtig zu erklären, aber er verstand gar nichts, und ich erfand, dass er sich auf mich stürzen wollte, weil ich in meinen erfindungen streng logisch vorgehe. ich schlug ihm die türe vor der nase zu und erfand mir einen nachmittag mit sonne. es war sehr schön, aber langweilig. deshalb liess ich es 23 uhr werden, las ein buch und legte mich zu bett.
ich habe den heutigen tag erfunden und bin sehr froh darüber. auch mit der erfindung der musik bin ich sehr zufrieden. (Bayer, seit ich weiss)

Auch diesem Stück sind wahrscheinlich Gespräche mit Wiener vorangegangen. Inwieweit Bayer Einfluß auf Wiener hatte, ist in einem ernstzunehmenden Umfang unbeantwortet. Es wäre nur denkbar, daß Wiener durch Bayers reiche Assoziationsfähigkeit und die Vielfalt seiner poetischen Einfälle bei der Herstellung von Textmodellen, zu denen Wieners Theorien wie gesagt meist das Rückgrat gebildet haben, das Fleisch aber dann von Bayer hinzugefügt wurde, manchmal in eine Konkurrenzsituation geraten sein mag, der sich vielleicht manche seiner poetischen Leistungen auch innerhalb der VERBESSERUNG verdanken, einer Konkurrenzsituation, der er auf philosophischem Terrain kaum je zu begegnen gewohnt war.

3.
Welche Zweifel und Traurigkeiten hat die Beschäftigung mit den alten unlösbaren Problemen der Philosophie seinen früheren, den sozialen, emotionalen oder wie immer man sagen will, noch hinzugefügt?
Er mußte erkennen, daß Kommunikation nur auf einer sehr groben quasi-mechanistischen Ebene funktioniert und daß er trotz meisterhafter Sprachbeherrschung weder einen Vorgang abbilden kann noch seine Individualität in dieser alten, aus vielen Altersschichten bestehenden, mit einer vollgestopften Rumpelkammer vergleichbaren, nun mal so ererbten Sprache, seine Individualität nicht „zur Sprache“ wird bringen können, sondern mit ihr sozusagen bei sich wird bleiben müssen.
Daß Sprache gut genug ist, um im Stammkaffee zwei Eier und ein Butterbrot zu bestellen und auch zu erhalten, und daß man ihm nicht statt dessen eine Portion Schraubenschlüssel bringen wird, womit er auch aus dem lebenserhaltenden Verband der Kommunizierenden ausgeschlossen gewesen wäre. Hätte er Schraubenschlüssel bekommen, wäre die grobe Mechanik des Verstehens allerdings aufgebrochen gewesen und eine den einzelnen auf eine neue Weise vereinsamende angstmachende Freiheit hätte die Macht angetreten.
Das Aufbrechen alter Sprachmuster, die Befreiung der Begriffe aus den Gefängnissen der Semantik und Grammatik, war vielleicht ein Akt der Selbstbefreiung, das Erlebnis einer Spracheuphorie und zugleich eine Kampfansage an die mächtigen bewahrenden Kräfte, die sich in und mit einer verkrusteten Sprache durch die Stadt bewegten wie in einem Panzer. Ulrich Janetzki schreibt in seinem Aufsatz „Versuch das Unsagbare zu zeigen“:

Die Unangemessenheit von Sprache in bezug auf Erkenntnisse rein individueller Art läßt Bayer nach der möglichen, ihm immanenten Bewußtseinssphäre fragen. Nicht nach dem Bewußtsein von Welt, dies ist sprachlich vermittelt, sondern nach dem Bewußtsein seiner selbst fragt er, nach den Möglichkeiten des Selbst-Bewußtseins.

4.
Welchen Anwürfen und Mißverständnissen waren und sind wohl immer noch die Texte Bayers und anderer Vertreter der Wiener Gruppe ausgesetzt? Besonders hartnäckig dem Vorwurf der Hermetik und Esoterik, der aus drei verschiedenen Ecken kommt:
(1) von den Mächtigen des Kulturbetriebs, für die Sprache und ihr Funktionieren nicht hinterfragenswert ist, weil sie ein Instrument ihrer Machtausübung darstellt.
(2) von der Paranoia der Abendlandschützer, die vor Angst (auch um ihre Privilegien, die sie meist, ohne es zu bemerken, schon verloren haben) nicht denken können, sobald ihnen was Neues, zunächst Unverständliches begegnet, ohne zu sehen, daß hier poetische Traditionen auch noch in ihrer Verfremdung, Relativierung oder Persiflage ihren höchsten Grad von Differenzierung erfahren haben.
P.O. Chotjewitz schreibt in seiner Besprechung für Literatur und Kritik über den sechsten sinn, „Bayer hat sein eigenes literarisches Tun auf das Wandern in den Endmoränen einer großen kulturellen Tradition, gegen die zu revoltieren uns als letzte mögliche Tätigkeit geblieben ist, reduziert. Seine Texte sind allesamt Ausdruck der großen Nutzlosigkeit der Literatur und der Literaten und sie verraten Bayers saturnische Freude daran“.
(3) können die Vulgärmarxisten nicht sehen, können ebenfalls aus kleinbürgerlicher Ängstlichkeit vor allem Neuen, das ihre eigene Position in Frage zu stellen imstande wäre, nicht sehen, daß hier keineswegs verstiegene oder esoterische Inhalte, was immer das sein mag, abgehandelt werden, sondern etwa im sechsten sinn Parties angedeutet werden, Liebesbeziehungen, erotische Situationen, Gespräche eines Freundeskreises in Wohnungen und immer wieder in Lokalen der Wiener Innenstadt, sie sind ferner unfähig einzusehen, daß das Festhalten an altbackenen, unreflektiert und ungebrochen verwendeten Erzählweisen, wie sie einem in realistischen Bestsellern begegnen, egal wieviel Bilderbuchbauern oder -arbeiter in ihnen vorkommen, literarisch und politisch reaktionär ist, das Aufbrechen veralteter, bürgerlichen Traditionen verpflichteter Strukturen hingegen vergleichsweise revolutionär oder doch aufrührerisch ist. Ich zitiere nochmals aus der Rezension von Peter O. Chotjewitz:

Unsere Literatur […] ist nur ein Reflex eines ganz allgemein fehlenden Gegenwartsbewußtseins, eines Bewußtseins, das sich immer noch hinter irgendwelchen wärmenden Metaphern von vergangenen Menschheitsepochen versteckt und gefühlsmäßig wie auch intellektuell dem technisch-industriellen Stand einer Kunst und Kultur am Ende des zweiten Jahrtausends nicht zeitentsprechend ist.

5.
läßt sich zeigen, daß Bayer nicht nur missverstanden wurde, sondern sehr wohl auch eine starke Faszination ausübte und ausübt, auf schon Sensibilisierte, auf Lernfähige und daher auch zur Verunsicherung Befähigte und immer wieder – wen wundert’s – auf Literaten, auf Junge ebenso wie auf die Stars. Ich denke an Peter Handke, der für seine Publikumsbeschimpfung deutliche Anleihen bei Bayers „kasperl am elektrischen stuhl“ sowie dem „idiot“ gemacht hat, Gunter Falks frühe Franz-Geschichten erinnern stark an „gertruds ohr“, Eisendles Wissenschaftspersiflagen lassen an Bayer und Wiener denken. Walter Benjamins Behauptung, „Ein Autor, der Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden“, drängt sich hier auf. Bayer hat viele belehrt, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, manche haben von ihm Techniken gelernt, anderen war er ein Beispiel für eine abenteuerliche, konventionsverachtende, risikoreiche Weise zu leben und zu schreiben.
Einige von Bayers Verfahrenstechniken, mit denen er konventionelle Erzähltechniken desavouiert, sind: das Wörtlichnehmen von Phrasen, Reihung oder Steigerung von Klischees, Verwissenschaftlichung banaler Vorgänge oder die Vortäuschung einer wissenschaftlichen Sehweise, wobei die wissenschaftliche Terminologie ironisiert wird.
So kann man aus dem Montageroman der sechste sinn verschiedene Interpretationsebenen herausfalten oder -filtern und, wenn man will, entsprechend Verschiedenes von ihm lernen. Man kann dieses Buch als eines ansehen, in dem in verschlüsselter, manchmal offener Form („es ist ja nichts versteckt“, „es ist ja nichts verborgen“, sagt Wittgenstein über den Wahrnehmungsfluß in den Philosophischen Untersuchungen) alles über die Perspektive gesagt ist. Man kann es aber auch als die Aufzeichnung einer sprachlichen Abenteuerreise sehen, die Perspektiven des Bewußtseins aufreißt, die die vertraute schützende Welt der fünf Sinne übersteigt, und wenn ich schon Reise gesagt habe, sage ich auch noch Trip und behaupte, die Texte Bayers haben die Verführungskraft einer Droge. Daß jemand zu einer mythologischen Person gemacht wird, wirft ein Licht auf die Leute, die sie dazu machen und sich durch die zeitweilige Teilhabe an einem Geheimnis geadelt fühlen; daß jemand für die Rolle ausersehen wird und geeignet ist, liegt an der Authentizität und Ausstrahlung der Person.
Die Radikalität von Bayers Selbstpreisgabe und sein Interpretation und Diskussion abwehrendes und erschwerendes Nach-innen-Sprechen mögen noch dazu beigetragen haben, daß sich im Laufe der Jahre etwas um ihn gebildet hat, was er nie intendierte, eine Gemeinde.

Elfriede Gerstl, aus Elfriede Gerstl: Behüte behütet, Literaturverlag Droschl, 2013

Sprachkonzepte sind Weltapparate

– Zu Juana Inés de la Cruz, H.C. Artmann, Konrad Bayer. –

Hier liegt das ganze Geheimnis:
verborgene Beziehungen herstellen
Stéphane Mallarmé

Höhere Wesen befahlen…
Sigmar Polke

Im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts erscheint in Sevilla ein in der Neuen Welt, in der spanischen Kolonie Mexiko, geschriebenes Langgedicht unter dem eher minimalistisch als manieristisch anmutenden Titel Primero Sueño (Erster Traum). Autorin ist Sor Juana Inés de la Cruz (1648/49–1695), eine hochgebildete, darüber hinaus: auf eigene Faust gebildete Klerikerin, die sich als Kind schon durch die Bibliothek ihres Großvaters gelesen hat. Über ihre theologisch-spätscholastische Denkerziehung hinaus, hat de la Cruz die aktuellen naturwissenschaftlichen Entwicklungen verfolgt; in ihre Zeit fällt die Entdeckung von Mikro- und Makrokosmos. Es werden in dieser Phase zahlreiche neue Technologien auf ihre Tauglichkeit überprüft und eingesetzt; zum ersten Mal wird mit Fernrohr und Mikroskop gearbeitet.
Ausdrücklich als Gegenstück und Weiterführung zu Góngoras epochemachenden Soledades (Einsamkeiten) gedacht, die ja mit dem gelehrten Stil, dem estilo culto, einen Ismus für die spanische Literatur begründeten, ist auch Primero Sueño ein sofort berühmtes, dann in Vergessenheit geratenes, irgendwann wiederentdecktes – ein berühmtes Gedicht.
Das Gedicht ist ein feuriges Plädoyer, zunächst einmal, für die Benutzung des Verstandes; das Gedicht ist akustisches und optisches Präzisionsinstrument zum Anschaulich- und Durchschaubarmachen der sichtbaren wie – verkürzt gesprochen – unsichtbaren Welt. Ganz im Stil ihrer den Verfall alles Irdischen nie aus den Augen verlierenden Zeit spricht die Autorin von der „protzigen maschine der welt“ (la aparatosa maquina del mundo). Das Gedicht leistet sich den sensationellen Luxus der Innenschau, sensationell deshalb, da sich hier eine Frau, eine Ordensfrau, einen nicht-mystischen, nicht-visionären, einen höchst rationalen, daher ganz und gar nicht ungefährlichen Angang erlaubt: die Autorin schildert, aus Sicherheitsgründen selbstverständlich theologisch-rhetorisch abgepolstert (trotzdem bekam die gelehrte Nonne Schreibverbot), die physiologische Maschine Mensch, deren Organtätigkeiten beschrieben werden; so ist das Herz mit einem „Blasebalg verbunden – Lunge oder Magnet des Windes heißt er…“ Der Mensch und seine lunar-nächtliche Seite ist das große Thema dieses Gedichts: beim Einschlafen, im Schlaf (dem titelgebenden Traum eben), zuletzt beim Erwachen. Die heruntergeschaltete, in Zeitlupe, in der slow-motion des Traums tätige, diese einigermaßen erforschbare Wundermaschine Mensch, die den Traum macht, das ist ihr Thema; eine Vorahnung von Gehirnphysiologie ist spürbar. Das Gedicht ist gebaut, ist ruhige Architektur, aus langen, geduldigen Kamerafahrten bestehende Nachtwache. Das Gedicht ist Sprachwache, ist gesetztes Regelmaß (= horazische norma); aus nachtwachen Sprachen gemacht, hin- und herschießend zwischen Formelhaftigkeit des beredten Emblems und frisch aufgewühltem Bild. Weil schlaflos – und eben nicht sprachlos! – hat das Gedicht nichts mit Formalismus zu tun: Formalismus bedeutet Eindämmern von Sprache, bedeutet Verdämmern von Schönheit…
Das gemachte Gedicht ist immer das Unerwartete; ganz im Sinn von Städteplaner Baudelaires Überlegung:

Das Unregelmäßige, d.h. das Unerwartete, die Überraschung, das Erstaunen stellen wesentlich das Element des Schönen dar.

Dies sind Kriterien für Moderne, die, bei allen avantgardistischen Abrißphantasien, letztlich Ingredienzen jeder Ingroup-Programmatik waren und sind.

Während ich den Primero Sueño vor kurzem erst, in einer zweisprachigen Ausgabe, gelesen habe, gehören die Werke Artmanns und Bayers zu meinen ersten und prägenden Lektüreerlebnissen. Auf Artmann bin ich als Gedichte schreibender Gymnasiast in Düsseldorf gestoßen; seine Bücher sind – neben der Tatsache, daß mein Großvater, auf die Frage des Enkels, welche Stadt er gerne gesehen hätte, sie aber nicht habe bereisen können: Wien, neben einer zweiten, nannte – ganz klar Auslöser meines Vorhabens gewesen, dort möglichst bald einige Zeit zu verbringen. Mit Zweiundzwanzig habe ich mir diesen Wunsch erfüllen können; wie bekannt ist, nicht zu meinem Nachteil. In Wien, in der nächsten Stromnähe, las ich, von Artmann-Lektüre angeregt, sofort Bayer, auch Priessnitz und Mayröcker, um drei weitere Highlights zu nennen. Hierbei erinnere ich mich, daß noch 1988 eine Großprosa Friederike Mayröckers (mein Herz mein Zimmer mein Name) von der Kritik in das Ausstrahlungsgebiet des Góngorismus gerückt wurde. Ich aber fraß zu meiner Wiener Zeit nicht nur die Wiener, ich schaufelte mich nicht nur durch den voluminösen Reisberg der österreichischen Nachkriegs-Avantgarde hindurch, sagen wir: ich ernährte mich von Eßpapier.

„ABC dienet zu einem Gesprächspiele“, heißt es 1644 bei G.Ph. Harsdörffer. Nicht allein dem Nürnberger war das Gesprächspiel Literatur auf dem Hintergrund des menschenfressenden Dreißigjährigen Krieges sittlich-nationales Projekt; Dichtung war ihnen bitterer Ernst, bei dem es fremdsprachige Elemente zu exstirpieren galt – deutsch pur. Als typisch für deutsche Dichtung und Sprachwissenschaft des 17. Jahrhunderts müssen Tränenreichtum à la Gryphius und Schottels „Sprachkrieg“-Militanz (1673) gelten. Dazwischen, ein großer Solitär: der seriell-evokative Quirinus Kuhlmann, einer der Schutzheiligen des Minimalismus und Blutsbruder Artauds.

Das Werk der Juana Inés de la Cruz – in Wien?
Artmann hat sie früh wahrgenommen, „das ist schon so lange her…“; wie Kircher: „ein verdienter Mann! Das Chinabuch!“, den er (die er?) in der österreichischen Nationalbibliothek in die Hände bekam (Telefonat vom 14.8.97). 1955 arbeitet Artmann mit einem Kircher-Zitat, aus dem er einen Theatertext macht.

Der spartenübergreifend inspirierte Primero Sueño, dessen nachgereimter – von mitunter kraß interpretierenden Übergriffen nicht freier – Übersetzung ich nicht unbedingt über den Weg traue, bietet einen ungeheuren Reichtum an Perspektivaufbauten, Horizontal-/Vertikalwechseln, Querverweisen, an kurzem Anreißen von Bildungsstandards. Die reichen von den Ovidschen Metamorphosen, antiker Viersäftelehre, spätscholastisch-labyrinthischen Denkansätzen bis zu den damals aktuellen, meist in Amsterdam gedruckten Schriften keineswegs nur des lateinschreibenden, in Rom lehrenden deutschstämmigen Universalgelehrten Athanasius Kircher, der ein Zeitgenosse der mittelamerikanischen Enzyklopädistin war. Kircher, der hyperpolyglotte, aber gescheiterte Hieroglyphendechiffrierer, gilt als entscheidender Ideenlieferant für den Primero Sueño: von ihm bezieht, erstens, die Dichterin das ideale Denk- beziehungsweise Erkenntnisbild der Pyramide, die im Gegensatz zum „Wahn-Obelisk“ und zum babylonischen Turm, dem Standardsymbol für Sprach-, also Denkverwirrung, steht. Zweitens. Die Laterna magica, Vorläuferin des Epidiaskops, von P. Kircher SJ erstmals beschrieben und von der Jesuitenmission eifrig eingesetzt: Was für ein herrlich’ Instrument! – Paradiesesfreuden! Was für ein grewlicher spanischer Stiefel! – Höllen- und Fegefeuerqual! Sie wird von Sor Juana nicht als biederer Illustrationsapparat verwandt, sondern sofort als Symbol für Intellektualität, für Projektion-Imagination an sich erkannt und findet im Primero Sueño den Weg in die Dichtung. Weiterhin wird die Lektüre des Sprachwissenschaftlers und Akustikspezialisten Kircher die Schriftstellerin zu Beschäftigung mit Indiosprachen und afrikanischen Idiomen angeregt haben: den unterdrückten Sprachen in ihrer kolonialen Hidalgo-Umgebung, die sie für ihre Dichtungen hat fruchtbar machen können.

Künstliche Paradiese? Hermetik?
Die erste Marslandung – beschrieben von Athanasius Kircher; eine Iter exstaticum, ekstatische Reise – könnte nach einem seiner Buchtitel (1657) das Gedicht, und überhaupt jedes überzeugende Stück Kunst!, genannt werden. Eine Expedition durch den Menschen und seine Erfahrungen, eine neuronale Teststrecke, eine Textstrecke, letztendlich nicht abschreitbar; eine Große Kunst des Lichtes und der Schatten (Kircher, 1671), Meteoritenschauer, Stroboskopbeschuß in wogenden, in künstlichen Paradiesen, und immer und immer sich wiederholendes Itinerarium exstaticum (Rom, 1656).
Hermetik? Ein solcher Primero Sueño erinnert an diesen Vierziger-Jahre-Science-fiction, in dem ein verkleinertes Ärzteteam im Nano-U-Boot zwecks Notoperation die Blutbahnen eines Patientenkörpers durchfährt. Der Primero Sueño der mexikanischen poetessa docta enthält, stets das schnörkelig Überladene vermeidend, Passagen von wunderbar verdichteten Beobachtungs-Clips und Porträt-Polaraids: Siesta-Situation bei Mensch und Tier; knappeste Schilderung einer Gebirgs-Location, in der König Actaeon bei der Jagd beobachtet wird. Überhaupt fehlt, zum Vorteil der Leserschaft, dem Gedicht einiges, was Barockdichtung schwer genießbar machen kann: nichts von kraftmeierischem, girlandenhaftem Dröhnton, kein falsches Pfingstfest schwülstigen Gottespreises, statt dessen besticht der Text durch Findungskraft und Disziplin.

Die stärksten Gedichte H.C. Artmanns in den 60ern (der Dekade, in die eine Büchnerpreisverleihung hätte fallen sollen!) finden sich sicherlich in den nicht ostentativ „barockisierenden“ Texten, obschon er auch hier Arno Holz mit Siebenmeilenstiefeln davoneilt; es sind wohl die dem Barock nur noch sehr entfernt verpflichteten „landschaften“ (1966) und deren Vorläuferzyklus „hirschgehege & leuchtturm“ (1962); zumindest letzterer ist leider viel zu wenig bekannt:

… knisternd nisten in ihrem herzen
elektrisch geladene schwalben.

In der Nähe, parallel zu Inés de la Cruz, können verschiedene Prosadichtungen Konrad Bayers gelesen werden. Bayer ist Pionier des österreichischen Experimentalfilms (Drehbuch, Performance), Sprachphilosophie-Rezipient, er verarbeitet Erkenntnisse der neu entstehenden Bewußtseinsforschung, seine Interessen, darin folgt er dem schwarzromantischen Artmann, richten sich aufs Artifiziell-Ethnologische und gelten dem arcimboldieisch Montierten ebenso wie dem Wiener Slang und, last not least, Pop-Phänomenen. Der Dichter befaßt sich mit dem Kommunikations-Automaten Mensch; ein seit den 80ern (Stichwort Neue Medien, Stichwort Körper-als-Metapher) bekanntermaßen hochbrisantes Thema für und in der Poesie.
In seiner dichtungsmaschine in 571 bestandteilen (Untertitel), der vogel singt von 1957/58, ist ein Leitmotiv die elektrisiermaschine: „die elektrisiermaschine erleuchtet die landschaft…“
Oder Bayers einzige, bei Lebzeiten gedruckte, textsortenübergreifende Dichtung der stein der weisen, aus dessen Kapitel „lapidares museum“ ich hier kurz zwei Passagen zitieren möchte:

in den tälern dieses gebirges marschieren wir tagelang unter dem laubdach von riesigen platanen, in deren gezweig künstliche vögel singen. wenn sie verstummen, werfen wir eine münze ein und sie singen weiter. wir steigen höher hinauf… wir erreichen eine hochebene… statuen lustwandeln zwischen taxushecken aus papiermaché. die äusseren gehäuse von vergoldetem messing lassen winzige öffnungen frei, so dass man alle bewegungen des triebwerkes mühelos betrachten kann… vergnügt schlagen wir unsere echten finger in diese tastatur und eine schriftrolle springt der bestie aus dem maul und flattert uns vor die mit blut gefüllten füsse.

Dann wird eine Höhle erforscht; die Seilschaft, Achtung Zeichenkette!, bemerkt folgendes:

die höhle hat rechts noch eine kleinere plattform, welche sich als schmale an der steil aufragenden oberen herzwand herumführende galerie fortsetzt, und nach aussen zu nur einige runde öffnungen von geringem durchmesser. aus der geäderten felsdecke über uns hängen riesige fetzen von hautgewebe, wie draperien. man kann ohne allzu grosse mühe in die obere etage hinaufklettern…

Gustav René Hocke (der, obwohl Romanist, Inés de la Cruz nicht behandelt) nennt in seinem Merkmal-Katalog, der Charakteristika von „Barockliteratur“ einfangen soll, unter anderem „rauschgiftnahe Faszination“. Und prompt stößt man, zum Ende des Primero Sueño, bei der Schilderung des zeitlupenmäßigen Erwachens aus dem „Traum“, des Erstehens von Tagweltbewußtsein, auf das Wörtchen Bilsenkraut (beleno), das sicherlich nicht allein vom Cruz-Kommentator Octavio Paz gern übersehen wurde, das ich allerdings ebenso gerne bereit bin, als reales Faktum zu lesen, zumal das den Nachtschattengewächsen zugehörende Halluzinogen Hyocyamus niger vom Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens zu den „ältesten den Indogermanen bekannten und von ihnen benutzten Gift- und Zauberpflanze(n)“ gerechnet wird; betont werden unter den „Sinnestäuschungen“ insbesondere Gehörhalluzinationen. Und was wäre denn Dichtung, diese, neben dem apotropäischen Handabdruck der Felsbeschriftung, älteste orale Zeichenkette der Menschen, zumal wenn sie vernünftig vorgetragen wird, anderes, als Gehörhalluzination, als Rausch-im-Ohr? So wird Bayers sehr begreifbarer Text „hermetische geografie“ (ebenfalls aus stein der weisen) denn auch verständlich; klar, aufschlüsselbar und unhermetisch – wie gut klingende hermetische Dichtung eben sein soll. So beginnt er:

es wird immer lebendiger. sobald sie musik hören, kommen alle ausser sich…

Thomas Kling, aus Thomas Kling: Botenstoffe, DuMont Verlag, 2001
Erstveröffentlichung unter dem Titel „Hermetisches Dossier 11 Stichworte zu Juana Inés de la Cruz, Artmann, Bayer“ in: Brigitte Labs-Ehlert (Hg.): Aus dem Wort kommen. VI. Literaturbegegnung Schwalenberg. Detmold: Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe, 1997

 

Jörg Drews/Klaus Ramm (Gespräch): das ist ja entsetzlich. Verdoppelte Bemühung, sich über Konrad Bayer verständlich zu machen.

Ann Cotten: Statement zu Konrad Bayer

Lydia Mischkulnig: Einstimmer. Über Konrad Bayer

 

Konrad Bayer / Gerhard Rühm

Da ist der Wolf drin
und der Wolf muss da raus

Jetzt etwas ganz Schwieriges. Ein Film:
Bei vier Klappen und zwei Taktwechseln
so die Musiker ein Halbes vorspielen
und die Tänzer schweißig improvisieren
wachsen auf englischen Rasen Gänseblümer.
Gänseblümer Kamera eins – Gänseblümerei ist Kunst
Bitte den Ton. Die Kunst ist der Wolf am Faden
Des Wolfes am Faden der Gänseblümer
Er ist wertvoll wertvoll wertvoll nur am Faden
Das Wertvollste am Faden ist der Wolf
Am Faden ist die Kunst am Faden ist der neue Mensch fad
Wie schad – ist der Wolf am Faden ein Plüsch ist
der neue Mensch am Faden ist die Kunst fade
wie der Gänseblümer am Faden fad
Bleibt der Rasen ein schönster Rasen privat
am Faden weit und breit Und action!
Was Sorgen bereitet diesmal – einen Hund finden
dargestellt in dreizehn Bildern – oder wieder die gelackte Ziege nehmen?

Peter Wawerzinek

Ann Cotten und Johannes Jansen: In memoriam H.C.Artmann und Konrad Bayer

 

Zum 50. Todestag des Autors:

Christian Lindner: Die Qual der Sinnlosigkeit
Deutschlandfunk, 10.10.2014

Klaus Kastberger: Cool und unendlich jung
Die Presse, 12.9.2014

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + Gesellschaft +
IMDbKLGÖM + Archiv 1 & 2 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Konrad Bayer mit sehr einfachen Schritten in dem Film SONNE HALT!

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