PETIT BONHEURS POSTHUMES (HEXENHASEL)
geständnisse – der geruch aus der kindheit
(wen die mutter mitnimmt in den tod vier jahre
zu alt für erbarmen) dürftig die erklärungen
hungern die nacht aus im verzehr jede nuß
trägt den keimling durch den zweifel (abgespart
von der faust als sie hand war) wenn sich hund
und witwe einigen auf eine gemeinsame todes-
anzeige schlagen die zeiten auf im vergessen
der immerletzte rand (abgrund) trennt die
danebensteht die trauer hat platz bei den kippen
auf dem boden haften liedweise leidwiese schöne
schwarze samen (gesprungen) der mund der dichter
zwiefach glutstellen (blutstillen) noch wachsen die
sprechen ins abseits zehn meter vom hauptstamm
die explosion der nähe (versprengt) die kinder
vergebens (haftung und haltung) sehen nichts nach
(für Wolfgang Hilbig, Ulrich Zieger, Sarah Kirsch, mindestens)
das sind Gedichte über unbequeme Verhältnisse, die zum Aufstand rufen, bis die Stellungen ausgeschritten sind und die Grenzen sich weiten. Sie umkreisen den Irrsinn und schweifen ins Wortwörtliche aus: Von Affe bis Zaum sind die Kose- wie Schimpfworte adressiert, mal Widmungen und Wendungen, mal kinderleichte Kinderlieder, aus schiefschwarzem Mund gesungen. Im Versuch, sich einen schlafwandlersicheren Reim auf die Dinge zu machen, die sich nicht fügen, ohne zu lügen, wird die eigene Stimme wieder vernehmbar.
Quintus-Verlag, Ankündigung
Zugegeben, ich kannte Kristin Schulz als Lyrikerin bislang nicht, genauer gesagt: Ich kannte sie bislang überhaupt nicht, mea maxima culpa. Wäre sie ein vollkommen unbeschriebenes Blatt, so wäre dies halbwegs verständlich. Doch die 1975 in Jena geborene Kristin Schulz leitet seit mehr als 10 Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin das Heiner-Müller-Archiv am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist außerdem Herausgeberin der gesammelten Gedichte von Heiner Müller und Thomas Brasch. Sie hat Gedichte, Prosa und Essays veröffentlicht, unter anderem in Literaturzeitschriften wie Moosbrand oder Edit. Sie ist Mitglied des Rheinsberger Autorinnenforums und hat 2012 den Deutschen Hörbuchpreis in der Kategorie „Beste Information“ bekommen. Ich hätte sie bzw. ihr Werk kennen können. Dass sie bisher unter meinem Radar herlief, ist also eher meiner schwachen Wahrnehmung zuzuschreiben, als dass Kristin Schulz ihr Werk unter konspirativer Tarnkappe veröffentlicht hätte. Aber genug Selbstkasteiung, kommen wir zu den Gedichten.
Angewandte Verhältnisse heißt der Gedichtband, erschienen im Quintus-Verlag. Er versammelt neben den verstreut in Zeitschriften erschienen Poemen zahlreiche neue Gedichte, insgesamt finden sich, auf vier Kapitel aufgeteilt, 86 Gedichte. Statt eines Vorworts gibt es von Kristin Schulz etwas „vorsätzliches“, ein Stück Kurzprosa, eine Art Liebeserklärung an die Liebe, die sich schon nach wenigen Zeilen als Liebeserklärung an die Sprache entpuppt:
der anfang der liebe ist bejahung. uneingeschränkt und vorbehaltlos. john lennon wußte es, als er von der leiter in yoko onos ausstellung wieder herunterstieg, an der decke die inschrift klein, aber lesbar – yes. widerlegt, was wir leben, die liebe? nein. aber mit der zeit werden die buchstaben blasser, oder sie lockern sich und fallen aus der wand…
John Lennon indes ist nur einer der Hausgötter und Säulenheiligen, die Kristin Schulz’ lyrisch-musikalisches Pantheon bevölkern. Dazu gehören natürlich auch die Dichter Heiner Müller und Thomas Brasch, die schon brotberuflich Hauptrollen im Leben der Autorin spielen. Hinzu treten weitere Figuren wie Rolf Dieter Brinkmann, Ulrich Zieger, Sarah Kirsch und der melancholische Songwriter Townes van Zandt. Letzterer wahrscheinlich als pars pro toto für andere Songwriter und Chefmelancholiker wie Nick Drake, Tim & Jeff Buckley und Elliott Smith, um nur einige zu nennen. Kennern von Lyrik und Musik dürfte auffallen, dass alle Genannten bereits tot sind. Wahrscheinlich ist das die Einstellungsbedingung, um in die Namedropping-Liste von Kristin Schulz aufgenommen zu werden. Aber Scherz beiseite: Das erste Kapitel des Bandes mit dem Titel „Widmungen und Wendungen“ enthält Gedichte, in denen diese verblichenen Kronzeugen des guten Geschmacks – entweder als Zitat oder Protagonisten – konkret benannt werden, sie spielen also eingangs des Gedichtbandes die Rolle von Türstehern poetischer Inspiration.
Dessen ist sich Kristin Schulz wohl bewusst, nennt sie das erste Gedicht dieses Kapitel doch „meine toten dichter“. Darin schildert das lyrische Ich scheinbar reale Begegnungen mit verstorbenen Poeten:
im jahre 2006 habe ich thomas brasch
in einem londoner pub gesehen: in shakespeares head in soho…
Brasch, gestorben 2001, ordert in diesem Pub die letzte Runde vor der Sperrstunde. Zwei Zeilen später heißt es:
heiner müller hat mir als er schon tot war meine fragen
zur edition seiner texte am telefon beantwortet.
Wiederum zwei Zeilen später:
ulrich zieger den ich jahrelang nicht gesehen hatte
legte sich zu mir „wegen der wunde“
Es sind rätselhafte Präsenzen und kryptische Botschaften, mit denen verstorbene Poeten hier auftreten. Wunderbar prosaisch schwenkt Kristin Schulz auf die Zielgerade des Gedichts ein:
… keiner wurde von einem auto erwischt
wie rolf dieter brinkmann in london und doch ist london eine stadt
in die ich nicht zurückkehren werde aus aberglauben und vorsicht
denn ein paar freunde fallen mir ein denen ich
ein längeres leben wünsche und meine träume
Was ist das Besondere an Kristin Schulz’ Gedichten? Sie kommen nicht mit wetterleuchtenden Bildern daher, verzichten weitgehend auf metaphorischen Prunk. Stattdessen werden Worte wie Unzen gewogen, im wahrsten Sinne des Wortes auf die Goldwaage gelegt. In dem Kapitel „stimmbandlektionen“ findet sich das Gedicht „waage“:
sei froh ob meiner müdigkeit
sei froh ob meiner mündigkeit
die eine bindet die andere
bündelt weniger mundscheu
steht sie weiter hält mich
der schlaf zurück noch ganz
in der schwebe treu noch
ausgeglichen bald ausgewichen
der glanz und gar
Kleine Buchstabenverschiebungen oder -ergänzungen und die gewünschte Ausgewogenheit wird geradezu körperlich spürbar. Minimale Verschiebungen mit maximaler Wirkung. So verwebt Kristin Schulz heterogene Bedeutungsteilchen in ein kohärentes Ganzes. Das ist, was Gerhard Falkner mit seiner Definition von Gedichten meinte: ein kleines Gebilde aus Worten für das Schillern des Lebens bewohnbar machen. Am Schluss dieses auch optisch sehr schön aufgemachten Bandes finden sich noch mehr solcher Kleinode. Das der Tochter von Kristin Schulz gewidmete Gedicht „genaue ahnung“ geht so:
wohin des wegs wohin des
wehs meine tochter lernt
sprechen und wechselt die zeichen
ich ahme nur nach sie weiß
was sie meint genau so
Bei diesem Gedicht spürt man eines: Es reicht nicht, nur die Sprache zu lieben. Als Leser will man auch das Gefühl haben, dass die Sprache den Dichter/die Dichterin – zumindest manchmal – auch zurückliebt. Bei Kristin Schulz’ Gedichten finden sich einige solcher Glückmomente.
– Zu den Gedichten von Kristin Schulz. –
Unsere Gegenwart könnte man vielleicht auch als Zeitalter des Dekonstruktivismus bezeichnen, in dem medial eine permanente Enthüllung statthat, die zum Teil aber nur mehr scheinbar im Widerspruch steht zu den Verbrämungen der Wirklichkeit, des Neoliberalismus, der uns seine herkömmlichen Werte in schönerem Wortgewande als Verheißungen unterjubelt. Der aufklärerische Geist hat sich die Offenlegung der Strukturen im Welt- wie Machtgefüge einst herbeigesehnt, und was die nun mit uns macht, in der neoliberalen Übertragung, und was dabei mit dem Überkommenen geschieht, die Frage nach dessen Sinnfälligkeit, schwingt als Thema in Kristin Schulz’ Texten mit. Das Überkommene, Vorformulierte, mit dem es sich ins Verhältnis zu setzen gilt, wie mit dessen Subtext – in „schaumschläge“ heißt es:
so so und so drischst du das gold
zu stroh wirst nicht mehr froh
Wir sind Abhängige der eigenen Konstruktion.
Einige der hier abgedruckten Texte, wie etwa „sectio“, wirken rätselhaft, gleich den Rätseln der Sphinx, die auf den ersten Blick unlösbar – was als Wortspiel in Erscheinung tritt, an Zaubersprüche gemahnen mag, führt in die tieferen Schichten von Unwägbarkeiten und Verunsicherung, in denen das Leben gespiegelt wird.
Kristin Schulz, die als Herausgeberin des dichterischen Werks von Heiner Müller und Thomas Brasch ein Gespür für die traumwandlerische wie analytische Konsistenz dieser Texte entwickelt hat, was auch in ihren eigenen Gedichten durchaus Widerklang findet, geht in einer gewiss vorhandenen künstlerischen Affinität zu den Genannten entschieden eigene Wege. Mit ihren Texten verhält es sich so, als wären wir gezwungen, zu schauen, rückhaltlos, auf die Verhältnisse wie auf uns… Und was als Bezug auf Mythen oder Märchen in ihren Versen ab und an anklingt, zitiert wird, so finden sich diese Muster ins Gegenwärtige übertragen, in ironischer Distanz. Der Text „angewandte verhältnisse“ betrachtet unser irdisches Treiben im „daseinsfrack“ (Stefan Döring). Gibt es so etwas wie Schicksal oder Geschick, könnte man sich fragen, oder allein unsere Spekulationen darüber? Letzte Hoffnungen im Wissen, dass es eigentlich keine mehr gibt, das Ich lediglich auf sich selbst verwiesen ist? Dabei bilden die in Klammern gesetzten, wie nebenher gesprochenen, kommentierenden, widerrufenden, sarkastischen… Wortgefüge bei Schulz Teil eines poetischen Verfahrens, das die Verse dialogisch erscheinen lässt. Dies alles im Sinne einer Dekonstruktion, die mich in ihrer Konsequenz auch an literarische Ansätze von Irmtraud Morgner oder Sarah Kirsch erinnert, etwa wenn ich die hier abgedruckten Gedichte „sectio“ und „vor der dialektik“ lese, an einen Ton, den ich lang schon nicht mehr vernommen. In Kristin Schulz’ Gedichtband Fehlmärchen (Gutleut, 2014) scheint dieses poetische Verfahren, das sich alltäglicher Redewendungen und Floskeln bedient (deren ursprünglicher Sinn oft verschüttet ist), die sie variiert und verdreht, schon auf. Gedicht Nummer 9 in Fehlmärchen beginnt so:
kein und aber
verliefen sich im
wald aber erschlug
kein und kein
kind nicht einmal
wind bliebe der
aber vertriebe.
In angewandte verhältnisse schreibt sie:
wie sie uns liegen (soul and foul) beherrschen sie uns
(die regeln des spiels) mit dem ernst verläßlich beschäftigt
grasen wir sternzeichen ab
Was nicht zuletzt auch von der politischen Dimension ihrer Dichtung Kunde gibt. Das Bewusstsein dafür hat sie gemein mit einer Reihe mehr oder minder ihrer Generation angehöriger dichterischer Kombattanten wie etwa Kai Pohl, Clemens Schittko und Robert Mießner, die sich lose um die ambitionierte Zeitschrift Abwärts gruppieren und seit einigen Jahren stärker an die Öffentlichkeit treten. Und dabei den Faden einer politisch ambitionierten Dichtung wieder aufnehmen, der lange Zeit vernachlässigt worden ist. Die zumeist in den 70er Jahren geborenen Autorinnen und Autoren traten zu einer Zeit ins Erwachsenenleben ein, als die Deregulierung und der damit verbundene neoliberale Neusprech sich auch in Deutschland durchzusetzen begannen. Der Eintritt in dieser Weise in eine von der „Umwertung aller Werte“ und Umetikettierungswahn begriffenen Gesellschaft hat viele von ihnen politisch hoch sensibilisiert.
Die allgemeine Verunsicherung, die in Texten wie giftstücke mitschwingt, provoziert dazu, zu fragen, ob dem Abschied von sogenannten Gewissheiten auch etwas Produktives eignet? Aufklärung, Erkenntnisprozess, Erkenntniszwang – der Weg ins Bodenlose? Der letzte Vers erscheint dabei gleich einem Orakelspruch, einer Versuchsanordnung, die ins Offene mündet.
Jayne-Ann Igel, aus Aron Koban und Annett Groh (Hrsg.): denkzettelareale, Verlag Reineke & Voß, 2019
Eine poetologische Notiz gerät schnell unter Verdacht der Selbstverständigung (Selbstzweck), steht am Anfang keine Frage. Stelle ich mir also die fehlende Frage ersatzweise, die sich für diese Texte interessiert. Sie sind – wie jeder Text – erzwungene Formulierung, da man ohnmächtig genug war, auf die Verhältnisse nicht anders reagieren zu können als mit Worten. Der Versuch einer Verständigung, die auf Dialog setzt, aber wie bei Briefen im Dilemma der Ungleichzeitigkeit von Formulierung und Lektüre (Absender/Adressat) steckenbleibt. Ein nachträglicher Leser wäre die Hoffnung, daß die Verständigung an anderem Ort stattfindet als dort, wo sie in der Not verpaßt wurde. Im (Wieder)erkennen liegt die Chance: eine Begegnung in der Erfahrung. Gültig formulierter Text ist hier gebundener, womöglich gebannter Schrecken.
Texte als Orientierung im Gestrüpp, wenn irrlichtern nicht hilft, schweigen und singen auch nicht. Das Kind im Wald gegen die Angst. Verdichtung als Antwort, als Rückzug in die Kugel, die kleinste Ober- und Angriffsfläche der nächsten Verletzung und Wunde zu bieten. Worte, die mehr sind – Schutzschild, Beschwörung, Vergewisserung, Öffnung –, wenn sie zueinander finden, nicht anders können als sich zu fügen in die Ordnung der Worte, wo zuvor in Situationen und Gedanken nur Unordnung und Unruhe herrschte. Die Zufügungen damit in Fügungen überführen, in Worte gefaßt die Fassung als Form zurückerobern: Anwendung, Praxis. Texte, die die Selbstverständlichkeit von Träumen haben, weil sie nicht hinterfragt werden können, ihre Anlässe oder Gründe sind weder zu ändern noch zu verhindern und liegen zurück. Gegen das Versehen der Versuch. Immer wieder.
Die Handlungsanweisung (im Sinne einer Richtungsweisung) fällt nur auf die Verfasserin zurück, sich einen Weg zu bahnen in eben jenem Gestrüpp, das dichter lichter nicht wird. Wenn die Wörter die Schatten tragen helfen, so weil sie für sich stehen, sich behaupten können auf eigenen Füßen, in ihrer Welt, in der sie nicht allein sind. Auch das ist Anwendung: wenn aus Not Notation wird.
Kristin Schulz, aus Aron Koban und Annett Groh (Hrsg.): denkzettelareale, Verlag Reineke & Voß, 2019
Lesung Kristin Schulz und Johannes Jansen am 22.11.2015 im Watt Teil 1
Lesung Kristin Schulz und Johannes Jansen am 22.11.2015 im Watt Teil 2
Lesung Kristin Schulz und Johannes Jansen am 22.11.2015 im Watt Teil 3
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