PANTHEON
Die Tiger jagen im Graben.
Durchs Auge klirren die Sterne.
Die Tiger jagen in Rudeln.
Die Tiger schnuppern im Graben
nachts nach den Sternen,
die durch das schlaflose offne
Auge klirren zu Boden.
R begann sein dichterisches Werk als Lyriker, und Gedichte begleiten den gesamten Zeitraum seines Schaffens. Noch Ende der 50er Jahre, als er auf eine umfangreiche Prosaproduktion zurückschauen konnte, stand für ihn die poetische Eigenart seines Schreibens so im Vordergrund, daß er all seine „Wortgebirge“ zusammen als „dieses enorme Gedicht“ bezeichnete.
Da beim Erscheinen der einzelnen Gedichtbände die vorangehenden oft nicht mehr erhältlich waren, ist Rs lyrisches Werk erst im nachhinein sowohl in seiner Entwicklung als auch in seinem Zusammenhang zu entdecken. Lyrische Texte geschrieben hat er nach eigener Auskunft schon als Schüler. Auch eine Szene seines ersten Romans Die Lügner sind ehrlich handelt von der Lyrikbegeisterung in der Jugendzeit. Eine der Romanfiguren trägt Rilkes „Der Schauende“ aus dem Buch der Bilder den verständnislosen Klassenkameraden vor, und aus einem Aufsatz zu Rilkes 40. Todestag 1966 wird deutlich, daß diese Romanszene auch einen persönlichen Bezug hatte:
Rilke hat mich zur Lyrik erweckt. Die Assoziation zum Religiösen, ja Pietistischen, die das Wort hervorruft, ist hier durchaus angebracht und erwünscht. Als ich ein Gymnasiast war, standen mir das Stundenbuch und die Neuen Gedichte für moderne Dichtung überhaupt. Später, als Student, vor meinem Eintritt ins Noviziat des Jesuitenordens, wurden mir die Sonette an Orpheus geradezu zum liturgischen Text einer mystischen Einweihung.
Außer Gedichtversuchen aus den 40er Jahren ist im Nachlaß noch ein dickes Schulheft mit dem handschriftlichen Titel „Zur Poetik“ vorhanden, in dem Gedichte von R.A. Schröder, Rudolf Borchardt, Stefan George und Calderón mit Tinte abgeschrieben wurden. Neben dem Text hat der werdende Lyriker genau das Versmaß markiert (Schachtel 18). Unter den frühesten Entwürfen eigener Verse in einer Mappe in Schachtel 13 befinden sich ein Gedicht auf Hölderlin vom März 1945 und eines auf Clemens Brentano vom Februar 1946. Doch die Beziehung zu diesen beiden Dichtern wirkt sich erst im späteren Werk aus, zuerst orientierte sich Rs Weg zu einer eigenen Dichtungssprache vor allem an Mustern aus der Tradition des Ästhetizismus um die Jahrhundertwende. Publiziert hat er aus dieser frühen Phase nur die vierzehn Texte seines ersten Gedichtbands Gesicht im Mittag von 1950, die ganz von strengem Formbewußtsein, gesuchten Bildern, feierlichem Ton und elaborierten Wörtern geprägt sind. In einem Brief an P. Erni von 1967 hat sich R einmal zu seiner ersten Publikation geäußert und erklärt, diese Verse als von „George und Ernst Jünger bestimmte Versuche“ lägen ihm inzwischen fern. Auch Rilke empfand er im Aufsatz von 1966 als eine „Antiquität“, auf die er nur gelegentlich einen „pietätvoll befremdeten Blick warf“.
Die erste markante Veränderung in Rs Lyriksprache vollzog sich 1951 mit dem Ortswechsel von der Schweiz nach Rom. Zwar gibt es eine Kontinuität bei den bildlichen Vorstellungen – Kugel, Kuppel oder Netz tauchen von den frühesten bis zu den spätesten Gedichten auf –, aber die Begegnung mit Rom, die er eine der „großen erotischen Erschütterungen“ seines Lebens nannte, führt schon in den nicht publizierten Entwürfen der römischen Jahre zu einer in Wortschatz und Versform gewandelten Sprache. Während vorher alle Wahrnehmungen aus Natur und Kultur, ob Käfer und Gipfel oder Palast und Bildnis, zeitlos und ortlos unbestimmte Vorstellungen des Bedeutenden, Erlesenen und Preziösen hervorbringen, tritt nun die konkrete alltägliche Gegenwart mit den kulturell „bedeutenden“ Erscheinungen der Ewigen Stadt gleichzeitig in den Blick. Besonders schlägt sich der Wandel im Gebrauch der Versformen nieder, über die R dann vor der Publikation des zweiten Gedichtbandes im Tagebuch schreibt:
Mein Vers ist vielleicht gar kein Vers im herkömmlichen Sinn, wenigstens oft nicht: die Schreibweise in festen Zeilen soll oft einfach zum richtigen Lesen, zum richtigen Verständnis des Gedichtrhythmus anleiten. Es ist nicht gleichgültig, an welcher Stelle eine Zeile aufhört, eine neue beginnt. Meine Verse sind immer insofern Verse, als sie den Rhythmus an einer bestimmten Stelle unterbrechen, an einer bestimmten Stelle neu einsetzen lassen. Manchmal freilich fliesst die Bewegung so stetig oder es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, den Rhythmus zu interpretieren, zu lesen, dass ich darauf verzichte, die Zeilenanfänge und Enden zu fixieren. Dann entstehen die Prosagedichte. Oft fange ich ein Gedicht als Versgedicht an und merke erst in der dritten oder vierten Fassung, dass es besser als Prosa geschrieben wird, dass ich es aus blosser Gewohnheit in Versen schrieb, oder doch fast bloss aus Gewohnheit. Denn der weitaus grösste Teil meiner Gedichte steht hart an der Grenze von Vers und Prosa. Nur wenige setzen sich zusammen aus eindeutig festen Verskörpern. (17.11.1956, Schachtel 31)
Ab 1954 sind Entwürfe für Gedichte in Die verwandelten Schiffe nachweisbar. Motto und Titelgedicht des 1957 publizierten Bandes zitieren Vergils Aeneis, wo sich in Buch X die bedrohten Schiffe in Nymphen verwandeln, um Aeneas zu retten und zu seiner Bestimmung zu führen, das Erbe Trojas an Rom weiterzugeben. Das Thema der Verwandlung, die sich unter dem Blick eines Betrachters vollzieht, bestimmt auch viele weitere Gedichte dieses Bandes. Der Wortschatz nimmt einerseits Bilder und Vorstellungen der antiken und christlichen Tradition in sich auf, andererseits auch Alltag, urbane Gegenwart und Technik, wobei die verschiedenen Bereiche oft so zusammengeführt werden, daß sich die zeitlichen und räumlichen Abgrenzungen der gewohnten Wahrnehmung auflösen. Die Taube, die der heiligen Katharina der christlichen Legende Nahrung in den Kerker bringt, gerät zwischen die rasselnden Eimer der städtischen Müllmänner. Der Blick des Stadtbesuchers gleitet von den Ruinen der Antike direkt in die Persilreklame, die ein Werbeflugzeug in den römischen Himmel malt. Klang und Rhythmus verleihen den langen, reimlosen Versen deutliche Strukturen, sie bilden akustische und melodische Muster, die wiederholt und variiert werden. Auch in Prosagedichten wie „Warnung an einen Besucher von San Clemente“ ist die Sprache stark rhythmisiert.
Im Klappentext „Das Gedicht heute“ formuliert R zum ersten Mal die Grundsätze seiner Poetik außerhalb des Tagebuchs. Ausgangspunkt der Überlegungen ist bei ihm immer die Erkenntnis, daß die Wörter der Sprache kein „wahres Bild“ der Welt geben können. Der Verlust der Einheit zwischen den Wörtern und den Dingen war von seinem dichterischen Vorbild Hugo von Hofmannsthal am Anfang des Jahrhunderts im „Brief“ des Lord Chandos in Begriffen beschrieben worden, die so berühmt geworden sind, daß kaum eine Einleitung zur Literatur der Moderne versäumt, sie zu zitieren. R muß davon so nachhaltig beeindruckt worden sein, daß er eine Aussage aus diesem Brief über die Worte – „Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt“ – als Motto vor sein erstes Prosawerk Die Lügner sind ehrlich setzt. Dieselbe Metapher steht nochmals im Zentrum des komplexen Sprachexperiments in seinem späten Roman Wirbel im Abfluß. Auch seine Bestimmung des modernen Gedichts beginnt mit der These, daß es keinen „unmittelbaren Ausdruck“ gibt. Aus dieser Voraussetzung leitet R die entscheidende Rolle eines bildlichen Konzepts ab – der Maske. Sie wird hier von ihrem traditionellen Ruf der Unwahrheit und Verstellung befreit und aufgrund ihrer unerschöpflichen Wandlungsfähigkeit zum Kennzeichen der Poesie erklärt. Die charakteristische Eigenart von Rs Poetik tritt nirgendwo so deutlich zu Tage wie in der Funktion, die er dem Bild in der Sprachkunst zuweist. Daß gerade das Bild ein ungebrochener Spiegel des „Wahren“ ist, tritt ursprünglich als Vorstellung der katholischen und orthodoxen Kirchen auf, die mehrere bildliche Darstellungen als Abbild Christi – als „vera icon“ – verehren. R glaubte, die Aufgabe, ein „wahres“ Bild hervorzubringen, sei im Vorgang der Säkularisierung auf die Kunst übergegangen. Doch da der Sprache kein unmittelbarer Ausdruck möglich ist, kann sich seine vom Synkretismus geprägte Zeit dem unerreichbaren Zentrum „Wahrheit“ nur durch eine Vielzahl von Masken aus verschiedenen Bewußtseinsschichten und kulturellen Epochen nähern. Nur die Spiegelungen und Brechungen des Maskenspiels ermöglichen eine Dichtkunst der Moderne. Die hier am Ende der 50er Jahre formulierten Gedanken bleiben in ihren grundlegenden Definitionen für das Werk Rs bestimmend bis zum postumen Roman Bilder Bilder.
Sein Konzept läßt mehrfach Bezüge zu Hofmannsthals Aufsatz „Das Gespräch über Gedichte“ von 1903 erkennen. Das gilt besonders für die Vorstellungen über angemessene Gegenstände der Dichtung, mit denen seine früheren Ansichten hinfällig werden. In den fast täglich festgehaltenen Reflexionen des Tagebuches läßt sich die Entwicklung zur größtmöglichen Vielfalt der Themen verfolgen. So schreibt er schon am 29.7.1954:
Mit der Kraft des Dichters wächst seine Fähigkeit, die ganze Welt, alles ihm überhaupt Erfahrbare seinem Gedicht einzuverleiben. Die preziöse Scheu vor dem Unpassenden, dem Banalen verringert sich, indem es für ihn immer weniger Unpassendes, Banales gibt.
Neben der Bestimmung seiner poetischen Grundsätze beschäftigt sich R im Tagebuch zu dieser Zeit immer wieder mit der Frage nach seinem künftigen Lebensweg:
Es geht einfach darum, ob ich ein mittlerer Historiker mit poetischem Einschlag sein will, fast unbemerkt dazu werde, oder aber ein Dichter, der unabhängig zur genaueren Aussage drängt. (26.5.1954)
Nach der Veröffentlichung von Die verwandelten Schiffe hat er diese Frage eindeutig und ohne alle Rücksicht auf Konventionen entschieden: Er trennte sich von Frau und Kindern und mit der Beendigung der Universitätslaufbahn zugleich von allen anderen Formen eines bürgerlichen Berufes. Seitdem machte er die Dichtkunst kompromißlos zur Lebensaufgabe, der sich alle anderen Erwägungen unterzuordnen hatten.
Seinen folgenden Lyrikband nannte R nur gedichte; er erschien 1960 zeitgleich mit dem Roman Die Lügner sind ehrlich ohne einen begleitenden Text des Autors. Doch im Tagebuch hat er zur Entstehungszeit dieser Gedichte wieder Überlegungen zur spezifisch modernen Lyrik aufgezeichnet. Gegen eine „romantische“ Auffassung, Lyrik sei Äußerung eines spontanen, direkten, noch naiven Gefühls, dem Bewußtheit und geistige Formkraft fremd seien, wendet er ein:
Namen wie Goethe, Mörike (er freilich mit Vorbehalten), Meyer, Rilke, Benn [sind] Beweise genug gegen die These von der Jugendlichkeit der Lyrik. Und was soll man erst zu Valéry, Mallarmé, Auden, Eliot sagen, deren Kunst zum wesentlichen Teil nur als die Kunst reifen Alters denkbar ist. Ich möchte, im Gegenteil, sogar sagen: nur das Wissen, die Skepsis, der Weltabstand, die schmerzlich-ironische, die elegisch-leidenschaftliche Erfahrung der Vergeblichkeit des reifen Lebensalters war und ist das zu schaffen imstande, was wir als moderne Lyrik kennen. Eine Kunst, die freilich Horaz, Ovid und den Alexandrinern näher steht, auch den Dichtern des Barock, als dem 19. Jahrhundert. – Vielleicht entspricht die Lyrik als Kunstgattung unserer Zeit darum besonders, weil sich in ihr die künstlerischen Prinzipien und Methoden, die uns am nächsten liegen, am reinsten anwenden, am deutlichsten vorführen lassen. Die kühne Assoziation, der ,Bildsprung‘ ist ein spezifisch lyrisches Verfahren, die Komposition der Gegensätze (der scheinbaren), alles, was man als Eigentlichkeit der modernen Dichtung kennt. (21.6.1958)
In gedichte treten zum erstenmal Zyklen von mehreren, durch die Abfolge römischer Ziffern geordneten Gedichten zu einem Thema hervor. Inhaltlich stammen die Themen einerseits aus Geschichte und Mythologie – römische Kaiser, Nymphen und Sibyllen sind vertreten –, andererseits sind es Erscheinungen aus dem gegenwärtigen Alltag und aus der Natur, bei denen oft mehrere Bedeutungsebenen entfaltet werden. Besonders fällt die Schichtung und Überlagerung von Bezügen zu Texten und bildlichen Darstellungen der Tradition auf, für die er später den Begriff des ,Palimpsests‘ verwendet. Die hervorgehobene Rolle von bildlichen Vorstellungen zeigt sich unter anderem auch darin, daß beim Aufrufen von Figuren der christlichen Legende wie Sebastian oder Markus ihre Darstellung als Gemälde von Rubens oder Tintoretto direkt oder indirekt in das Gedicht mit einbezogen wird. Nicht nur Texte anderer Dichter wie Hölderlin werden in den Gedichten zitiert, sondern als charakteristische Eigenheit bei R bildet sich ein Netzwerk von Verweisen innerhalb des eigenen Werkes heraus. So tauchen Bezüge zu dem 9teiligen Zyklus „Miracula Sancti Marci“, der Facetten der Bedeutung des venezianischen Stadtpatrons in gegenwärtigen und vergangenen Bildern übereinanderschichtet, immer wieder in den Venedig-Passagen der späteren Romane auf. Das Gedicht „Die Engelsburg: Kaiser Hadrian spricht“ gestaltet den Wandlungsvorgang von Wirbel im Abfluß dreißig Jahre, ehe der Roman erschien. Zu diesem Netzwerk von Bezügen gehört der Kopf Johannes des Täufers, der nach „Inventio et translatio capitis Sti. Joannis Baptistae“ mehrfach bis zum Roman Bilder Bilder an wichtiger Stelle wieder erscheint. Dazu gehören neben den schon früher vorhandenen Bildern von Kuppel und Kugel nun auch die Münze oder das Bild der im Kreis laufenden Pferde in „Rosse“. Der Wortschatz präsentiert eine große Variationsbreite von den vielsilbigen Fremdwörtern der Bildungstradition bis zu ganz einfachen Wörtern. Bei den Versen überwiegen nun etwas kürzere, weiterhin ungereimte Zeilen, und die Formen der klanglichen Wiederholung und Variation treten als Gestaltungsprinzip stärker hervor.
Dem Band FLUSSUFER von 1963 ist ein Vorwort vorangestellt, in dem R einen Richtungswechsel bei seinen Gedichten vermerkt, der ihn von fülligeren Sprachformen zu vereinfachten Grundformen geführt habe. Diese Entwicklung dokumentieren die in Gesamtlänge und Zeilenlänge deutlich kürzeren Gedichte. Bei den Titeln schwindet der bestimmte Artikel, so daß meistens nur noch ein Wort übrigbleibt: mit „Garten“, „Käfer“, „Kiesel“ stehen Bilder im Vordergrund, deren Traditionsgepäck leichter wiegt. Je mehr R in den 60er Jahren mit erzählenden und dramatischen Formen experimentierte, desto kürzer, knapper und konzentrierter wurden seine lyrischen Texte. Doch die Themen aus Geschichte und christlicher Tradition schwinden nicht gänzlich, sie sind nur nicht mehr so beherrschend. Immer deutlicher treten dagegen die Beziehungen innerhalb des eigenen Werkes hervor, besonders fallen thematische Parallelen zu den 1968 veröffentlichten Erzählungen Mißverständnisse auf. Beim Gedicht „Labyrinth“ und den beiden Erzählungen „Labyrinthischer Brief“ (I und II) ergeben sich die Verknüpfungen aus dem gemeinsamen Bezug zu Geschichten in Ovids Metamorphosen. In der Anordnung der Gedichte läßt sich ein Prinzip beobachten, das von nun an für Rs literarisches Werk in allen Gattungen grundlegend und eigentümlich ist: die motivische Verknüpfung, die durch Parallelen, Spiegelungen und Entsprechungen ein subtiles Bezugssystem zwischen den einzelnen Texten schafft. Grundlage dafür ist wieder die Vorstellung von der ,Brechung‘ zwischen den Wörtern und der Welt, die anstelle des ungebrochenen Ausdrucks ein Ganzes aus einzelnen Splittern zusammenfügen will. Bei den Gedichten kann sich das durch Analogien im Aufbau der Sätze manifestieren wie zwischen „Warten“ und „Bohrturm“ aber auch durch Variationen eines bildlichen Motivs wie beim Vogel in „Vogel“, „Grab“ und „Halkyonische Tage“. Bei den sprachlichen Formen tritt das Spiel mit Wortwiederholungen hervor und gibt manchen Gedichten einen klanglichen Rahmen wie bei einem Rondo. Die ungereimten Verszeilen vermitteln beim Lesen eine deutlich wahrnehmbare rhythmische Ordnung und Vorwärtsbewegung, so daß auch Texte mit ungereimten, kurzen Zeilen aus alltäglichen Wörtern als eine geschlossene Einheit aus gebundener Sprache erfahrbar werden und sich von der Tendenz zur Annäherung an Prosasprache im damals zeitgemäßen ,Alltagsgedicht‘ der 60er Jahre absetzen.
Nach den drei Gedichtbänden von 1957, 1960 und 1963 folgte eine Unterbrechung von siebzehn Jahren. Anfangs verfaßte R noch Gedichtentwürfe, aber die Tagebucheinträge zur Lyrik blieben aus, und er veröffentlichte zunächst keinen weiteren Band, weil er in diesem Zeitraum zu seiner spezifischen Form in der Prosa fand. Zuerst erschienen 1968 die Mißverständnisse, dann 1973 der Roman Alexius unter der Treppe mit der von einer Rede Hugo von Hofmannsthals angeregten Titelfigur als Stellvertreter des Dichters und schließlich 1981 Das Ei, der Roman des Kampfes mit dem steinernen Bild der Mutter, der ihn sieben Jahre beschäftigt hielt. R selbst bezeichnete den Abschluß dieser „großen und schweren Arbeit“ als den Ursprung des im gleichen Jahr wie der Roman erschienenen Gedichtbandes Reduktionen. Im Vorwort betont der Autor, hinter den von allem historischen oder mythologischen „Mobiliar“ befreiten Grundformen der Sprache stehe das Ziel einer Musik der Worte. Zur Zeit, als das Prosawerk seine vielschichtigen Möglichkeiten der Sprachgestaltung breit entfaltet hat, ist der Titel der Reduktionen nicht negativ im Sinne einer Verkürzung oder gar eines Versagens der Sprache zu verstehen, sondern eher chemisch und kulinarisch im Sinne einer Konzentration und Verdichtung. In diesem mit seinen 101 kurzen Gedichten weitaus umfangreichsten Lyrikband folgen im beibehaltenen Muster der Spiegelung oder Brechung häufig zwei ganz kurze Gedichte zu einem Thema nacheinander wie bei „Golf 1“, „Golf 2“, oder zwei aufeinanderfolgende Gedichte sind thematisch aufeinander bezogen wie „Abend“ und „Dämmerung“ oder „Flut“ und „Ebbe“. Besonders auffällig sind die kontrastierenden Vorstellungen in einem Titel: „Sommer und Winter“, „Gewicht und Gegengewicht“, „Drinnen und draußen“, „Hinab und hinauf“. Es sind in jeder Hinsicht elementare Vorstellungen, die in diesen Gedichten aufgerufen werden, entweder als Bestandteile von Landschaft wie Berg, Wald, Meer oder als Sinnesempfindung von Wärme, Kälte, Hell und Dunkel oder als Bewegung von hinauf, hinab, entlang. Die Bezüge zur Tradition sind nicht einfach spurlos verschwunden und haben ein dünneres Vokabular hinterlassen, vielmehr sind Pyramide, Kuppel, Hirt und Schläfer selbst zu Grundbestandteilen der konzentrierten Wortwelt des Gedichts geworden. Die Verse machen die einfachsten Wörter kompakt, indem sie mit unausgesprochen mitschwingenden Vorstellungen dicht gefüllt werden. Wahrnehmungen der Natur und Vorstellungen aus der Bildungstradition erscheinen auf diese Weise nicht mehr unterscheidbar in schlichte „Grundformen“ und schmückendes „Mobiliar“, sondern sie sind untrennbar überlagert in einem elementaren Vorgang der Beziehungnahme zur Welt. Das System der Wort- und Klangwiederholungen ist nun zum durchgängig und virtuos eingesetzten Gestaltungsmittel geworden. Statt Gefühlsintensität bei gedanklicher Unschärfe zielt Rs Vorstellung einer Musik der Worte darauf, daß die einzelnen Wörter gleichzeitig und gleichwertig dichter Bedeutungsträger und rhythmisch strukturierter Klangkörper sind. Auf die Frage nach prägenden Vorbildern antwortete der Autor, es seien zuerst Mozarts Klavierkonzerte, deren Struktur ihn begeistere. Seine Gedichte wenden sich durch Klang und rhythmische Ordnung immer „ebenso ans Ohr wie ans Auge, wollen ebenso durch ihren Tonfall faszinieren wie durch die Bilder, die sie vor dem Leser aufstellen“.
An Rs letztem Lyrikband Abgewandt Zugewandt von 1985 fällt zuerst die Verwendung einer neuen Sprache auf, denn neben hochdeutschen Gedichten benutzt er in dieser Sammlung zum erstenmal die Mundart seiner Kindheit, das „Luzerner Alemannisch“ in einem literarischen Text. Der Titel des Bandes zeigt sich einerseits als eine Variante der Kontraste, wie sie viele Gedichte der Reduktionen kennzeichnen, darüber hinaus aber spielt der Titel mit einer Zeile aus dem 1877 entstandenen Gedicht „Begegnung“ von C.F. Meyer, den R sehr schätzte. Darin trifft der Sprecher im Wald auf einen jungen Reiter, der sich bei der Begegnung als sein eigenes jugendliches Ich entpuppt. Dort heißt es in der zweiten der fünf Strophen:
Nicht zugewandt, nicht abgewandt,
Kam er, den Mantel umgeschlagen,
Mir deuchte, daß ich ihn gekannt
In alten, längst verschollnen Tagen.
R stellt mit der Aufnahme aus dem Gedicht seines schweizerischen Landsmannes das Hochdeutsche seiner Dichterlaufbahn von mehr als vier Jahrzehnten in Kontrast zur Sprache seiner Kindheit. Das Thema der Beziehung zwischen Mundart und Hochsprache hatte ihn seit längerem intensiv beschäftigt, wie mehrere Aufsätze seit den 70er Jahren belegen. Neben Entwürfen zu den hochdeutschen Gedichten findet sich im Nachlaß ein Notizbuch mit Entwürfen zu den Mundartgedichten, bei dem in den Umschlagblättern Vokabellisten in einer Sprache angelegt sind, die der Autor bei aller Vertrautheit mit den Klangformen früher nie geschrieben hatte.
In beiden Teilen treten auch wieder etwas längere Zeilen auf, es gibt mehrteilige Zyklen und die klaren, rhythmisch akzentuierten Muster der Entsprechungen und Verknüpfungen, bei denen ein Wort das andere spiegelt, erhellt und deutet, sind gleich bestimmend. Doch der Kontrast der Sprechweisen zeigt sich am schärfsten bei mehreren Gedichten mit gleichem Thema. Dem Gebrauch der „lokalen und intimen Variante“ der Sprache entspricht eine kindliche Wahrnehmungsweise, die aber in den Mundartgedichten nichts mit liebenswürdiger Naivität zu tun hat, sondern aus einer von Erziehung und vernünftiger Einsicht noch ganz ungebremsten Direktheit und Kraft der Ängste, der Lüste und der Neugier hervorgeht. Vergleicht man die Zyklen „New York“ und „Neu York“, so sind im hochdeutschen „New York II“ in den Wolkenkratzern Manhattans alle Rituale vergangener Stadtkulturen, alle Spuren menschlicher Bemühung um schöne Ordnung und Dauer zu einem dicht geschichteten Bild eingeschmolzen. In „Neu York II“ dagegen präsentieren die „glänzige Törm“, die den Schauenden in den Himmel heben, ein Bild, das Faszination und Hybris des biblischen Turms von Babel in den einfachsten Worten aufruft.
Bei den Gedichten „Meerkrebs“ und „De Chräbs“ zeigt sich der Kontrast der Ausdrucksweisen am Bild eines Lebewesens. Der Krebs, dessen Vorwärts- und Rückwärtsbewegung vom Licht zum Dunkel später im Abschnitt VIII des Romans Wirbel im Abfluß bildlich breit entfaltet werden, ist in der hochdeutschen Version ein Denkbild. An diese Vorstellung richtet sich eine dieser komplexen Fragen im Konjunktiv, die der Autor so liebt und die abstrakt in die Unvermeidbarkeit des Vergehens im Lauf der Welt einmündet. Das Mundartgedicht dagegen läßt dem ganz als krabbelndes Geschöpf gestalteten Krebs die Hoffnung, er könne der Unausweichlichkeit des Dunkels entgehen und im Zauber der Lichterscheinungen verharren. In den beiden „Escorial“-Gedichten zeigen sich die unterschiedlichen Möglichkeiten der Sprachformen wieder an einem Bauwerk, das in seiner gleichzeitigen Funktion als Residenz des Herrschers und Mausoleum die Engelsburg im Mittelpunkt des Romans Wirbel im Abfluß bekrönt. Das in beiden Gedichtversionen auftretende Naturbild der weißen Falter knüpft eine enge Beziehung. Doch das Hochdeutsche läßt zuvor allein schon mit den Wörtern ,Rost‘ und ,Kohlen‘ die komplexe Beziehung anklingen, die von der literarischen Gestalt des heiligen Laurentius im Zentrum des gesamten Spätwerkes zum Bau des Escorial geknüpft wird. Das Alemannische erfaßt statt dessen in der Vorstellung von „de Glas- / chäschte met ustrochnete / Libere dren“ mit staunendem Blick die ganz konkrete Erscheinung der gläsernen Särge ohne das Netzwerk der Bezüge zum restlichen Werk.
Bei den hochdeutschen Gedichten sind in fast allen Texten die Bildvorstellungen in ihrem Zentrum eng mit anderen Versionen des Bildes in Rs Werk verwoben. So reicht das Eingangsgedicht „Beschwörung I“ mit seiner Vorstellung der Kugel als Abbild des Vollkommenen bis in die Anfänge des Werkes zurück und bis in die letzte Erzählung voraus. Das Gedicht „Stilleben“ schließt so viele Motive früherer Gedichte, aber auch Bildverweise auf die Romane in sich zusammen, daß nur eine Lektüre des Ganzen alle Schichten des Textes erhellt. Die äußeren Formen der Gedichte sind hier vielfältig und reichen von den knappsten Vierzeilern wie bei den Reduktionen bis zu längeren Zeilen und gelegentlich einem Gesamtumfang von mehr als einer Druckseite. Strukturiert werden auch hier die Gedichte wieder von Mustern der Klang- und Wortwiederholungen und -variationen. Diese im Lauf mehrerer Jahrzehnte zum prägenden Gestaltungsmittel entfaltete Kunstfertigkeit dominiert nun genauso beim Wortschatz und den Bauformen der alemannischen Gedichte.
Am Ende von Rs lyrischem Lebenswerk läßt sich ein weiter Weg der Entwicklung durch vier Jahrzehnte überblicken. Am Anfang steht die Nachahmung der Dichter aus der vorangehenden Generation mit ihrem „hohen Ton“ und dem gesucht bedeutsamen Vokabular, und von dort aus bahnt er sich allmählich den Weg zu einer deutlich individuell geprägten Dichtungssprache. Als deren erstes Kennzeichen muß der von der Begegnung mit Rom geschärfte Blick für die palimpsestartige Schichtung und Überlagerung von Stufen der kulturellen Vergangenheit gelten, die in den Brechungen und Spiegelungen von Bildern simultan zusammengeführt werden. Waren anfangs die Gedichte noch erfüllt vom „Mobiliar“ der Überlieferung, so werden sie immer knapper und konzentrierter, je mehr dem Autor die sprachliche Entfaltung der historischen Themen in anderen Gattungen gelingt. Im Zug dieser Entwicklung treten die Wörter der lyrischen Texte zum einen zunehmend stärker in ihrer Funktion als Klangkörper hervor, deren rhythmische Anordnung das Gedicht prägt, zum anderen wächst ihre Fähigkeit zum Verweisen auf inhaltliche Schichten, die selbst unausgesprochen bleiben, aber dennoch präsent werden. In diesem Bereich entwickelt sich das Netzwerk der Bezüge, das Rs gesamtes Werk auf so individuelle Weise als eine umfassende Einheit, als „dieses enorme Gedicht“ zusammenschließt. Am Ende bildet die poetische Einbindung der Kindheitsmundart in die eigene Lyriksprache den Gegenpol zum dichterischen Auftakt mit den Anleihen am Ton der Vorgänger. Auf der Skala seiner Ausdrucksweise ist er nun von „Solang die grosse Tat zu tun unmöglich, / ist Trost den Harrenden zu schaun das Licht“ angekommen bei der alemannischen Version einer Arie aus Mozarts Don Giovanni in: „Muesch doch ned Angscht ha / ech ben be dehr“.
Im „Geschiebe der Wörter und Worte“, das er als seine Obsession bezeichnete, hat Kuno Raeber in der Lyrik seine unverwechselbare Stimme gefunden.
Nachwort
Einst bleibt
von mir nur noch die Stimme.
Du wirst mich in allen
Zimmern suchen,
auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten,
du wirst mich suchen im Keller,
du wirst mich suchen unter den Treppen.
Einst wirst du mich suchen.
Und überall wirst du nur meine Stimme
hören, meine hoch monoton
singende Stimme, überall wird
sie dich treffen, überall
wird sie dich foppen, in allen
Zimmern, auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten, im Keller,
unter den Treppen. Einst
wirst du mich suchen. Einst
bleibt von mir nur noch die Stimme.1
Wenig hätte gefehlt, und diese Stimme wäre nirgendwo mehr zu hören gewesen. Erst seit ein paar Jahren nach dem 20. Todestag ihres Trägers klingt sie wieder kräftiger, reicht sie wieder weiter.
Kuno Raeber, am 20. Mai 1922 in Klingnau geboren, wächst in einer streng katholischen Familie in Luzern auf. 1945 tritt er ein Noviziat bei den Jesuiten an, das er bald verlässt, die katholische Kirche und ihren Glauben mit ihm. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte sowie der Promotion 1950 unterrichtet er 1951/52 an der Schweizer Schule in Rom, lehrt anschliessend am Tübinger Leibniz Kolleg sowie am Europa-Kolleg und lebt seit 1958 als freier Schriftsteller meist in München, aber auch in Rom und in den USA. Am 28. Januar 1992 stirbt er in Basel.
Kuno Raeber veröffentlichte Rezensionen, Reisebücher, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Vor allem aber sechs Gedichtbände, die jetzt alle im ersten Band der Werkausgabe enthalten sind, und vier Romane. Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts begegnet Raeber dem Werk Borges’, an dem ihm wesentlich wird, dass es „die im Gedicht übliche Methode des Assoziierens, der Aufreihung, Durchführung, Variation und Wiederholung von Motiven, Gedanken, Bildern.“2 auf die Prosa anwendet. Zunächst jedoch scheint die Begegnung Raeber in seinem eigentümlichen Lyrik-Verständnis zu bestätigen und zu bestärken. Wie sein lyrischer Nachlass zeigt, der jetzt in einer digitalen Edition3 zugänglich gemacht wird, versteht er seine Gedichte als Zeugen einer sich rhizomatisch ausbreitenden Sprachkultur, in der das einzelne Erzeugnis stets auf das Ganze des grammatischen und rhetorischen Feldes zurückverweist, dem es entstammt. Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, hat keine Gitter.
Was aber von Sammlung zu Sammlung als Abfolge periodischer Verwerfungen erscheint, ist […] Resultat langwieriger, in fast pedantischer Präzision vollzogener Prozesse, deren Aufdeckung […] weit über Raebers Werk hinausreichende Einblicke in das gewähren, was der Dichter mit der Sprache und die Sprache mit dem Dichter macht.4
Wendet man die „im Gedicht übliche Methode“ auf die Prosa an, wendet man sich gegen das Grundgesetz metonymischen Erzählens. Man wendet sich gegen die Maxime, dass die Weltordnung und die Satzordnung einander zwar nicht gleich sein, aber einander ähnlich bleiben müssen. In das Wort, das für die entsprechende Wortfolge steht, bricht mit „Aufreihung, Durchführung, Variation und Wiederholung von Motiven, Gedanken, Bildern“ das Wort ein, das für die Verführung durch ein anderes steht.
Im 1973 erschienenen Roman Alexius unter der Treppe oder Geständnisse vor einer Katze haust der Heilige bei den Hippies in Greenwich Village, sieht und erlebt sich dort als Tiefseetaucher, König Herodes, Johannes der Täufer, als letzter Doge von Venedig und als Spion der päpstlichen Inquisition. Den handelnden Personen entsprechen die Städte, in denen sie handeln, bis alle Entsprechungen von „Motiven, Gedanken, Bildern“ sich zu einem einzigen Ort verdichten, zu „Jerusalem-Babylon-Rom-Byzanz-Venedig-Manhattan“, also zu dem, was Walter Benjamin ein „dialektisches Bild“ nennt.
Wirbel im Abfluss (1989 unter dem Titel Sacco di Roma erschienen) setzt dieses Bild dekonstruierend wieder in Bewegung. Wie der Schaum in der Badewanne hochwirbelt, so wirbeln in der durch die Engelsburg – nicht zufällig ebenso rund wie ein Abfluss – (zer)rinnenden Geschichts-Zeit deren Geschehnisse in „Aufreihung, Durchführung, Variation“ immer hektischer auf, bis sie zeigen, „wie sich eins aus dem andern ergibt, Streit und Versöhnung, Trennung, Umarmung, Widerstand und Ergebung“. Als Schaumkrone.
Das Ei (1981) schreibt die christliche Heilsgeschichte in eine antichristliche Unheilsgeschichte um. Die Muttergottes verfolgt die Passion ihres Sohnes mit Genugtuung und sieht seinen Kreuzestod als gerechte Strafe dafür an, dass er ihrer mütterlichen Zärtlichkeit immer ausgewichen ist. Als man ihr den vom Kreuz Genommenen in den Schoss legt, wird sie vor Glück zu Stein, zu Michelangelos Pieta im Petersdom. Dorthin fällt das Ei, das dem Roman den Titel gegeben hat, „das winzige weisse Ei, das kleiner als ein Hühnerei war […] Es brach auf und brach aus und zersprengte den Schrein und die Kammer und die Treppe und den Altar mitsamt dem Baldachin und den Säulen, zersprengte die ganze Peterskirche […] in Staubpartikel.“ Aber:
Zerstört und zermalmt zu Staub wie die ganze Peterskirche […] kam die weisse steinerne Mutter aus der Explosion von neuem hervor […] Und aus ihren Zügen war ausgetilgt aller Stolz, der Hochmut und der Triumph, womit sie den Leichnam bisher betrachtet […] Mit Wehmut sah sie ihn an.
Das Ei ist ein Auferstehungssymbol. Christus bricht am Ostermorgen aus dem Grab hervor wie das Küken aus dem Ei, das Grab und den Tod wie Schalen zersprengend. Von der Zerstörung zur Heilung, vom Unheil zum Heil. Aber das Ei bleibt zugleich das Symbol der Bombe, der Vernichtung und des Todes. Also gilt ebenso sehr: Von der Heilung zur Zerstörung, vom Heil zum Unheil. Was nun? Wo wäre, wo läge für Raeber das hier ausgeschlossene Dritte?
Aber wir wollten eine
Kugel machen zusammen
geschlossen spiegelnd
und glatt außen woran
der Regen abliefe die Blitze
abprallten und wenn sie zu Boden
fiele rollte sie
unverletzt einfach davon.
Innen aber da wären
Gärten mit Brunnen mit Beeten
voller Rosen da wären
weiche Wiesen und Berge
blau wie von Bassano
und Wälder vor allem
Wälder das Unter-
holz undurchdringlich.
Inwendige Wildnis für dich
und für mich
inwendige Zuflucht
eine Kugel
für dich und für mich
wollten wir machen.5
Eine Kugel, so glatt, so rund, dass sie überall hingelangt, und so fest, dass sie nirgends zerbricht, wohin sie auch fällt. Eine Kugel, so „geschlossen spiegelnd“, dass kein Aussen-Bild ihre inneren Bilder berührt, aber alles Aussen im Spiegel für den Zugriff aus Innen bewahrend. Innen? Gärten – Urwälder. Wildnis – Zuflucht. Ausgesetzt sein – geschützt sein. Reine Gegen-Kräfte, deren Repulsionskraft die Kugel nach aussen hin standhält, während sie zugleich die Empfindung dieses Aussen ins innere Kräfte-Spiel spiegelt. Eine Kugel. Für mich und für dich, mein anderes Ich. Was wollten wir machen? Literatur. – Die Kugel ist die nächste Verwandte der Ellipse.
(Der Verfasser dankt Christiane Wyrwa für ihre Hilfe bei den Recherchen für diesen Text.)
Wolfram Malte Fues, April 2017
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