Die Geräusche verlassen ihre Behausungen,
die Nachbarschaft bewohnt jetzt Lufthäuser, Luftstraßen,
der Sommer überanstrengt sich.
Morgens um neun beginnt die Gluthitze zu arbeiten.
Wer ihr zuschaut einen Tag lang, ist am Abend
halb tot.
Wer sich mehr vornimmt, spricht die Worte:
Ich brauche einen Engel
der mir Kühlung bringt
Flügel
voll
Wind
die schweren Tropfen des Schneeregens – von einfachen, unauffälligen Dingen handeln Kurt Aeblis Gedichte, von auf Spaziergängen zufällig Vorgefundenem: ein laubgelber Gehweg, ein erfrorener Wasservogel, oder von Alltäglichem: die grellen Stimmen der Stadt, der liebevoll zärtliche Umgang der Zugreisenden mit ihrem Mobiltelefon. Doch Aebli sieht die Dinge in ungewohnter Weise neu. Seinem offenen, nichts Bestimmtes suchenden Blick zeigt sich im scheinbar Vertrauten das Unvertraute. Und im Entdecken des noch nie Gesehenen sieht auch der Betrachter sich neu.
Ihren Dreh- und Angelpunkt haben diese Gedichte in der Vergänglichkeit von Welt und Existenz, dem Nichts, das sich zugleich als ungeahnte Fülle entpuppt, als Fülle des Augenblicks, „für den alles sich lohnt“, den aber letztlich doch „kein Wort fasst“.
Edition Korrespondenzen, Klappentext, 2014
– Der Schweizer Kurt Aebli jagt in seinen Gedichten dem Augenblick nach. –
Dass zwischen dem Erleben und seiner Fixierung in Worten ein Spalt klafft, treibt die Schreibenden von jeher um. „Kann ein zeitloser Augenblick des Bewusstseins“, fragt sich der Dichter Charles Simic etwa, „jemals angemessen in einem zeitabhängigen Medium ausgedrückt werden, das heißt in Sprache?“ Oder anders: Wie kann man Bewusstsein mitteilen, den gegenwärtigen Augenblick in all seiner Leuchtkraft, der sich der zeitlichen Ordnung des Satzes eigentlich entzieht? Wie bleibt man dem Augenblickspunkt treu mit dem Nacheinander des Textes? Kann man ihn vielleicht sogar mit der Sprache erzeugen, neu und lebendig?
Der Schweizer Dichter Kurt Aebli hat schon immer ein Faible für das Momenthafte. „Unbemannter Augenblick“ heißt etwa ein Stück aus einem früheren Band mit Miniaturen, der nicht von ungefähr den Titel Ameisenjagd trägt. Allerdings wusste Aebli das Gesetz von Ursache und Wirkung oder die Vorstellung eines hübschen Ablaufs, die in der gewöhnlichen Wahrnehmung bestimmend sind, stets in Frage zu stellen, und sei es mit einer „verbeulten Logik des Vergessens“. Nun tastet er dem Augenblick auf eher vertraute Art und Weise nach. „Das Gesehene mir einzuschreiben“, lautet eine der Aufgaben in seinem neuen Buch, oder auch „das beiläufig Registrierte / flüchtig zu fixieren“.
Doch es sind durchwegs paradoxe Unternehmen, die Aebli aufruft. Der Schreibende ist für das Festhalten des Augenblicks immer schon zu schnell und zu sehr gebunden durch die Abstraktionen der Begriffe. Aebli reflektiert diese Fragen in seinen Gedichten – und findet eine Lösung, die selbst wieder paradox anmutet:
Kein Wort fasst
die Fülle
des Augenblicks.
Nur davon
spricht
das Wort.
Nur das Wort, das davon spricht,
hat seine Sprache
gefunden.
Das ist zwar einleuchtend, aber auch einfach gesagt. Und so gehören jene Gedichte, in denen Aebli über das Schreiben nachdenkt, nicht eben zu den aufregendsten des Bandes. Sein Können entfaltet er indes, wenn er Beschreibungen in metaphorische Wendungen überführt.
Und wenn er sich über all die zuvor fein ausgemachten Widersprüche hinwegsetzt und den Augenblick doch mit seiner Sprache fassen will:
An einem schwülen Tag plötzlich des Teufels
Schneeflocken, schwarzes
Schneetreiben,
surrend und schwirrend, aufgewirbelt
von Pferdeäpfeln am
Waldrand
Vielleicht lässt sich die Suche nach dem Augenblick am besten gestalten, wenn man den Moment an einzelne Erscheinungen bindet, das Komplexe der Welt in einem Gegenstand staut, in einem Lebewesen oder einer Wahrnehmung. Immer wieder holt Aebli solche Einzelheiten in seine Verse, es mag eine Waldschnecke sein oder ein Nachbar, manchmal auch nur das „Knistern im Innern / der Worte.“
Diesen kleinen Verschiebungen lauscht er mit den Wörtern nach und versucht, das eigene Tempo der Geschwindigkeit der Phänomene anzugleichen, bis das Vergehen der Zeit in der Sprache zumindest spürbar wird:
Wenn der Nachbar über mir Blumen gießt,
hör ich, wie das Fallen der Tropfen
langsamer wird.
Jetzt hat es
aufgehört.
Aber der Sprecher dieser Gedichte verfügt nicht nur über ein genaues Ohr, sondern durchstreift auch Landschaften und Städte. So schreibt sich den Gedichten neben dem Takt der Dinge der Rhythmus des Gehens ein, eine Bewegung, die selbständig werden kann, bisweilen meditativ, bisweilen bestimmt von Schleifen und Schlenkern. Ein Staunen über die Welt und das Dasein grundiert die Gedichte, die selbst noch registrieren, „wie jede Berührung des Bodens / durch massive Gummisohlen / hindurch / ein Glücksgefühl auslöst“.
Wo alles in Empfindungsmomente zerstäubt, scheint es auch kein fest umrissenes Ich mehr zu geben, sondern eher nur Partikel, die sich finden, um wieder auseinanderzudriften. Und doch kann gerade das Kleinste Aebli zum Universum werden und für Momente alles enthalten:
wenn ich für Augenblicke
irgendwo
stehenbleibe,
zurückgekehrt
auf die Erde
noch einmal
ganz.
Es ist das Einzelwort, mit dessen Hilfe Aebli die Energie des Augenblicks und das Kraftfeld der Zeit, ihre Staus und Beschleunigungen, einzuholen versucht. Diese Technik ist einleuchtend, bringt allerdings die Gefahr mit sich, die Wörter zu sehr mit Bedeutung aufzuladen. Je reduzierter das Wortmaterial, desto mehr Licht ziehen die einzelnen Sprachteilchen auf sich. Wenn dann auch noch ein Gedanke ausformuliert werden soll, können die Verse schnell etwas Pointenartiges bekommen oder gar zur Sentenz werden:
Die meiste Zeit
machen wir
zu viel:
aber der Augenblick,
für den alles
sich lohnt,
ist immer
der Augenblick
jetzt.
Stark sind Aeblis Gedichte dort, wo er die Gedanken in Bilder einlagert und die Bilder wiederum mit Resten jener absurden Logik versieht, die er in früheren Büchern kultiviert hat.
Und flugs stehen die Dinge auf dem Kopf. „Die Geräusche verlassen ihre Behausungen“, lautet einer dieser verdrehten Sätze, „Jetzt hab ich alles / ins Dünnhäutige / übersetzt“, ein anderer.
An solchen Stellen zeigt Aebli, dass er bei aller Reduktion ein großes Wörterbuch hat. Aber die Intensität seiner besten Verse verdankt sich nicht dem Wortschatz. Sie kommt aus dem Rhythmus und einem fragenden Gestus, dem sogar ein Gedankenstrich zum Anlass für das Gedicht werden kann.
Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 21.5.2014
Beinahe alles ist Reduktion in diesen Gedichten: Stehen, Gehen, Weg, Wald, unbestimmte Natur, nie aber in voller Blüte, überbordend, exotisch gar. Das Gehen, der Weg als Ziel:
Wenn ich lange genug
gegangen bin,
denke ich manchmal,
dass jetzt auch
ich
gehe.
Unterwegs nur karge Zeichen von Lebensregungen wie Bewegung oder Laut:
Ein Glockenton sondert sich ab,
bleibt einsam
in der Luft hängen.
Das einzige
Wort.
Kurt Aebli hat seit den neunziger Jahren Gedichte publiziert; sein jüngster Band erschien Ende des letzten Jahres. Nach der Lektüre der drei ersten Abteilungen der sechs Kapitel beschleicht einen die Vermutung, hier sei ein lyrisches Ich stellvertretend für die hinter ihm stehende Person auf der Flucht, begreife das Gehen und die Natur als Fluchtbewegung und Fluchtpunkt:
Dass ich einmal
das ganze Leben
im Wald gelebt haben muss,
daran erinnert im Wald mich
jeder Schritt.
Auch diese Zeilen mögen den poetologischen Verdacht belegen:
Um einen Ort zu haben,
wo das Gehen
an kein Ende kam,
ziellos gegangen
Jahr um Jahr,
weil das Gehen,
wie es mit mir ging,
das Ende war, der Sinn.
Bevor man indessen endgültig dem Verdacht auf poetischen Autismus nachgeben könnte, stösst man dann auf Verse wie diesen:
Vergleichbar
der Erfindung einer Farbe, die es
noch nicht gibt
Und begreift, dass alle Anstrengung des Lyrikers Kurt Aebli der Reduktion gilt, der Beschränkung auf das Notwendige, soweit es in Worte zu fassen ist, dass er die Wörter, den Sprachschwall, der täglich auf uns einstürzt, das uneigentliche Sprechen von notwendiger Sprache zu trennen und zu befreien sucht. Das gelingt allein in der Kunstsprache des Gedichts:
Kein Wort fasst
die Fülle
des Augenblicks.
Nur davon
spricht
das Wort.
Nur das Wort, das davon spricht,
hat seine Sprache
gefunden.
Es geht also auch um das Verhältnis von Sprache zur Wirklichkeit, ein altes philosophisches Problem. Aebli löst es, wenngleich nicht in dogmatischer Unbedingtheit, für sich zugunsten der Sprache und spricht damit wahrscheinlich so manchen PoetInnen aus dem Herzen:
Dinge, die erst wirklich
sind
wenn einer
das Wort dafür findet.
Gehen, im Freien unterwegs sein: Das spielt in den jüngsten Gedichten von Kurt Aebli eine grosse Rolle. Im Gehen lässt sich gut beobachten und nachdenken, unterwegs lässt sich auch imaginieren, wie es einem ergehen muss, der nicht verstanden wird, der sozusagen anders unterwegs ist und darum nicht „ankommt“: Im Holzschlaggebiet sind zwei „Helmträger“ zugange, die sich mit wenigen Silben verständigen, und das beiläufig mithörende Ich malt sich aus, wie diese beiden eines Tages einen antreffen, „der dunkel / Zusammenhängendes // atemlos / von sich gibt und den kein Arzt / mehr heilen wird“. Schlüsse zieht er keine, in eine Pointe lässt Kurt Aebli das Gedicht nicht münden. Er konfrontiert mit wenigen Worten zwei Arten der Verständigung.
Dunkles ist in den Gedichten des Bandes Tropfen nicht zu finden, wohl aber eine intensive Suche nach verlorenen Zusammenhängen, die oft erst durch eine Blickverschiebung zu erkennen sind. Die Suche führt das lyrische Ich auch dorthin, wo es scheinbar nichts zu finden gibt:
Bildschirme, auf denen ich sehen kann,
wie ich, Rolltreppen hinauf und
hinunter, durch das
Warenhaus mich bewege, unwirklich
im Gedränge,
Zweibeiner,
Langfinger,
flimmernd
im Innern des Gebäudes,
das wie ein Staubsauger
anzieht: verwehte
Partikel der Stadt.
Die kleinen und kleinsten Ereignisse des Alltags finden Eingang in Kurt Aeblis Gedichte. Winzige Momente, verstörende Beobachtungen. Gedanken, die nicht zu trennen sind vom Augenblick eines Erstaunens – und die auch darum erstaunen, weil sie sich dann doch nicht ohne Verlust in Sprache überführen lassen. „Kein Wort fasst / die Fülle / des Augenblicks“, heisst es einmal. Bei der Suche nach der kürzestmöglichen Fassung, die sich einem Gedanken oder einer Beobachtung geben lässt, kann die Sprache buchstäblich leicht aufgeladen werden mit einer grossen, zu grossen Fracht. Natürlich lauert hier die Gefahr der Sentenz, der Weisheit, der man gerne und schnell zustimmen kann, aber vor dieser Falle bewahrt Kurt Aebli seine Gedichte, indem er in ihnen einen möglichst beiläufigen Ton anstimmt. Nur selten noch schlägt er Haken, wie er es in früheren Gedichten gerne getan hat. Paradoxien werden kaum mehr ins Surreale verlängert und so ins sprachliche Bild eingeschmolzen, sondern sie bestimmen den Duktus, sie brechen die Verszeile, bringen das Gedicht mit Absicht zum Stottern. Die Irritationen des Alltags irritieren im Text, sie werden dort erst sichtbar, und Aebli erreicht das mit kleinen, feinen lautlichen oder rhythmischen Verschiebungen. Daraus entsteht eine unaufdringliche, präzise und vergnügliche Wahrnehmungskunde.
Barbara Zeizinger: Verharren eröffnet Räume
fixpoetry.com, 19.6.2014
Hendrik Jackson: mit Nichts, ohne Ton
signaturen-magazin.de
Roland Merk: Kurzkritik Kurt Aebli: Tropfen
literarischer Monat, Ausgabe 19, Dezember 2014
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