Kurt Drawert: Frühjahrskollektion

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Kurt Drawert: Frühjahrskollektion

Drawert-Frühjahrskollektion

JUST NOW, 99 AM ENDE

Die elektronischen Tage verbrennen jetzt besser,
was früher einmal Geschichte genannt war
und am Ende herumlag als gefrorener Auswurf
von Hunden. Vorbei die Entsorgungsprobleme,

die Entlassungszwänge, die Überstunden
der Müllabfuhr. Jetzt wird das alles ganz anders
geregelt, indem gar nicht mehr vorkommt,
was Schmutz macht. Ein Klick zum nächsten

Internet-Nachbarn, dann ein paar Links
Richtung Körper, und alles bleibt sauber
und unangetastet in der kritischen Zone
zwischen Hüfte und Knie. Wenn das Lenin wüßte,

so viel Fortschrittsmasse im allgemeinen.
Auch er so etwas wie Restbestand,
nicht leicht in den Comic zu kriegen,
reaktionär auf der ganzen gescheiterten Linie.

Aber nun Schluß damit, diese Kindheit
im weinenden Auge Gottes ist ja doch überlebt
fast ohne Schaden, meinerseits abgehangen,
wie geräucherte Schweineärsche.

Doch andererseits, die Kriege sind ernster geworden,
härter, vor den Sparkassenschaltern,
das muß ich sagen. Ein Blick auf den Kontoauszug,
und ich weiß, ich lebe kopfunter. Dann die Briefe,

die schon zu riechen beginnen, von den Fußnoten
aufwärts und wenig virtuell, leider.

 

 

 

Kurt Drawerts Gedichte

sind Zeugnisse einer unbestechlichen, außerordentlich präzisen Sicht auf die Dinge. Sie fragen nach unserem Herkommen, ziehen nüchterne Bilanz und verweigern sich nicht dem vernunftlosen Träumen. So findet sich die Klage über Versehrungen neben der Feier des Schönen im Gedicht, das immer auch nach der eigenen Bestimmung und dem Sagbaren fragt. „Es gibt viele schöne Dinge / für ein Gedicht, die ein Gedicht / nicht mehr brauchen, / weil sie schon schön sind“, heißt es etwa, und weiter: „Aber immer, zwischen den Zeilen, / bleibt etwas übrig“. Gelassenheit ohne Selbstgewissheit zeichnet die Texte aus, die eine Bewegung des Suchens beschreiben und scheinbar gesicherte Antworten in Frage stellen. Der Vielfalt an poetisch verarbeiteten Sujets, in denen sich kultur- und gesellschaftskritische Themen mit individueller Erfahrung verbinden, entspricht der Formenreichtum dieser Gedichte. Er reicht vom strengen Metrum mit Reimbindung bis zum elegischen Langvers, vom Lakonischen bis zum Narrativen, vom „klagelied (barock)“ bis zum Rollengedicht. Dass Ironie und Selbstironie immer wieder in den Texten aufblitzen, ist gewiss ein neuer Ton bei diesem Autor, der als Lyriker begonnen hat, sich aber längst auch als Prosaautor, Dramatiker und Essayist einen Namen gemacht hat. Die drei Kapitelüberschriften geben eine Andeutung von dem weiten thematischen Bogen, den die Liebesgedichte, die Reisegedichte, die Gedichte über Städte und Reservate der Natur innerhalb eines komplexen gedanklichen Unterwegsseins spannen: „Ich liebe Industriegebiete“, „Die Engel der Landstraße“, „Geld & Gedichte“.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2002

 

Unmittelbare Gegenwart und ein Hauch von Transzendenz

Manche Gedichte suchen sich die zu ihnen passende Gegenwart; umgekehrt sucht sich die jeweilige Gegenwart wiederum die zu ihr passenden Gedichte. In den seltensten Fällen geschieht es, dass die Gegenwart im Gedicht mit der gesellschaftlichen Gegenwart außerhalb des Gedichts zusammentrifft, ohne dabei in bloße Konformität oder Affirmation einzumünden.
Die Gedichte aus Kurt Drawerts Frühjahrskollektion sind Beispiele dieser seltenen Art gleichsam verdoppelter Gegenwart. Dies ersieht man schon am Titel, der den kommerziellen Verwertungszusammenhang einer Jahreszeit und die Absicht des Autors, zum Frühjahr eine lyrische Sammlung „auf den Markt zu bringen“ selbstironisch in eins setzt. „Die leichte / Lektüre, in leichte Träume verpackt, / das leichte Gefühl, wenn sie leicht / wieder endet. … Fast so wunderbar leicht wie der Schritt, / wenn man aufsteht und kündigt“, lesen wir in dem Gedicht „Leicht“, wo er die von der Bewusstseinsindustrie gepriesene Leichtigkeit des Seins konsequenterweise ad absurdum führt: In Drawerts Gedichten herrscht die unmittelbare Gegenwart – z. Bsp. Magenspiegelungen, Fitnessstudios oder auch elektronische Simulationen der Natur. Jedoch erliegt er der Gegenwart nicht. Immer ist da ein Anflug von Transzendenz, der die Gedichte gleichzeitig ihrem jeweiligen Zusammenhang zu entziehen und andere Möglichkeiten des Daseins, so unwahrscheinlich sie auch seien, wach zu halten vermag. Ein Beispiel dafür, dass Baudelaires vorüberhuschende Passantin in den Köpfen heutiger Lyriker noch immer spukt, bietet „Kontakte“:

Ich sah sie, hinter den Scheiben,
sprechen, sah, daß sie allein war,
und daß sie mich nicht sah,

und sprach. Hinter ihrem Fahrzeug,
am Straßenrand,
zwei zueinander geneigte,

sehr nackte Platanen,
dahinter die tote Fabrik,
darüber der Mond,

etwas gesplittert vom Winter.
Dann fuhr ich weiter,
und ich fuhr lange ohne Erinnerung hin.

Die Fahrtstrecken jedoch, an denen die Erinnerung des Dichters zu Wort kommt – Erinnerung nämlich an zurückgelegte Reisen, u.a. an die französische Atlantikküste, nach Polen oder durch Russland – gehören zu den schönsten von Drawerts Kollektion. Wie schon in Marcel Beyers Erdkunde und Dieter M. Gräfs Westrand, so kommt auch bei Drawert dem Reisen eine neue lyrische Bedeutung zu, die dem Schwinden der Entfernungen, den neuen geopolitischen Verschiebungen (bei Beyer am deutlichsten durch die „ostwärts“-Route dokumentiert), den Unschärferelationen zwischen Nah und Fern, Fremd und Vertraut in der Gegenwart Rechnung trägt. Innerhalb einer Verszeile legt sein Blick mitunter Zusammenhänge dar, wie sie außerhalb der Poesie nur umständlich wiedergegeben werden könnten, etwa, wenn er die Beine der „Engel der Landstraße“ (gemeint sind die Prostituierten an der deutsch-tschechischen Grenze) als „ein geöffnetes Sparbuch“ bezeichnet, „das sehr scheue Männer / im geilen Licht ihrer Autos / wenden und wenden.“ Unübertroffen seine „Feldpostkarte“ aus der Gegend „Südlich von Arcachon“ – da ist kein Wort zuviel gesagt, da wird keine Behauptung unangezweifelt in Zeilen gesetzt angesichts der kaum wiederzugebenden Simultanität von Dünen, Meer, Trümmern des Atlantikwalls und eines menschlichen Zwiegesprächs:

… kurz danach ist immer alles schön,

ich weiß nicht, wer das gesagt haben wird,
wir haben zu viel gelesen und zu wenig gesehen,
andererseits, wir haben zu viel gesehen und zu wenig
berührt…

Es ist müßig, bei einem Autor, der hier seinen dritten Gedichtband vorlegt, darauf hinzuweisen, dass er eine unverwechselbare dichterische Stimme besitzt. Natürlich sind es die Anklänge an Krolow oder Brinkmann oder „William Carlos Williams / zum Beispiel“ (den nennt er selbst), oder den polnischen Freund Zbigniew Herbert, dem ein Gedicht gewidmet ist, die in den Sinn kommen und die Drawert selbst wohl als letzter verleugnen würde; denn woher immer seine Anregungen auch stammen mögen (man schaue sich weiter dazu die Gedichte „Letzte Tage in Bordeaux“ und „Don Alfonso“ an), er transponiert sie, respektvoll und eigensinnig zugleich, in seine persönliche Tonart (und wie virtuos und vielstimmig die sein kann, zeigen gerade die Gedichte des letzten Kapitels). Die Dinge beim Namen zu nennen und ihnen dennoch keine Gewalt anzutun, die Zustände klar zu konturieren und sie dennoch offen zu lassen für mögliche Überraschungen – das ist Drawert, at its best, wie hier in folgendem Liebesgedicht:

Ich wollte noch sagen, ich liebe dich,
glaube ich,
sehr,

aber da war mir der Hörer
schon aus den Händen und auf die Kacheln
des Bodens gefallen.

Doch ich mochte es,
dir in der Ferne näher zu sein
als in der Nähe die Ferne zu spüren,

hob das Telefon auf und versuchte
das alles, alles noch einmal.

Jan Volker Röhnert, titel-magazin.de, 2002

Höhenflug ermüdeter Vögel

– Kurt Drawerts Frühjahrskollektion. –

„Dass die Gewichte nicht stimmen, / ahnte ich früh, die Gewissheit, / in einem Finale ohne Finale zu leben, / der Geruch des falschen Jasmin“, heisst es in „Rückblick, vierzigjährig“, geschrieben vor fast genau sechs Jahren. Eine Lebensspur auch dieses Gedicht, was nicht zuletzt die Ortsangabe Rom beweist, an anderer Stelle Widmungen, Datierungen, tagebuchartige oder ironische, nur bei Kenntnis der Kontexte verständliche Anspielungen: „Den Abflug nicht geschafft, das soziale Netz zerrissen, die Liebe vorbei, die Worte verstummt“, berichtet da einer, der „viel herumgekommen“ ist, „auch abwärts“, der weiss, „Keiner geht verloren / im Adressbuch / des Staatsbeamten“.
In seinem jüngsten Gedichtband, Frühjahrskollektion, sichtet Kurt Drawert die Bestände der letzten Jahre, zögerlich, zweifelnd, melancholisch. Doch wer ist dieses Ich, das hier einmal mehr versucht, in Sprache zu fassen, was die beschädigte Sprache gerade noch zulässt? Jedenfalls einer, der am Rande sich findet. Das lyrische Ich dieser Gedichte kennt die zweifelhaften Segnungen von Literaturpreisen genauso wie die Sozialhilfe („ich stehe im brockhaus / und lebe von stütze“), die Niederungen ärztlicher Untersuchungen („Koloskopie“) wie die lichten Nachklänge des Guten-Wahren-Schönen („Ihr stolzen, liebenden Schwäne – // jetzt liegt ihr aus Glas und in Scherben“). Und der elegische Ton hält stets bewusst, dass in jedem Moment das Andere, Nichtsagbare, Hoffnung und Tod möglich sind. Gerade solche Selbstreflexität und Distanz macht diese Dichtung zeitnah („Die elektronischen Tage verbrennen jetzt besser, / was früher einmal Geschichte genannt war“), weil sie nichts festschreibt, nicht Recht haben will, keine Souveränität vorgaukelt. Nur eines will dieses Ich (und Drawert hat es in seinen Essays, seiner Rede zum Uwe-Johnson-Preis oder in Gesprächen auch theoretisch bekundet): Wahrhaftigkeit. Dieses Ausgesetztsein kann bis zur Grenze des Peinlichen gehen, und – es lässt das Schreiben zum Risiko werden. Das ist die Währung, mit der der Dichter bezahlt. Durchaus auf den Knien seines Herzens („Herz“, dieses merkwürdig alte, doch immer wieder scheu gebrauchte Wort) sind diese Gedichte dargebracht, auch wenn dieses Ich weiss:

aus den Herzen der Texte
wird keine Sendeminute
mehr herauszuschneiden sein

Schreiben heisst sich selbst lesen. Ein solcher Leser seiner selbst und seiner Mitwelt ist auch dieser Autor, dessen Biographie zwischen Ost und West, zwischen Entfremdung und Ursprungssuche in allen Texten herauszuhören ist. Gleichzeitig sind diese Texte auch Beweis, dass nicht das Ungenügen an einem – egal welchem – real existierenden System den Schriftsteller in die Gegenposition zwingt, sondern Selbst- und Sprachzweifel. Ganz besonders gilt dies für Gedichte, die zu artikulieren suchen, „was über die Ränder der Brauchbarkeit fällt“. Grenzgänge, auch in den Gattungen, Prosa von feinsten lyrischen Schwingungen, Lyrik, parlierend im Gestus, kunstvoll in der Ausführung. Immer wieder sind Verbündete zu hören: Rilke, Hölderlin, Benn, Benjamin, William Carlos Williams, Ingeborg Bachmann, Wilhelm Müller, Eichendorff. Doch Erlösung kommt von Literatur nicht („Die Krankengeschichte des Schreibens / die Niederlagen, die grosse Zwecklosigkeit“), es sei denn die Hoffnung, dass in dieser Verzweiflungsarbeit, den fortgesetzten Lebens- und Schreibfrakturen in letzter Sekunde eintrifft, „was von Anbeginn / versprochen worden war“: das gesuchte und gefundene Wort. In drei Zyklen präsentiert uns Drawert ein Triptychon der Vergänglichkeit, dessen zögerliche Botschaft im Widerspruchspotenzial der Texte selbst sich findet und dessen Sinn sich erst enthüllt, wenn man die Gedichte als ein fortgesetztes journal intime liest. Leitmotive, Bilder, Anspielungen wachsen von Gedicht zu Gedicht. Vögel, Engel, Landschaften und Dämonen des Alltags – sie sind die Bilder, die gelernt, aber auch wieder vergessen werden müssen. So entwickeln die Texte eine eigene Dynamik, finden Mut zu alten Formen und grossen Themen, wenn auch ironisch gebrochen. Denn „was uns mürbe und klein macht / ist die Belanglosigkeit unserer Tage“. Weil aber Dichtung, wie der Autor in einem noch in der DDR geführten Gespräch sagte, gerade dadurch sich erneuert, „dass es aus einer Übereinkunft mit dem Bekannten hervorgeht, aus dem es dann seine Wertmassstäbe bezieht“, lesen wir in Drawerts neuerlichem „Privateigentum“ neben den Registraturen unserer Wirklichkeit und mehr noch unseres Wirklichkeitsverlustes auch Liebes- und Erlebnisdichtung von wunderbarer Zeitenthobenheit und Schönheit. Solche „Idyllen, rückwärts“ sind keine Nostalgie, eher Kassandrarufe angesichts unseres vermeintlichen Fortschritts. Dennoch, aus solchem „Abfall“, aus Schreckenswörtern wie „leicht“, aus den von der Werbeindustrie okkupierten Träumen steigt Phönix, und „Rettung, / wenn überhaupt, / kommt von den Fehlanzeigen“. „Kurz vor der Selbstabschaffung“ also immer noch „die Sehnsucht nach einer Botschaft“. Es sind die Gedichte selbst, die diese Hoffnung bezeugen. Wer heute dem mühsam gefundenen Wort trotz allem vertraut, muss weiterschreiben.

Iris Denneler, Neue Zürcher Zeitung, 30.4.2002

gelesen

Kurt Drawerts Gedichtsammlung Frühjahrskollektion besteht aus drei Teilen mit den Untertiteln „Ich liebe Industriegebiete“, „Die Engel der Landstraße“ und „Geld und Gedichte“.
„Vögel“ bilden den Auftakt zur Frühjahrskollektion. Doch wer mit sonniger Poesie zum Lenz rechnet, erhält gleich zum Auftakt eine Lektion: Die sonst so lustigen Zwitscherer und Flatterer sind „durchgedreht“, denn die Zukunft des Landes sieht weniger rosig aus: „mit einigem Abstand betrachtet, / erwarten uns härtere Zeiten, / windig.“ Das „Pfeifen“ der Vögel wird zeitweilig gar zur Tortur, nämlich als Tinnitus im Ohr des überforderten Menschen, als Begleitmusik zum technisch-digitalen Abstieg in die Hölle (Idylle, rückwärts).
Drawert vertrat stets die Meinung, dass selbst lyrische Texte Härte enthalten sollten, da die Wahrheiten des Alltags ja doch immer noch ein wenig schlimmer seien. In einem Interview erklärte er einmal: „Wäre die Tagesschau ein Theaterstück, käme dessen Autor vermutlich in Zwangsverwahrung wegen paranoider Wirklichkeitsdeutung.“ Der Leser der Frühjahrskollektion ist also vorgewarnt: Warm anziehen, nicht nur für den Jahresbeginn; am Ende der Sammlung werden Raben in einem „Wintergedicht“ krächzen.
Geflügelte Begleiter sind übrigens Dauergäste in Drawerts Gedichten. Oft resigniert, geben sie sich untreu, scheinen nicht bleiben zu wollen, und doch: Ob Engel oder Vögel, stets sind sie präsent, ein permanentes memento mori („Engel“, „Mahnung der Engel“, „Wunder“ etc.). Ihr Auftreten ist, wie man sich denken kann, kein Zufall. Vögel oder Engel gelten vielfach als Abbilder der Seele. Apollo, der Musenführer, ist häufig auch Seelenführer und wird von Vögeln begleitet. Drawerts so eingängig unseren Alltag treffende Gedichte bedienen sich nämlich nonchalant und sicher aus einem klassischen Bildungsfundus.
Des Dichters Seele taucht während einer Darmspiegelung wieder auf. Aus der hoch technisierten Untersuchung wird plötzlich eine metaphysische Reise: Unversehens ruft Drawert ein Bild aus barocken Emblembüchern wach, auf dem ein Skelett in der Wildnis sitzt, während die in seinem Brustkorb eingesperrte Seele hinter den Rippenstäben zu Gott um Befreiung aus dem sterblichen Körper fleht. Drawert sinniert

in diesem Knochengitter,
wenn je und überhaupt des Menschen
letzter Grund die Seele ist,
dann muss sie hier von Schleim
umhüllt in einem Winkel liegen

In diesem Moment entfernt der Arzt etwas mit seiner Zange… („Koloskopie“).
Oft gibt sich der gegenwartsgeplagte Poet müde und voller Wehmut; Vergänglichkeit und verflossene Lieben belasten ihn. Manchmal jedoch kehrt kraftvolles Leben zurück. Es manifestiert sich in kompromissloser, mitreißender Leidenschaft („Traum der Verführung“) oder in Reiselust, die Drawert in andere Länder führt. Insbesondere Polen ist ihm ans Herz gewachsen. Immer wieder führt ihn die Landstraße seines Lebens dorthin, nach Görlitz, Krakau oder in die Karpaten – „Europäisch betrachtet, / vorwiegend Neuland. […] Goethe war nicht hier, / oder Humboldt“ („Die Beskiden“).
Doch der Großteil der modernen Alltagsgehetzten hat keine Zeit für derlei Reflexionen und ist bemüht, Schwächen zu tabuisieren. Hyperaktiv und zwanghaft glücklich agiert im Fitnessstudio „eine Horde unsterblicher Körper / im prallen Stoff eines T-Shirts“ und wird schließlich, „getrieben von einer Lust auf gar nichts“, „Gott / in einem Überraschungsei finden“ („Fit for fun“). Drawert trifft mehrfach die Oberflächlichkeit einer Light-Gesellschaft ins Mark, in der die Kriege, die Liebe, die Lektüre und die Kündigungen gleichermaßen seicht präsentiert werden („Leicht“). Spätestens seit Erscheinen seines bitterbösen Stücks Steinzeit 1999, das eine neurotische Konsumgesellschaft bloßstellt, sollte man mit seinem Potenzial für Sarkasmus rechnen.
Auch die Rolle des Autors wird selbstironisch reflektiert. Erst vor wenigen Jahren wurde er mit allen wichtigen Literaturpreisen überhäuft, jetzt nur noch mit Rechnungen, lästigen Anrufen und ungeöffneten Briefen, „die schon zu riechen beginnen, von den Fußnoten / aufwärts und wenig virtuell, leider“ („Just now, 99 am Ende“). Über das Schicksal eines Lyrikverfassers tauscht er sich mit anderen Dichtern und Literaten aus, etwa mit dem inzwischen verstorbenen polnischen Schriftsteller Zbigniew Herbert: „Denn er war uns im Kopf, / der Osten, dieser Krieg der Sprache gegen die Sprache“ („Zbigniew Herbert“).
Ein anderes Mal trifft und zitiert er bei Karstadt Walther von der Vogelweide. Wo der mit einem Lehen beglückte Minnesänger jedoch über Gnade, Reichtum und Ehre philosophiert, setzt Drawert dessen Reichston folgendermaßen fort: „ich stehe im brockhaus /und lebe von stütze, / versprochen war vieles / geblieben ist grütze“ („klagelied [barock]“). Walther erhielt noch ein Lehen. Drawert wurde „erst heiliggesprochen, / dann abserviert“. Dennoch stellt er die Armutszeugnisse an unsere Gesellschaft diskret und mit viel Nachsicht aus. Seine (Wieder-)Entdeckung könnte man mit der Frühjahrskollektion beginnen.

Daniela Tandecki, Die politische Meinung, 2002/2003

Überschüsse, Symptome, Mythen

– Andere Tonart. Zwei neue Gedichtbände von Durs Grünbein und Kurt Drawert. –

Die Genieästhetiken des Sturm und Drang und der Frühromantik konnten den Jugendwahn so nachhaltig in die literarischen Debatten zumal in Deutschland implantieren, dass über Reife und Gewicht eines lyrischen Werkes gemeinhin und günstigenfalls erst dann gesprochen wird, wenn die Zeit der Altersehrungen und Reprisen gekommen scheint. Nachdem die Hölderlinie der Lebenshälfte überschritten ist, sind wohl für den Dichter, die Dichterin Zwischenbilanzen zu ziehen und Feinjustierungen vorzunehmen, den sekundärmythengestützten Hunger auf jeweils neue poetische Medienlieblinge können sie kaum mehr erfüllen. Manchmal allerdings gibt die Literaturgeschichte dann doch dem Stimmendruck nach, und so lässt sich mit einiger Gewissheit sagen, dass seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre insbesondere Autorinnen und Autoren, die heute zwischen fünfunddreißig und fünfzig sind, das Gewicht der deutschsprachigen Gegenwartslyrik entschieden mitbestimmt haben. Und dabei sind die beiden neuen Gedichtbände von Kurt Drawert und Durs Grünbein schwerlich zu unterschlagen. Sie laden zur parallelen Lektüre ein. Die bietet sich nicht zuletzt deshalb an, weil beide Autoren in Dresden aufwuchsen, bis 1989 in der DDR – Grünbein in Ostberlin, Drawert in Leipzig – verblieben, dann aber über Wohnortwechsel und Reisen sahen, dass sie Land, sprich: neues poetisches Terrain gewinnen konnten. Wiewohl sie poetologische Grundaufmerksamkeiten, Sehweisen und Stil in den achtziger Jahren entwickelten, haben sie sich in den Neunzigern auf eine Weise in die literarische Öffentlichkeit eingeschrieben, die Respekt abverlangt, nicht zuletzt wegen des in ihren Essays zutage tretenden ästhetisch-philosophischen und politischen Reflexionsvermögens. Die tiefenscharf verarbeiteten Erfahrungen des Systemwechsels boten den Vorteil eines stereoskopischen Blicks auf die westlichen Gesellschaften. Dieser Blick bündelt das Erbe der europäischen Aufklärung noch einmal zu einem bedrängenden Fragen nach Möglichkeiten humanen Verhaltens in einer von Entwürfen leergeräumten Welt. Und beide beharren auf einem Trotzdem des Gedichts: Das titelgebende Schlussgedicht „Erklärte Nacht“ hebt bei Grünbein mit dem Understatement an:

Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle.
Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil.
Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen.
Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.

Kurt Drawert hat das Gedicht in einem durchaus emphatischen Sinne essayistisch als „Generator“ und Kommunikat zugleich beschrieben, er betont die dialogische und existenzielle Dimension des Poetischen: Das Gedicht qualifiziere sich „durch einen permanenten Überschuß an Energie, und sein Sinn kann demnach auch nicht der Stoff sein, den es aufgenommen und ausgebreitet und verarbeitet hat; sein Sinn kann nur jener Überschuß sein, den es zu produzieren imstande ist.“
Das Besondere an den Gedichten von Kurt Drawert war es stets schon, dass er diesen Überschuss einem Material abgewinnt, das oft aus vorgestanzten Bildschablonen, von inflationärem Gebrauch verschlissenen Wortmünzen, aus defekten Satzfertigteilen besteht. Wenn schon der der Modebranche entlehnte Bandtitel Frühjahrskollektion stutzen lassen sollte, so liefert eine Gedichtüberschrift wie „Der Wald. Katalogtext und Ausstellungshinweis“ in der – merkwürdig genug – Abteilung „Ich liebe Industriegebiete“ Fingerzeige, bereits der klassischen lyrischen Sprecherinstanz des „Ich“ nicht allzu sehr über den Weg zu trauen. Damit ist das Distinktionsvermögen des Lesers angesprochen, den Text hinter dem Text erschließen zu können. Es entstehen semantische Wirbel, Irrläufer oder Ausschließungskonstellationen. Die Bewegung der Verse wird durch Enjambements aufgehalten, durch Wiederholungsfiguren in die Schleife gezwungen, durch Metaphern geteilt, durch sarkastische Pointen synkopiert, durch Imaginationen vervielfacht. Das ist raffiniert gemacht und gleicht nicht selten einer Wildwasserfahrt mit Stromschnellen und Untiefen. Eine Kostprobe aus dem Gedicht „Keine Zeit“:

Mit dem Land
ginge es abwärts, heißt es.
Kein Fußball, kein Tennis,
das durchzieht, es ist die reine
Aussicht auf gar nichts.
Jemand kratzt an der Haustür
und will, daß ich öffne.
Es kann nur der Tod sein
im Anzug eines Handelsvertreters
mit Rabattangeboten. Er stielt
Augenblicke und verkauft sie
als Uhren.

Besonders in den längeren poetischen Landnahmen (keine Reisegedichte, auch wenn Ortsangaben auf Krakau, Bordeaux, Arcachon verweisen) beweist sich Drawerts Fähigkeit, das geschichtlich Bedrängende in der Textur des scheinbar diaristisch Flüchtigen zu verdichten, so man zu lesen versteht. Drawerts tiefschwarzer Humor ist von einer ansteckenden, aberwitzigen Fröhlichkeit, die nach innen blutet. Das Eingeklemmtsein in industriell gefertigte Bilder und Töne, die Einspeisung fast aller Gebrauchs-Gegenstände einschließlich der Restnatur in pure Warenkreisläufe – „Der Wald, im schweren Grün / seiner Innenausstattung“ – wird in den verheerenden Konsequenzen um so deutlicher, wenn Mythen- und Utopiesplitter zitiert werden, wie im Aufrufen der „Engel“:

Nur, dass diese entlassen und nun selbständig sind,
ihr Geschäft nicht mehr im Himmel,
sondern im Erdreich betreiben
und hauptsächlich, hauptsächlich
Honorare einklagen. Neu auch ihr Parfum mit dem Duft
nach Schwefel und Pech.

In einem anderen Gedicht erscheinen sie als „Engel der Landstraße“, „die Frauen auf der E 55, / der Hauptstadt Europas / und des Erbarmens“. Doch vernehme ich in berührenden Porträtgedichten für Alfred Gruber und Zbigniew Herbert oder in romantiknahen Stillleben im letzten Drittel des Bandes auch andere Töne einer seltenen Ruhe im Unbehausten. Kurt Drawert muss im neuen Band die DDR-geprägte Herkunftsfremdheit eines Angehörigen der „Kaspar-Hauser-Legion“ nicht mehr so explizit thematisieren wie in früheren Bänden, um neue Heimatlosigkeit zu begründen. Als einen „Deserteur“ bezeichnete Walter Hinck ihn in einem Rundfunkgespräch, der sich von keiner der reichlich zuhandenen Vereinnahmungstechniken affizieren und sich den Blick auf die vor aller Augen sich vollziehenden Auflösungsprozesse von Gesellschaft nicht verkleistern lasse. Der große alte Matador der Germanistik verstand dies als Auszeichnung.

Peter Geist, der Freitag, 22.3.2002

Kurt Drawert: Frühjahrskollektion

Seit dem Erfolg seines Gedichtbandes Privateigentum (1989) hat Kurt Drawert viele Preise erhalten, für seine Zeit-Mitschriften, aber eben auch für seine Lyrik (Wo es war, 1996).
Sie spricht von der Zeit und in die Zeit, ohne im engeren Sinne politisch zu sein. Es gelingt Drawert immer wieder, Bilder zu finden, die sofort einleuchten, man staunt, daß es sie nicht längst schon gab. Höchst ironisch spielt zum Beispiel ein Fische-Gedicht die Mißgunst der Menschen nach und stellt den begrenzten Horizont bloß, innerhalb dessen die miesen Gefühle wachsen:

Kaum auf den Weg gekommen,
drehen sie ab mit gewinkelter Flosse,
gekränkt von den Maßen des Beckens.

Die enge Gefangenschaft läßt das Heraufgeholtwerden mit dem Fangnetz als Erlösung, als Weg in die Freiheit erscheinen. So wird die berühmte Parabel von Kafka („Kleine Fabel“) noch einmal und neu situiert: Man täuscht sich über die Auswege. In drei größeren Abteilungen stellt Drawert seine neuen Gedichte vor. Sollte man sie vergleichen (kein Autor liebt das), könnte einem Enzensberger einfallen: locker und hart zugleich im Ton, oft sarkastisch, souverän in den Formen, rhetorisch inspiriert, gelegentlich auch „gewöhnliche Reime“. So spielt ein längeres Gedicht die pseudo-beruhigende Rede von „leicht“ durch (man darf nie zugeben, daß etwas „schwer“ fällt) und sammelt Lebensverluste mit diesem Wort ein. Realistisch schlechte Laune demonstriert auch das „Wald“-Gedicht, das sich, vom Waldsterben motiviert, als „Katalogtext und Ausstellungshinweis“ vorträgt. Die Natur hat sich endgültig ins Buch geflüchtet, nicht eben ein Trost. In „Stiller Sonntag“ kehren die Vögel ermüdet von ihrer Reise in die Seite des Buches zurück, „von der aus sie einmal weg- / und davonfliegen wollten“. Ihre Botschaft, der Himmel sei nicht (mehr) begehbar, läßt sich gewiß auch verallgemeinern. Ebenso der Angriff auf die Stille, welchen die Kaufhausmusik bedeutet:

Es ist anstrengend, von Tönen
belästigt zu werden,
die man gar nicht eingekauft hat.

Ähnlich streng werden die Engel vermahnt:

Immer öfter fehlen die Engel,
wenn wir sie brauchen,
oder sie sehen nichts mehr,
wissen nur noch mäßig Bescheid.

Die Erfahrung mit unserem neuen Alltag verführt zu dem Schluß:

Es stimmt, daß sie entlassen
und nun selbständig sind

– Lyrik ist immer, einer alten Formel zufolge, eine Mischung von Ahnung und Erinnerung. Sehr genau geht das hier auf, wenn Drawert die in der DDR noch sehr lange sichtbaren Kriegshinterlassenschaften ausstellt und ihnen eine gewisse Zukunft zuspricht; wenn eine Fahrt mit dem Transsib (mit implizitem Gruß an Helga Novaks Legende Transsib) in Gegenden führt, „wo das Blut der Revolutionen / in die Ströme der Landschaften abfließt“. Eine bedeutsame Rolle spielt Polen in vielen Gedichten, nicht zuletzt im Bezug auf Zbigniew Herbert, dessen Sterben ein anrührender Zyklus gewidmet ist. Weiterhin gibt es eine Reihe von Liebesgedichten, die zumeist vom Abschied, vom Aus handeln, aber neben rauhen und auch ungelenken Bildern so schöne, zarte Strophen kennen wie die erste von „Komm wieder, Traum“:

Damit habe ich nicht mehr gerechnet,
daß mein Zimmer
noch einmal leer werden würde,
wenn jemand hinausgeht, leise,
wie das Lied einer Drossel,
das der Wind nimmt.

(Das häufige „Nehmen“ in den Liebesgedichten wird hier rehumanisiert, indem es dem Menschen weggenommen wird.) Schade, daß der Band nicht mit dem schönen Gedicht „Wunder“ schließt, sondern noch ein recht ungelenkes Wintergedicht angeschlossen hat. Aber vielleicht ist das ja auch als Zeugnis dafür zu lesen, daß es der Frühlinge braucht, um die poetischen Quellen sprudeln zu lassen.

Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 2, 2003

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Hans-Georg Soldat: Der Zukunft zugewandt
NDR 3, 17.5.2002

Caroline Albert: Engel, Industriegebiete und Gedichte
literaturkritik.de, Mai 2002

Hans-Herbert Räkel: „Zieht euch warm an! – Im Kopf der Osten“: Kurt Drawerts lyrische Frühjahrskollektion
Süddeutsche Zeitung, 25.11.2002

Michael Opitz: Der harte Stoff Wirklichkeit
Neues Deutschland, 8.7.2002

Walter Hinck: Die Zeitzonen abwärts. – Vom lyrischen Leben kopfunter: Kurt Drawert opfert für die Schutzlosigkeit seine Freiheit
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.3.2002

Ulf Heise: Der Anfang vom Abgesang
Freie Presse, 15.3.2002

Hauke Hückstädt: Den Farbfilm vergessen
Frankfurter Rundschau, 25.6.2003

Sebastian Kiefer: Kurt Drawert: Frühjahrskollektion
Wespennest, Heft 129, 2002

 

„Nicht immer sieht es so schön aus,

wenn die Biegsamkeit überlebt.“

– Rede zur Verleihung des Rainer-Malkowski-Preises 2008 durch die Bayerische Akademie der Schönen Künste am 24.11.2008 in München. –

Einen Preis zu erhalten, zumal einen so bedeutsamen wie den Rainer-Malkowski-Preis, ist gewiss eine Ehre und Bestätigung für etwas, das schon geleistet wurde und wohl nicht völlig vergeblich in der Welt ist. Ihn aber auch anzunehmen, ist etwas anderes und gar nicht so einfach, wie es scheinen mag. Denn man hat sich einiges zu fragen, das zu beantworten schwer werden kann. Die erste Frage, die ich mir stelle, leitet sich aus einem Begründungssatz ab, mit dem die Jury ihre Entscheidung erklärt, Zitat:

Durch den Gang der Geschichte haben sich viele seiner Gedanken bestätigt. Man könnte sagen, das Leben hat ihm recht gegeben, was nicht so häufig geschieht.

Aber wollte ich denn, seit ich denken und schreiben kann, jemals recht haben? Oder gehört es nicht schon zu den Niederlagen, wenn tatsächlich eintrat, was befürchtet worden war? Denn die Imaginationen des Scheiterns, die traurigen Vorhersagen eine Gesellschaft betreffend, die auf dem Weg ist, sich selbst abzuschaffen, wurden nur allzu oft Realität und bittere Wahrheit. Das hat mit Irrationalismus nicht das Geringste zu tun, sondern allein damit, dass der Mensch in jener Tiefe seiner selbst, in der auch Gedichte entstehen und Literatur, nicht mehr zu hintergehen ist. In dieser spür- und ahnbar werdenden Option, ein Wissen über die Sprache hinaus zu besitzen, entstehen Gedichte, und sie verfügen gleich ihrem Verfasser über jenes Unbewusste, über das wir mit dem Eigentlichen dieser Welt in Kontakt sind. Und damit rede ich jetzt nicht gegen die Aufklärung und gegen „den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, was immer das in einem Zeitalter der fremdverwalteten Innerlichkeit noch bedeuten kann. Ich rede über die Aufklärung hinaus, über die Antworten hinaus, die nichts wirklich eingebracht haben. Vielleicht war ich auch deshalb ein wenig irritiert, als ich den Satz vom Leben, das mir recht gab, zur Kenntnis nahm. Denn wenn etwas recht hatte, dann waren es am ehesten noch meine Gedichte, die ich ja allzu oft selbst erst später verstand, um rückblickend erstaunt zu sein, was vorausbedeutend nicht alles schon geschrieben worden war. Beispielhaft hierfür ein Gedicht, das im Sommer 1989 entstand, zu einer Zeit also, in der niemand sich vorstellen konnte, dass bald schon die DDR zusammenbrechen und die Mauer fallen würde.

ANDERE ARBEITER, EIN ANDERER HERBST

Unverständlich und klar
liegen in ihrer Geschichte
die Dinge begraben.
Alles hat seinen Anfang
und seinen Krebs –
eine Empfindung von gestern
zur Stunde. Die Frau
und ihre gealterte Katze,
in deren Körper die Zeit
sich bewegt, zählen die Schnitte
auf der Platte des Tisches
den Tagebuchseiten
hinzu. Im Hintergrund
das bekannte Geräusch
der Fabrik. Andere Arbeiter,
sagt man, ein anderer Herbst,
wie es im Buch steht
und vorauszusehen war.

So habe ich von meinen Gedichten immer nur gelernt, wie man auch von seinem Körper lernt, wenn man ihn zu lesen versteht. Ein Gedicht, das nicht klüger ist als sein Autor, ist bloße Behauptung und frei von jenem poetischen Mehrwert, der das Gedicht erst beglaubigt. Das meinte auch ein Satz Mallarmés zu Degas, der sich darüber beklagte, dass ihm seine Gedichte immer zu lang werden würden, und zur Antwort bekam: Gedichte werden ja auch aus Worten, nicht aus Gedanken gemacht. Vielleicht kann man es die Klugheit des Körpers nennen, die sich auf dem Umweg über die Sprache symbolisch konstituieren und weitergeben lässt, um am Ende, über alle Rhetoriken hinweg, auf eine unbestechliche Art und Weise recht zu bekommen. Die Bilder, die sich mir in den Gedichten und Prosatexten ergeben haben und von der Geschichte bestätigt wurden, sind daher auch gewiss nicht mit einem Gefühl der Genugtuung verbunden, sondern eher mit dem eines Versagens, mehr gewusst als getan zu haben. Aber ich habe ja nicht mehr gewusst als mein Text, und das nimmt mich nun wieder in Schutz. Diese Ungleichzeitigkeit von Wissen, Verstehen und Handeln entspricht wohl einem Gesetz, denn andernfalls müssten die Wissensvorräte, wie sie in den Bibliotheken lagern, den Lauf der Dinge aufhalten können. Nun glaube ich zwar, dass Literatur die Welt verändert, aber die Zeitachse, auf der das geschieht, geht mit den Anlässen und unserer Lebenszeit nur selten überein. Einmal hatte ich das Glück, es zu erleben: als die DDR und mit ihr der gesamte Ostblock an sich selbst zugrunde ging und das Gedicht wie Phönix aus der Asche stieg und seine historische Wahrheit offenbarte. Ein kurzer Triumph, denn bald schon bin ich von den Kränkungen, die das Land mir vererbt hat, wieder eingeholt worden. Dann nämlich, wenn ich daran dachte, wie der Sechzehnjährige, der ich war in einer Fabrik, dafür gemaßregelt wurde, dass er Ansichten vertrat, mit denen er recht haben sollte. Und keiner war mehr zur Stelle, den man hätte fragen oder gar zur Rechenschaft ziehen können. Sie waren alle, mit dem verendeten Land und ihrer Verantwortung dafür, in einem Untergrund verschwunden, aus dem gelegentlich noch Leichengift nach oben dringt. Das war ein Grund dafür, dass ich wegging, ohne indes meiner Herkunft damit auch entkommen zu sein.

MIT HEINE

Dies Land, von dem die Rede geht,
es war einst nur in Mauern groß,
dies Land, von Lüge zugeweht,

ich glaubte schon, ich wär es los.
Ich glaubte schon, es wär entschieden,
dass wer nur geht, auch gut vergisst.

Doch war nun auch ein Ort gemieden,
der tief ins Fleisch gedrungen ist.
Als fremder Brief mit sieben Siegeln

ist mir im Herzen fern das Land.
Doch hinter allen starken Riegeln
ist mir sein Name eingebrannt.

In dieser Zeit nun meiner gefährdeten Jugend ist auch die Literatur als eine Überlebensmöglichkeit nicht nur wichtig, sondern zwingend für mich geworden und haben sich die Sinnzusammenhänge von Literatur und Gesellschaft poetologisch konsolidiert. Dabei gehörten für mich Form und Aussage immer zusammen. Die beste Absicht ist nichts wert, wenn sie ihre literarische Form nicht findet, wie andererseits die Form für gar nichts steht und auch nichts bedeuten kann. Einen Satz Jean-Paul Sartres würde ich auch heute noch sofort unterschreiben:

Wenn die Literatur nicht alles ist, ist sie der Mühe nicht wert. Das will ich mit Engagement sagen.

Literatur ist nicht schön, wenn sie nicht wahr ist, und sie kann nicht wahr sein, wenn sie nicht kritisiert. Das nun ist die zweite Frage, die ich mir heute stellen will: Wer ist eigentlich noch für die Werte eines humanitären gesellschaftlichen Fortbestandes, der sich durch Kritik am Bestehenden äußert, empfänglich? Ich gebe gern zu, dass ich ein Romantiker bin, und da das Begehren nach Harmonie eine besonders harte Projektionsfläche für Wirklichkeit abgibt, muss ich wohl literarisch hauptsächlich Albträume haben. Auf die Kritik bezogen heißt das, das Kritisierte nicht zerstören, sondern verändern zu wollen, und was keinen Bestand hat, bleibt der Sprache entzogen. Allein, Kritik als produktiv zu betrachten, ist jedem totalitären System unmöglich, und deshalb muss es auch an seiner eigenen Überheblichkeit scheitern. Aber auch andere Systeme, die zur Reflexion untauglich sind, sterben aus, auch wenn dieser Sterbevorgang recht lange anhalten kann und über den Umweg medialer Täuschungen noch den Anschein von Glückseligkeit abgibt. Und wenn ich jetzt sage, dass mein jüngster lyrischer Zyklus „Vom Ende der Poesie“ heißt, dann verstehen Sie schon, dass ich den Zweifel meine, ob Literatur fern jeder Interessenausbeutung und Vermarktungswilligkeit noch eine realistische Chance hat und mit ihr jene, die sie zu schaffen imstande sind.

VOM ENDE DER POESIE (I)

Jedes Gedicht, sagte Herr Müller
von der Hypo Vereinsbank,
ist ein Schuldschein,
und Sie schreiben zu viel.
Ich also hängte diesen Teil
meines Lebens
wie an einen Haken für Schweine.

Nein, ich will jetzt nicht das leidige Thema „Geld und Gedichte“ ansprechen, das auch mir nur unerfreulich ist, auch wenn natürlich stimmt, dass 1.) die kapitalistische Grundformel „Zeit ist Geld“ heißt, womit sich die Zeitgesetze eines Gedichtes wirtschaftlich betrachtet nur noch verheerend für dessen Produzenten auswirken, und 2.) ein Mann wie Ludwig Wittgenstein jun. kaum noch in Sicht ist, der in einem Brief vom 14.7.1914 an Ludwig von Ficker schrieb:

Sehr geehrter Herr! Verzeihen Sie, dass ich Sie mit einer großen Bitte belästige. Ich möchte Ihnen eine Summe von 100.000,– Kronen überweisen und Sie bitten, dieselbe an unbemittelte (…) Künstler (…) zu verteilen.

Noch mehr Sorge macht mir, was aus unserem Begriff von Literatur geworden ist, und wie sehr wir unsere Werte verlieren, wenn wir diesen Begriff aufgeben, der sich in seiner substanziellen Tiefgründigkeit doch immerhin recht lange gehalten hat. Denn was da nicht alles als Literatur avanciert und die Zu- und Abflüsse des Marktes verstopft, lässt mich darüber nachdenken, ob die Berufsbezeichnung „Schriftsteller“ nicht doch besser geschützt werden sollte. Nun greift diese Polemik natürlich ins Leere, weil ich zwar sagen kann, was ich für wichtig halte, aber über keine Möglichkeit verfüge, um diese Überzeugung auch praktisch umzusetzen. Denn Literatur und Kunst sind keine genuinen Werte, sondern unterliegen immer auch einem Meinungskonsens und bilden eine gesellschaftliche Verabredung darüber ab, was mit welcher Bedeutung erscheint. Wenn also der Literaturbegriff heute in den „Feuchtgebieten“ diverser Bestsellerlisten ertrinkt, dann sagt es erschreckend viel aus über das kulturelle Niveau der Gesellschaft, in der wir leben. Nicht dieses Buch gleichen Titels und dessen Autorin mit ihren doch recht privaten proktologischen Nöten sind der Skandal. Der Skandal ist sein kommerzieller Erfolg. Aber er ist auch nur für den ein Skandal, der nicht lesen möchte, wie es im Darmausgangsbereich einer sexuell hochaufgeregten jungen Frau aussieht. Und da sind wir schon in einer Minderheitsfalle, denn viele schauen dort ja offensichtlich gerne hinein, als wäre er der siebente Himmel, und die Kasse stimmt auch noch. Die Übereinkunft von Zeigelust und Voyeurismus ist schon lange zu einem Wirtschaftsfaktor geworden und treibt immer bizarrere Blüten, die wir aber bitte nicht Literatur oder Kunst nennen wollen. Hier nun kommt auch das Argument von der Quote ins Spiel, die wie ein Damoklesschwert über uns schwebt. Aber was sagt uns die Quote? Stellen Sie sich einmal vor, auf dem Marktplatz würde wieder ein Galgen errichtet, und es fände eine Hinrichtung statt. Ich wette, die halbe Stadt wäre auf den Beinen. Was sich, über den Weg einer medialen Großvernetzung, die noch die entlegenste halbzivile Ritze in ihr sinnentleertes Raster zieht, an Verflachung und Vernichtung von Wahrnehmung bereits vollzogen hat, ist wohl kaum noch zu kompensieren. Dass sich, biologisch erwiesen, die Gehirnstrukturen adaptiv zu ihren funktionalen Beanspruchungsmustern langfristig verändern, sei hier nur am Rande vermerkt. Wir sind zu Abwesenden in einer Welt geworden, die wir fast nur noch aus den Chats und Foren des Internets kennen, um daher Wirklichkeit und symbolische Referenz permanent zu verwechseln. Ein Umgang mit komplexen literarischen Texten, die sich erst in der Rezeptionsbegabung eines Lesers entfalten, findet mehrheitlich kaum noch statt. Bei einer Lesung vor wenigen Tagen wurde ich vom Veranstalter mit den sicher gut gemeinten, aber verunglückten Worten begrüßt, dass ich, nun ja, ein wohl doch etwas schwieriger Autor sei und bitte nicht so lange lesen möchte. Aber kann eigentlich etwas schwieriger, komplexer und rätselhafter sein, als das Leben selbst, das zu verstehen wir uns bemühen mit den Mitteln der Sprache und der Literatur? Wo sind wir hingekommen, wenn wir keine Instanz mehr suchen, die das Leben dort reflektiert, wo es festgefahren ist und in der Sackgasse steckt? Und auch der Umkehrschluss gilt, denn meine gelegentlich etwas nachlassenden Motivationen zum Schreiben beziehen sich auf die Gefährdungen dieser Welt, auf ihre Defekte und Hinfälligkeiten, auf die dauernde Abwesenheit des Glücks. Nicht, weil ich das Unglück beschwören möchte und insgeheim in es verliebt bin, sondern weil das Schöne nichts und niemanden mehr braucht. Mit dem Schönen können wir sehr gut allein sein, mit dem Unglück nicht. Auch davon spricht eines meiner Gedichte:

ZWISCHEN DEN ZEILEN

I
Es gibt viele schöne Dinge
für ein Gedicht, die ein Gedicht
nicht mehr brauchen,
weil sie schon schön sind.

II
Dennoch, ich wollte sie nennen, alle,
bis zur weißen Blüte der Kirsche.

III
Aber immer, zwischen den Zeilen,
bleibt etwas übrig.

Freilich, nicht jeder will wissen, was übrig und auf der Strecke bleibt, zwischen den Dingen, die sich schnell verbrauchen und am besten gleich konsumieren lassen. Aber offen gesagt, es ist mir auch egal, und ich strecke die Waffen. Dort, wo sich die Ideale von Freizeit mit einer Fernsehshow vom Dschungelcamp treffen, haben wir sowieso schon verloren. Da brauchen wir auch keine Bücher mehr, von diversen und meistens nur peinlichen Lebensbeichten vielleicht einmal abgesehen. Und machen wir uns nichts vor: Wir, für die Literatur, und ich meine jetzt wirklich einmal nur die Literatur, die ihren Namen auch verdient, eine Möglichkeit des Lebens und des Überlebens ist, werden überschaubarer von Tag zu Tag. Wir sind eine Minderheit, die sich nur deshalb nicht als eine solche empfindet, da sie noch immer die Säle und Buchhallen füllt, wenn die entsprechenden Termine herangerückt sind. Was ich verlange, ist eine Art Minderheitenschutz, ein Reservat an kulturellem Sinn, ohne den wir zu Barbaren werden. Natürlich weiß ich, dass ein guter Verleger auch ein guter Kaufmann sein muss. Aber wer nur Geld verdienen will, egal auf welcher Seite der Literatur, der sollte doch besser gleich eine Wurstfabrik gründen. Wobei es natürlich auch ein kleines, verborgenes Glück ist, dass die Finanzkrise, von der wir jeden Tag hören, ohne deren Ausmaß auch nur annähernd zu begreifen, Geld in seiner völligen Leere und Wertlosigkeit vorführt und, ich zitiere eine Zeitung:

Banker so stark wie die Bären zu Tränen rührt.

Wenn man bedenkt, dass da eben mit Island ein ganzer Inselstaat von zockenden Kapitalmarktbrokern verspielt worden ist und die Bevölkerung vielleicht schon als Insolvenzmasse kursiert, weiß man einmal mehr, dass die Absurditäten des Realen auch noch die kühnste literarische Phantasie übersteigen. Aber wenigstens liegt im Bedeutungssturz des Geldes eine Befreiung von Sinn, so meine gewiss nur kleingehaltene Hoffnung. Also tun wir, was unsere Aufgabe ist und sagen es mit dem liebenswürdigen Bartleby:

Nein, ich möchte lieber nicht.

Und wenn es etwas gibt, auf das ich, ohne hochmütig zu werden, ein wenig stolz sein möchte, dann ist es die existenzielle und ästhetische und geistige Konsequenz, mit der ich immer gedacht und geschrieben habe und auch weiterhin denken und schreiben werde, so wahr mir Gott und die Sparkasse helfen. Mein Verleger, der heute anwesend ist und diesen Weg mit mir geht, hilft sowieso, und auch dafür möchte ich danken. Vielleicht hatte Rainer Malkowski, in dessen Namen wir hier und heute versammelt sind, Ähnliches gemeint, als er sein wunderbares Gedicht „Schöne seltene Weide“ schrieb, das ja, mit seinen letzten zwei Versen, den ganzen Widerstand beschreibt, den wir zu leisten haben.

SCHÖNE SELTENE WEIDE

Manchmal, nach einem Herbststurm,
wenn die Luft still und gefegt ist,
gehe ich im Garten umher und zähle
die abgeschlagenen Äste.
Nur die Weide zeigt keine Veränderung.
Ich bewundere sie lange:
nicht immer sieht es so schön aus,
wenn die Biegsamkeit überlebt.

Kurt Drawert, aus Kurt Drawert: Was gewesen sein wird. Essays 2004 bis 2014, C.H. Beck, 2014

Geschichte, seitenverkehrt. Wegbeschreibung.

Zwischen den Zeilen.

– Für Kurt Drawert zum Fünfzigsten. –

Die Stadt Leipzig war immer schon zu klein, als dass sich die einwohnenden Dichter hätten vollends aus dem Wege gehen können. In den frühen achtziger Jahren waren dies u.a. Adolf Endler, Heinz Czechowski, Peter Gosse, Thomas Böhme, am Literaturinstitut studierten Barbara Köhler und Kurt Drawert. Durch meine doch ein wenig naive, ungestüme Neugier gestalteten sich die ersten Begegnungen mit dem Dichter Drawert als eher vorsichtige Lotungen seinerseits, denn es gab einfach zu viele Neugierige in inoffiziellen Dienstbarkeiten. Doch Kurt faszinierte mich, in der Stringenz der Gedankenzüge, in meinem Wahrnehmen, dass hier einer tatsächlich im Weltriss lebte und schrieb und dies nicht nur vorgab, er faszinierte in der hochgemuten Existentialität eines selbstauferlegten Schreibauftrags, schließlich in der Freundlichkeit des Gesprächs, das in dauerndes Vergnügen mündete. Es ist daraus eine Freundschaft entstanden, die nun über zwanzig Jahre anhält.
Nach inzwischen 23 Büchern mit Gedichten, Prosa, Essay und Dramatik, die Kurt Drawert publiziert hat bzw. für die er als Herausgeber einsteht, beiseite gesprochen eine respektheischende Halblebensleistung, handelte es sich doch stets nicht um Leichtgewichte, nach 23 Büchern also ist es opportun, noch einmal einen Blick ins erste Buch, die Zweite Inventur, erschienen 1987, zu werfen. Es wundert nicht wirklich im Rückblick, bereits alle Aufmerksamkeiten, Stimmführungen, Tonlagen ausgebildet zu sehen, die die spezifische Eigenart der arbeitenden Subjektivität in der Drawertschen Lyrik, ihren unverwechselbaren „sound“ bestimmen. Radikale Ernüchterungsarbeit gegenüber den Fortschrittsversprechen der Moderne prägt von Beginn an den Gestus der Texte, sei es über die Engführung von Sprache, Körper, Machtdiskurs und Wahrheitsbegehren, sei es über die Auseinandersetzung mit der Unechtskultur von Simulationswelten. Bereits das grandiose Eingangs-„Gedicht im Juni, Juli, August“, dessen Titel so unverfänglich brinkmannsch klingt, macht unmissverständlich klar, wie fertig dieser Autor hier bereits mit jedweder Art von ideologisch untermauertem Glücksversprechen war:

Fertigbedeutungen und Fertiggerichte.
Die Geschichte war fertig. Die Gegenwart
war fertig, die Zukunft, die Revolution,
die Antworten waren fertig.
Mein Außen- und Innenleben war fertig,
ein Schnittmusterbogen
auf der letzten Seite der Wochenendbeilage

Wenige Zeilen weiter heißt es:

Die Realität kam auf Stelzen, eine gläserne
Vettel, die durch die Vorstellungen lief
mit der Aufschrift Vagina, dort, wo sie
geschlechtslos war.

Die klar bezeichnete Differenz zwischen dem energischen, auch melancholischen Begehren nach Eigenheit und eigener Sprache und den eingetrichterten Standards destruiert die Schnittmusterbogen und verdeutlicht den Schnitt:

Die Worte gehören mir nicht,
kalt lagen sie unter der Zunge als
nichtgemachte Erfahrung.

Wären Feuilleton und Germanistik der Bundesrepublik 1987 nicht so starr auf längst verblasste Kryptiken a lá Schedlinski fixiert gewesen, hätten sie anhand dieses Gedichtbandes einiges über den Zerfall von Herrschaftsdiskursen in der DDR erfahren können und über die ahnbahren Gemeinsamkeiten, die Autoren in Ost und West in ihrem Verhältnis zu Macht, Manipulation und Munitionierung der Sprache womöglich verbinden. In den Nachwendekonstruktionen einer fröhlich-geschichtslosen Postmoderne im Westen und einer tragischen Vormoderne im Osten wurde Kurt Drawert immerhin mit Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl oder Durs Grünbein als einer der anschlussfähigen „Modernen“ goutiert. Nur stimmte die ganze Konstruktion vorne und hinten nicht.
Allerdings hatte der Dichter mit dem Systemwechsel, der für ihn auch mit einem Ortswechsel von Leipzig über Scharmholz-Osterbeck nach Darmstadt verbunden war, zunächst einmal sein Herkommen und seinen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen „Schnittmusterbogen“ erneut zu bedenken. Er hat dies in der Prosa Spiegelland mit beeindruckender Tiefenschärfe getan, selbstredend auch immer wieder in Gedichten. Wenn er im Gedicht „Ortswechsel“ mit Rimbaud „Klartext“ spricht: „Ich / bin ein anderer gewesen / im Zentrum der beschädigten Jahre“, so finden die Schädigungen zu einer Sprache, die an die Gründe rührt: Davon etwa versucht ein für mich großes Gedicht „Tauben in ortloser Landschaft“ zu sprechen. Ein Lang-Gedicht in Vierzeilern, das im Nachspüren der eigenen Verletztheiten zugleich generell die tragikomischen Bedingtheiten in den Lebensverläufen der Nach-und-Nachgeborenen in der DDR berührt. Schon in Spiegelland hatte Kurt Drawert gleichsam programmatisch geahnt:

Wir sind mit Dutzenden von verlogenen Begriffen aufgewachsen, die wir im ehrgeizigen Alter der Kindheit unbedarft und schamlos vor uns hingesagt haben und die wir auswendig lernten wie fremde Vokabeln, ohne zu wissen, daß sie ein Leben und eine Existenz von innen heraus nur zum Scheitern bringen, wenn man sich ihrer nicht rechtzeitig entledigt so gut es geht, und vielleicht, denke ich, bedarf es eines ganzen Lebens, sich dieser Begriffe zu entledigen.

Die Beschädigungen, die die weitgehende Abschaffung der Wirklichkeit im herrschenden Sprechen bei den Angeherrschten zur Folge hatte, machen, daß die Kaspar-Hauser-Legion, / verschüttet in den Trümmern / der Bau-auf-Konstrukteure,… für keinen Zusammenhang / mehr zu gebrauchen ist. Nachdem sie ihr blendendes Werk pünktlich zu ihrer Verrentung als Schrott den Nachfolgenden übereigneten, hatten sich die Mütter und Väter des Staates in den Ruhestand begeben. Ihre Zöglinge aber, die sozialistischen Pimpfe / mit gebogenen Rücken, sie wurden am Wegrand der Geschichte ausgesetzt. Tauben in ortloser Landschaft. … Und sie werden krank sein, / nicht aber sterben, wenngleich / das Ende der Gespräche erreicht ist
Doch diese mitunter quälerische Entledigungsarbeit ist mit einer anderen unlösbar verbunden: Die vom Autor schon in einem Gespräch 1988 attestierte „Verlorenheit der Begriffe vor den Dingen“ war mit der Implosion der DDR nicht verschwunden. Vielmehr sieht er sich nun einer vergleichbaren Sprachlosigkeit ausgesetzt, denn die Sprache, so schreibt er in Spiegelland, „die ich suchte, auf die ich wartete oder die ich wiederherstellen wollte … [war] das ganze Gegenteil … einer Sprache, die mir stündlich abverlangt wurde und auf schon irrationale Weise mit Modeanzügen und Aktenkoffern, Geldanleihen und Unterarmsprays usw. in Verbindung zu bringen war“.
Dass Heimatlosigkeit nun universell empfunden wurde, konnte von den Literaturbeobachtern damals zunächst als Anpassungsproblem heruntergespielt werden. Indes sollte sich zeigen, dass diese erfahrungsgesättigte Sensibilität für geschichtliche Erdbeben präzise Vorahnungen bereithalten sollte für die Beunruhigungen, die nun, fünfzehn Jahre später, die Mitte der Gesellschaft erreicht haben. Drawerts Hellsichtigkeiten in den neunziger Jahren, die wenig aufgegriffen worden waren, stellen indes Verständigungsangebote dar, die allerdings einen komplexen Reflexionshorizont erfordern. In dem den Zustand unserer Zivilisation ausleuchtenden Essay „Der Ausverkauf der Leere“, geschrieben vor über zehn Jahren, heißt es etwa:

Der Osten hat sich im Kollaps davongemacht und seine ruinösen Hinterlassenschaften an den Westen abgetreten; er hat sich in das Privileg seines Unterganges geflüchtet und sieht nicht ohne Siegermiene im Staub liegend zu, wie er den Westen mit seinen Trümmern kaputtmacht. Was er als Konkurrent nicht geschafft hat, schafft er als Leichnam mit seinen Giften. Es ist wie nach Ablauf eines Pachtvertrages, wenn die Deponien plötzlich zu sind, auf denen man seinen Sondermüll abkippen konnte. Jetzt kreist der Überschuß im eigenen System, und selbst wo er noch weiter in den Osten kanalisiert wird, wird er bald an seine Entstehungsorte zurückgeschwemmt werden. Ein elementares Gleichgewicht ist damit gebrochen; ein Gleichgewicht, das gerade aus einer Unvereinbarkeit zweier sich gegenüberstehender Systeme hervorgegangen war und das darin bestanden hat, im komplementären Gegenüber die explizite Funktion zur Sicherung der eigenen Wahrheit zu finden. (Kurt Drawert, „Der Ausverkauf der Leere“, 1995).

Der Überschussamalgamierung west-östlicher Vermüllung hält der Dichter, im Sinne Vattimos, im Machtverhältnis eine lächerliche, im Menschenmaß freilich gewichtige Überschussproduktion entgegen: Kurt Drawert beschreibt das Gedicht im erneuten Nachdenken über die Funktion der Poesie Ende der neunziger Jahre in einem durchaus emphatischen Sinne essayistisch als „Generator“ und Kommunikat zugleich, er betont die dialogische und existenzielle Dimension des Poetischen: Das Gedicht qualifiziere sich

durch einen permanenten Überschuß an Energie, und sein Sinn kann demnach auch nicht der Stoff sein, den es aufgenommen und ausgebreitet und verarbeitet hat; sein Sinn kann nur jener Überschuß sein, den es zu produzieren imstande ist.

Das Besondere an den Gedichten von Kurt Drawert war es stets schon, dass er diesen Überschuss einem Material abgewinnt, das oft aus vorgestanzten Bildschablonen, von inflationärem Gebrauch verschlissenen Wortmünzen, aus defekten Satzfertigteilen besteht. Wenn schon der der Modebranche entlehnte Bandtitel seines Gedichtbandes aus dem Jahre 2002 Frühjahrskollektion stutzen lassen sollte, so liefert eine Gedichtüberschrift wie „Der Wald. Katalogtext und Ausstellungshinweis“ in der – merkwürdig genug – Abteilung „Ich liebe Industriegebiete“ Fingerzeige, bereits der klassischen lyrischen Sprecherinstanz des „Ich“ nicht allzu sehr über den Weg zu trauen. Auch hier bleibt sich der Autor motivisch treu: Das Gedicht „Zu spät gekommen“ aus den achtziger Jahren z.B. hebt mit den Versen an:

Ein Waldspaziergang zum Beispiel
interessiert mich nur wenig.
Hilflos schlendre ich rum
zwischen nichtsynthetischen Stoffen
und mache mich schmutzig.
Aber das Grün ist sehr schön
und farbfest

Man muss nicht wissen, dass Kurt Drawert durchaus ein passionierter Spaziergänger ist, um auf die permanente Fallenhaftigkeit seiner Texte aufmerksam zu machen. Damit aber ist in hohem Maße das Distinktionsvermögen des Lesers angesprochen, den Text hinter dem Text  erschließen zu können, was zum Beispiel heißt, die Oberflächen scheinrationaler Argumentation mit den Rückseiten immanenter Wahnhaftigkeit kurzzuschließen. Es entstehen semantische Wirbel, Irrläufer oder Ausschließungskonstellationen. Die Bewegung der Verse wird immer wieder durch Enjambments aufgehalten, durch Wiederholungsfiguren in die Schleife gezwungen, durch Metaphern geteilt, durch sarkastische Pointen synkopiert, durch Imaginationen vervielfacht. Das ist raffiniert gemacht und gleicht nicht selten einer Wildwasserfahrt mit Stromschnellen und Untiefen. Eine Kostprobe aus dem Gedicht „Keine Zeit“ aus dem 02er Gedichtband:

Mit dem Land
ginge es abwärts, heißt es.
Kein Fußball, kein Tennis,
das durchzieht, es ist die reine
Aussicht auf gar nichts.
Jemand kratzt an der Haustür
und will, daß ich öffne.
Es kann nur der Tod sein
im Anzug eines Handelsvertreters
mit Rabattangeboten. Er stiehlt
Augenblicke und verkauft sie
als Uhren.

Drawerts tiefschwarzer Humor ist von einer  ansteckenden, aberwitzigen Fröhlichkeit, die nach innen blutet. Dieser Humor Beckettscher Abkunft ist, soweit ich sehe, noch wenig gewürdigt worden.
Das Eingeklemmtsein in industriell gefertigte Bilder und Töne, die Einspeisung fast aller Gebrauchs-Gegenstände einschließlich der Restnatur in pure Warenkreisläufe – „Der Wald, im schweren Grün / seiner Innenausstattung“ – wird in den grotesken Konsequenzen um so deutlicher, wenn Mythen- und Utopiesplitter ins Gedicht zitiert werden, wie im Aufrufen der „Engel“: Nur, dass diese „entlassen und nun selbständig sind, / ihr Geschäft nicht mehr im Himmel, / sondern im Erdreich betreiben / und hauptsächlich, hauptsächlich / Honorare einklagen. Neu auch ihr Parfum mit dem Duft / nach Schwefel und Pech“. Sie haben ihr Pendant übrigens in uns selbst, verehrte Anwesende, die wir oft genug im technizistischen und bürokratischen Zugriff eingeklammerte Selbstverwertungsmonaden geworden sind, oder wie es Kurt Drawert sagt: eine Leerstelle… im zivilen Bereich mit seinen Revolten und erkämpften Rechten auf Spekulatius am Beginn des neuen Jahrtausends. Freilich, es gibt immer auch Gedichte, und manche von ihnen sind mir sehr nahe, die Momente der Sehnsucht nach geglückterem Menschsein unverstellt, zart und jenseits aller Ironie einfangen. Zu ihnen gehört das dahingetuschte „Zwischen den Zeilen“ aus dem letzten Band, das eine Poetik in nuce enthält:

Es gibt viele schöne Dinge
für ein Gedicht, die ein Gedicht
nicht mehr brauchen,
weil sie schon schön sind.

II
Dennoch, ich wollte sie nennen, alle,
bis zur weißen Blüte der Kirsche.

III
Aber immer, zwischen den Zeilen,
bleibt etwas übrig.

Zwischen den Zeilen schlägt der Bogen zurück, bis die Geschichte von Neuem beginnt. „Geschichte, seitenverkehrt“, ein frühes Gedicht, endet:

… Also gut,
lebe wohl, Glaube an Treueversprechen
und Buchstabennudeln, lebe wohl, „Du bist
so tief in meinem Herzen“, lebe wohl
dies und das und Liebe ist eine Idee…,
bis ich deine Notiz auf dem Fußboden
fand, die du eilig hingeschrieben hast,
ehe du weggingst: „Ich kenne mich
schlecht aus in den Sätzen, die man braucht,
um zu sagen, daß ich neben dir bin“.
Bitte formuliere das doch noch einmal und so,
daß ich begreife, warum die Geschichte
plötzlich vom Ende her passiert.

Als einen Deserteur bezeichnete Walter Hinck Kurt Drawert in einem Rundfunkgespräch, einen Deserteur, der sich von keiner der reichlich zuhandenen Vereinnahmungstechniken affizieren und sich nicht den Blick auf die vor aller Augen sich vollziehenden Auflösungsprozesse von Gesellschaft verkleistern lasse, so Hinck. Der große alte Matador der Germanistik verstand dies als Auszeichnung.

Peter Geist, petergeist.homepage.t-online.de, 2006

 

KURT DRAWERT

Aus sicherer Hochstandposition

Werden die Märchen anheimelnd
Hinterm Fernglas eigentlich froh
Rotkäppchen sieht wie Doris DAG
Aschenputtel wie die Monroe aus
Das Böse wird brillant, Herzenslust
Wie Werbung wie Todestanz
Wie Liebesspiel erst inmitten zart-
Grüner Landschaften wirkt Verbrechen
Ein Genuß geradezu, der Mord
Vor unseren Augen und niemals Furcht
Mehr vor richtigem Blut.

Peter Wawerzinek

 

 

 

Joke Frerichs: Deutsche Zustände

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + DAS&DKLG
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die Drawert“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Drawert, das“.

 

Video Porträt: Ute Döring & Kurt Drawert.

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