– Zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Inschrift“ aus Hugo von Hofmannsthal: Gedichte und lyrische Dramen. –
HUGO VON HOFMANNSTHAL
Inschrift
Entzieh dich nicht dem einzigen Geschäfte!
Vor dem dich schaudert, dieses ist das deine:
Nicht anders sagt das Leben, was es meine,
Und schnell verwirft das Chaos deine Kräfte.
Wahrscheinlich muß man zwanzigjährig sein und ein Begünstigter in Schicksalsminuten, um den Mut zu haben, wie im Erkenntnisfieber solche Sätze hinzuschreiben. Ich glaube, daß es Gedichte gibt, vor denen sich die Dichter, denen sie zugefallen sind, später fürchten; Hofmannsthals Verhalten jedenfalls ist sonderbar genug. Niemand, der das Wort ernst nimmt, setzt den Titel „Inschrift“ über seine Verse, wenn er nicht überzeugt ist, daß sie eine Botschaft enthalten, die in Marmor gemeißelt gehört: eine unumstößliche Formel. Doch Hofmannsthal versuchte, sie umzustoßen. Nach dem Erstdruck 1896 hielt er das Gedicht beiseite und, was ihn zu dieser Zeit selten überkommt, er „dokterte“ an ihm herum. Es ist der letzte Vers, der ihn beunruhigt, dem er gern eine abgeschwächte, didaktisch umgänglichere Bedeutung unterstellen möchte:
Und schnell vergeuden sich die wahren Kräfte.
Obwohl sich das kurze Gedicht nicht zur Fülle der Stanze aufschwingt, ruft es Goethes „Urworte. Orphisch“ herauf, jene Strophe, die ΔΑΙΜΩΝ, Dämon, überschrieben ist, denn auch hier scheint nicht das Individuum zu sprechen, sondern eine Macht, die das Ich überwältigt, sich seiner bedient, es zur Sprache zwingt. Was die solcherart daemonisch durchsprochene Stimme des Dichters zu verkünden hat, ist freilich der ernsten Ermutigung des siebzigjährigen Goethe völlig entgegengesetzt. Goethe pries sein „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“, denn das „Gesetz, wonach du angetreten“ (du: der Mensch Goethe, jeder Mensch) ist ein Gesetz der Entfaltung, des Er-wachsens einer äußersten Möglichkeit, die „an dem Tag, der dich der Welt verliehen“ mitgeboren wurde und uns, auch gegen unseren Willen, führt und steigert. Die „geprägte Form“, die von keiner Zeit und keiner Macht mehr zerstückelt werden kann, ist eine vorausgesetzte, eine im planenden Ganzen der Natur vorausgeprägte Form, die langsam hervortritt, „lebend sich entwickelt“ – mit jedem Atemzug, mit jeder Lebensregung bis zur Verwandlung in den Tod, der für den Hoffenden keiner ist.
Als Zuspruch geben sich auch die Zeilen Hofmannsthals. Der dunkle, nachtschwarze Sinn lüftet die gutgesonnene Maske nicht gleich. „Entzieh dich nicht“, wenn du vor der Last, die vor dir liegt, vor deiner Aufgabe zurückschrickst; in ihr findest du ja doch, was das Leben mit dir vorhat – und dadurch dich selbst. Entzieh dich nicht, denn es könnte zu spät werden, du könntest deine „wahren Kräfte“ für Unwesentliches verbrauchen. So gelesen entspräche die Botschaft der Variante als Mahnung zu substantiellem Dasein. Hofmannsthal pflegte sich periodisch mit solchen eher hinderlichen Vorhaltungen zu quälen. Was ist das für ein Leben, dem nur der Schauder verfügbar ist, mitzuteilen, „was es meine“? „Nicht anders“ kann es das sagen? Einen leichteren Griff in die Seelen hätte es nicht? Nur schaudernd könne der Mensch das seine erkennen? Freudige Schauder sind nicht gemeint, nein: bestürzende, rasende, chthonische Schauder offenbaren ihm das „einzige Geschäft“, zu dem er ausersehen ist. Hält er stand, entzieht er sich nicht, macht er die Meinung des Lebens zur eigenen – gelingt ihm dann die Form, die „keine Zeit und keine Macht zerstückelt“? Auch das nicht, denn das Chaos verwirft „schnell“ seine Kräfte. Keine Rede davon, daß es nur die vergeudeten Kräfte wären. Das Chaos, das absolut Ordnungslose, vor dem es Hofmannsthal so sehr schaudert, daß er es am liebsten nicht herbeizitiert hätte, ist hier kein Synonym für Unentschiedenheit und Zerstreutheit, es bezeichnet den Zustand am Ende, das Trümmerfeld aller schöpferischen menschlichen Leistung. Das Gesetz, wonach der Mensch angetreten ist, wäre gemäß dieser Botschaft der Zerfall, seine tragische Nichtigkeit.
Geht man diesem Gedicht nach, spürt man die wahre Angst, die Hofmannsthal seit seiner Jugend nicht mehr verließ, und man spürt, wie sehr es zu den Heutigen gesprochen ist, die an das lebensfreundliche Gesetz Goethes so wenig glauben können, daß sie an ihm Anstoß nehmen.
Kurt Klinger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983
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