Kurt Klinger: Zu Theodor Kramers Gedicht „Wer läutet draußen an der Tür?“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Theodor Kramers Gedicht „Wer läutet draußen an der Tür?“ aus dem Band Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte 1. –

 

 

 

 

THEODOR KRAMER

Wer läutet draußen an der Tür?

Wer läutet draußen an der Tür,
kaum daß es sich erhellt?
Ich geh schon, Schatz. Der Bub hat nur
die Semmeln hingestellt.

Wer läutet draußen an der Tür?
Bleib nur; ich geh, mein Kind.
Es war ein Mann, der fragte an
beim Nachbarn, wer wir sind.

Wer läutet draußen an der Tür?
Laß ruhig die Wanne voll.
Die Post war da; der Brief ist nicht
dabei, der kommen soll.

Wer läutet draußen an der Tür?
Leg du die Betten aus.
Der Hausbesorger war’s; wir solln
am Ersten aus dem Haus.

Wer läutet draußen an der Tür?
Die Fuchsien blühn so nah.
Pack, Liebste, mir mein Waschzeug ein
und wein nicht; sie sind da.

 

Der langsame Tod der Freiheit

Die Freiheit eines Landes erlischt nicht über Nacht. Als Hitler sich am 15. März 1938 auf dem Heldenplatz in Wien von hysterischen Massen feiern ließ, hatte er das kleine Land zwar geschluckt, aber nicht verdaut. Das System brauchte Zeit, seine Totalität zu entfalten, den Umsturz der Verhältnisse in alle Landstriche, in jedes Haus, in die entlegensten Bezirke zu tragen. Das Netz hatte Lücken, es gab noch Fluchtwege frei. Zugleich festigte es sich bis zur Kristallnacht mit jeder Verfügung, lähmend und Angst verbreitend, rücksichtslos entschlossen, die Diktatur alltäglich zu machen.
Diese Monate der ausbrennenden Hoffnung sind im Gedicht Theodor Kramers „Wer läutet draußen vor der Tür?“ bedrückend gegenwärtig geblieben. Die Verse setzen sich im Gehör und im Herzen fest wie ein Volkslied, freilich wie eines, das nicht ins trällernde Repertoire unserer Heimatchöre paßt. Absichtslos ist der Volkston nicht. Die Nazis liebten die naiven Lieder, sie sangen sie mit Inbrunst, ohne zu fühlen, daß sie in ihrem Mund den Sinn veränderten. So muß Theodor Kramer das haarsträubend muntere „Horch, was kommt von draußen rein…“ als höhnischen Kontrast zur Lage des bedrohten Menschen empfunden haben, der beten mußte, daß die Schritte vor der Tür nicht haltmachten.

Geht vorbei und schaut nicht rein. Wird’s wohl nicht gewesen sein.

Wer? Das Abholkommando? Wer auch immer – wer zu den Aussätzigen dieser Zeit ging, kam nicht in freundlicher Absicht, wenn er vorbeiging, kam er bestimmt zurück, und nicht allein. Zunächst ist scheinbar alles noch in guter Ordnung. Nichts Dramatisches geschieht, als wäre man von der Macht gegen alle Wahrscheinlichkeit übersehen worden. Es klingelt, man fährt zusammen: es ist nur wie alle Tage der Junge mit dem frischen Brot. Dann erkundigt sich jemand, droht, stellt listige Fragen – Verdachtsmomente verknüpfen sich zum Beweis. Die Folge ist, daß der Brief, der alles wenden könnte, die Ausreisegenehmigung vielleicht oder die Bürgschaft von Freunden in Übersee, nicht eintrifft. Auch ein anderer Brief, der zu erwarten war, fehlt in der Post: die Vorladung unter harmlosem Vorwand, der man Folge leistet, um nicht mehr zurückzukommen. Die Knoten schürzen sich auch ohne ihn: Delogierung, Seelenmord genau nach gesetzlicher Kündigungsfrist, Deportierung, der Griff nach dem Leben, eines nach dem anderen ohne Übereilung. So einfach ist das.
Zwei Menschen teilen die Todesgefahr ohne Herumgerede, ohne Klage, ohne schwach zu werden, ohne irgendein Aufflackern von Egoismus oder Untreue. Entscheidend sind die Pausen zwischen den Strophen, immer knapper werdende Atem-Pausen. Die Verfolger bereiten eine neue Verschärfung, ein neues Druckmittel vor, die Opfer stellen sich darauf ein und antworten mit wachsender Gefaßtheit. Wenn es das letzte Mal an der Tür klingelt, ist der Mann bereit. Sein innerer Widerstand wird nicht zu brechen sein.
Kramer wußte, was ihm in einem „entjudeten“ Wien bevorstand. Trotzdem zögerte er die Emigration bis zur letzten Minute hinaus. Keinem österreichischen Dichter scheint es damals so schwergefallen zu sein, sich loszureißen. Vielleicht hat Kramer dieses Gedicht als Warnung an sich selbst geschrieben, vielleicht hat es ihn besser als die Bitten seiner Freunde überredet, sich in Sicherheit zu bringen. Ihm könnte sein Volkslied vom langsamen Tod der Freiheit zu einem lebensrettenden Gedicht geworden sein. Wenn es heute den Dichter vor dem Vergessenwerden, uns vor der Vergeßlichkeit rettet, schenkt es die beste Hilfe, die Verse leisten können.

Kurt Klinger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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