Kurt Marti: Die Liebe geht zu Fuß

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Kurt Marti: Die Liebe geht zu Fuß

Marti-Die Liebe geht zu Fuß

ALBERTO GIACOMETTIS GRAB

ein käfer
läuft weg
die taube
pickt kiesel

er liebte
den staub
stumm warten
berge

 

 

 

Poesie ist Moral

1
Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert sich potenzierender Gewalt auf fast allen Ebenen der Zivilisation. Wenn Moral Verneinung, Verhinderung, zum mindesten aber Verurteilung und Eindämmung von Gewalt bedeutet, so war das vergangene Jahrhundert ein Saekulum moralischer Niederlagen. Meine These lautet: Inmitten von Gewaltrechtfertigung und Gewaltverherrlichung ist die Poesie vergleichsweise integer geblieben (was sich von der Literatur im allgemeinen nicht unbedingt behaupten lässt). Ich bin nicht in der Lage, das analytisch nachzuweisen, muss mich deshalb auf Thesen beschränken. Sie betreffen die politische Gewalt, die ökonomische Gewalt und die Gewalt gegen die Natur. Gegenüber diesen Erscheinungsformen der Gewalt erwies sich die Poesie als das „unschuldigste aller Geschöpfe“ (Hölderlin). Das ermutigt mich zur Behauptung, dass Poesie ihrem Wesen nach Moral oder eine – zugegeben: kryptische – Form von Moral ist, auch und gerade dann, wenn es sich keineswegs um „moralische“ oder gar moralisierende Poesie handelt.

2
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, mit Gedichten eine Gewaltideologie schön zu reden, Gewaltherrscher zu verherrlichen, Kriege zu rechtfertigen oder positiv zu mythisieren. „Endlich ein Gott!“, schrieb sogar Rilke nach dem Kriegsausbruch 1914 (als man freilich noch kaum zu ahnen vermochte, welche Dimensionen dieser und der folgende Krieg annehmen würden). Haben aber nicht auch Dichter von einigem Rang Hymnen auf Hitler oder Mussolini und Oden auf Stalin verfasst? Wie aber kommt es, dass diese Gedichte samt und sonders ästhetisch misslungen, aus der literarischen Überlieferung und selbst aus dem Gedächtnis und den gesammelten Werken der Autoren verschwunden sind? Es waren blamable, miserable Gedichte. Ich kenne kein einziges gutes Gedicht, das Gewalttäter und Gewalttaten rühmt, ästhetisiert oder auch nur rechtfertigt. Es scheint, als ob gute Gedichte dergleichen Inhalte gar nicht erst zulassen, von vorne herein abstoßen würden. Wie ist das zu erklären? Was für sprachphysikalische Reaktionen, welche ästhetischen Automatismen sind da am Werk? Das wüsste ich gern, finde aber keine Erklärung, höchstens die Andeutung einer solchen in einer Notiz des Dichter-Malers Otto Nebel:

Die Kraft im Schönen ist dessen Gewaltlosigkeit.

Ist’s vielleicht diese Kraft, die auch im Wortkunstwerk poetische Rühmungen oder Verklärungen von Gewalt und Krieg, von Gewalttätern und Gewaltsystemen dank einer Art immanenter Nemesis strengstens mit Misslingen bestraft? Schönheit verträgt sich mit keiner Beschönigung, erst recht nicht mit der Beschönigung von Gewalt. Im gelungenen Gedicht werden Ästhetik und Ethik eins. Poesie ist Moral.

3
Im Warenkreislauf des globalen Markts, auch Literaturmarkts, spielt die Poesie keine relevante Rolle, nicht zuletzt deswegen, weil Gedichte nur schwer von einer Sprache in andere Sprachen übertragbar und mithin nicht bestseller-fähig sind. Als weiterer Marktnachteil kommt hinzu, dass Poesie kaum verfilmbar, deshalb auch nicht fernsehtauglich ist. Lauter Handicaps! Wird das Internet sie vielleicht beheben können? Ich glaube eher nicht. Gedichte dürften schwer vermarktbar bleiben. Sie vermögen der Forderung nach schneller (Waren-)Zirkulation nicht zu entsprechen, wollen im Gegenteil dauerhaft sesshaft werden im Gedächtnis, im Gehirn, auch in den Sinnen meditationsfähiger Leserinnen und Leser. Darum ist mit Gedichten kein schneller und großer Umsatz zu erzielen und schrecken Verleger vor ihnen zurück. Die Lyriknischen in Buchhandlungen werden fortzu kleiner, sind oft schon gänzlich verschwunden. Doch gerade dank ihrer merkantilen Irrelevanz hat sich die Poesie so etwas wie Unschuld bewahren können inmitten des allgewaltigen Marktes. Ihre Gewaltresistenz und Marktwidrigkeit verhilft der Poesie (ungesucht? ungewollt?) zu einer moralischen Position – sofern Moral zu begreifen ist als Abkehr von der Gewalt und als Widerstand gegen sie.

4
Geschichte ist weithin Gewaltgeschichte. Gibt’s, psychologisch betrachtet, eine menschliche Gewaltkonstante durch die Jahrhunderte hindurch? Gesteigert hat sich vermutlich nicht die Gewaltwilligkeit, wohl aber die Effizienz der Instrumente, über die sie heute verfügen kann. Dabei ist nicht allein an die Waffenentwicklung zu denken, sondern ebenso und noch mehr an die umfassende Gewaltpraxis gegen alle natürlichen Lebensressourcen und Lebensgrundlagen. Bereits 1916 ahnte Theodor Däubler:

Wir lasten auf der Welt, wir sind der schwerste Alp auf Erden.

Inzwischen ist der Vernichtungsfeldzug gegen alles Lebendige weit fortgeschritten. Die Poesie allerdings scheint sich an ihm nicht beteiligen zu können. Etwas in ihr selbst hindert sie daran. Anders als Ökonomie und Technik und die ihr dienstbar gewordenen Naturwissenschaften, eher in den Spuren alter Naturkulte, setzt sie auf einen Gesprächsumgang mit der Natur. Ist ein solcher außerhalb kultisch-kollektiver Überlieferung und Rituale, allein nur auf individueller Basis und inmitten einer imperialen Gewaltpraxis contra naturam noch möglich? Zweifel daran, Skepsis und Trauer auch begleiten die moderne Dichtung. Fest steht dennoch: Wer die Hoffnung nicht ganz aufgeben kann, die Natur könne und werde mit uns sprechen, wenn wir nur Ohren für sie hätten, wird sie nicht zur leblosen Manipulationsmasse verdinglichen können, auch nicht in Gedanken, Worten. Es scheint, dass dieses Nicht-Können eine Art innerer Richtschnur, eine Art Entstehungsgesetz der Poesie ist – oder eben: ihre Moral. Bis heute ist Poesie eine Krypto-Animistin geblieben, die der gängigen Verdinglichung und Vermarktung der Natur mit atavistischer Zähigkeit widersteht. Für sie ist die Natur bis heute insgeheim ein Subjekt geblieben, das zu uns „spricht“. Faschistische und sowjetische Techno-Lyrik feierte einst die Unterwerfung der verdinglichten und verdingten Natur unter die imperiale Herrschaft des homo oeconomicus als epochale Triumphe des Fortschritts. Doch wer erinnert sich dieser Gedichte noch? Die immanente Nemesis der Poesie hat dergleichen Gewaltdynamik mit ästhetischem Misslingen und endgültigem Vergessenwerden bestraft. Die gewaltfreie Kraft im Schönen ist zugleich ein Plädoyer für die Schonung all dessen, was lebt und auf seine nicht-anthropozentrische Weise Subjekt ist. Die Wortverwandtschaft zwischen „schön“ und „schonen“ ist nicht zufällig. Sie verrät etwas über die Ethik des Schönen, über die Moral der Poesie. Auch in ökologischem Zusammenhang scheint sich demnach die Behauptung zu bewahrheiten: Poesie ist Moral.

Kurt Marti, Nachwort

 

Bibliographische Notiz

Die vorliegende Lyriksammlung Kurt Martis basiert auf einem Vorgängerband, Der Traum, geboren zu sein, erschienen 2003 im Nagel & Kimche Verlag. Dieser wiederum war fast identisch mit der im Rahmen der Werkauswahl in 5 Bänden, ausgewählt von Kurt Marti und Elsbeth Pulver, edierten Ausgabe Gedichte (Band 5), erschienen 1996 im Nagel & Kimche Verlag. Im Traum wurden damals die Gedichtsammlungen gedichte am rand ausgelassen, die im Radius Verlag, Stuttgart, lieferbar sind, sowie die 2001 neu herausgegebenen Leichenreden. Mit einem Vorwort von Peter Bichsel, die der Verlag Nagel & Kimche zum 80. Geburtstag Kurt Martis publizierte.
Der hier vorliegende Band unterscheidet sich von Der Traum, geboren zu sein durch zwei Textabteilungen: Alle Gedichte in Berner Umgangssprache – „Rosa Loui“, „undereinisch“, „heimatkund“, „tagebuech“, „blondbuech“, „allersiebnisch“ – sind in den neuen Band wo chiemte mer hi? sämtlechi gedieht ir bärner umgangsschprach, herausgegeben von Andreas Mauz und Guy Krneta, hinübergewandert, der anlässlich des 1. Todestages Kurt Martis am 11. Februar 2018 erschien, und zwar in der renommierten Kollektion, die Peter von Matt im Nagel & Kimche Verlag herausgibt. Hingegen ist in Die Liebe geht zu Fuß der nicht mehr einzeln lieferbare Band zoé zebra. neue gedichte mit aufgenommen – der letzte von Kurt Marti selbst herausgegebene Lyrikband, 2004 erschienen im Nagel & Kimche Verlag.

Das hier abgedruckte „Nachwort: Poesie ist Moral“ erschien zunächst in der Festschrift für Michael Butor, The Writers Morality / Die Moral der Schriftsteller, herausgegeben von Ronald Speirs, im Verlag Peter Lang, Bern, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Peter Lang.

 

Die Lyrik Kurt Martis

ist kanonische Schweizer Literaturgeschichte. Marti hat die konkrete Lyrik mit politischen Inhalten verbunden, die Dialektlyrik an die Weltsprache der Poesie angeschlossen, die religiöse Lyrik auf provokante Art von kirchlichen Konventionen befreit, eine Liebeslyrik von eigener Schönheit geschaffen

Verlag Nagel & Kimche, Klappentext, 2018

 

Kurt Martis ausgewählte Gedichte

Die Lyriksammlung des Schweizer Schriftstellers Kurt Marti mit ausgewählten älteren und neuen Gedichten sind wie Gedichte überhaupt – mit nichts zu vergleichen, sie sind einfach da. Und wie wortgewaltig und aussagekräftig sie wirken können, das zeigt der ehemalige Schweizer Pfarrer Kurt Marti (1921 bis 2017) mit seiner Note von konkreter Lyrik. Er konkretisiert satzlos karge wortstämmige Wind- und Wendungen nicht vorwiegend um der Gestaltung willen. Zumeist in Kleinbuchstaben geschrieben, ohne jegliche Interpunktion, gelegentlich moderate Reime, häufige Enjambements, vor allem aber purer Wortsinn für mehr Be-deutungen sind sein Markenzeichen.
In Martis Naturgedichten sind neben Meer- und Alpeneindrücken von der „mater materia“ zu finden: ein zwölfstrophiges Langegedicht, in dem „gehrhythmusrausch“ lockt, und der zwölfmonatige „liebeskalender“, der das Jahr damit abschließt, dass „es sich von der hand in den mund… sanfter“ leben lässt. Und zwar so, wie es etwa „die alten männer“ in Griechenland oder Spanien bei der Siesta pflegen, „bis… die räumung des marktes beginnt“. Dazu korreliert das „horizontale gedicht“ in voller Satzspiegelbreite aus „kindskopfhausen“.
Vor allen anderen sind, wie es der gewählte Titel nahelegt, die Liebesgedichte zum Teil im Klang und Rang des Hoheliedes, „denn die liebe wächst nicht auf den bäumen“ ausgewählt worden oder der Rat an die Rose, stolz zu bleiben und sich nur der Liebe zu beugen.
Wie gesagt, bei Kurt Marti gibt es reichlich poetisch gekonnte Sinn-Bilder, wenngleich er selbst die Frage prüft: „ist klang der sinn?“. Die Antwort scheint eindeutig, denn er schwinge noch voll, auch wenn der Sinn bereits verschollen ist.
Die hier gewählten exemplarischen Anführungen lassen den Facettenreichtum und die vielfältige Bandbreite der lyrischen Gestaltungskraft des einzigartigen Schweizer Lyrikers neuerer Zeit selbstredend für sich wirken und sprechen.
Beachtenswert ist das Nachwort „Poesie ist Moral“ aus der Festschrift für den französischen Schriftsteller, Dichter, Kunstkritiker, Essayisten und Übersetzer Michael Butor.

R. Zenser, amazon.de, 9.4.2019

 

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Timo Brandt: Beglückende Direktheit
signaturen-magazin.de

 

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Otto Friedrich: Hoffen, auch wenn die Hoffnung verrückt ist
Die Furche, 7.2.2001

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Peter Mohr: Gedichte von der Kanzel
titelmagazin.com, 31.1.2011

 

 

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Zum 100. Geburtstag des Autors:

Manfred Pabst: Kurt Marti wollte den Himmel anzetteln auf Erden
Neue Zürcher Zeitung, 30.1.2021

Peter Mohr: Dichter auf der Kanzel
tite-kulturmagazin.net, 31.1.2021

Sarah Jäggi: Postleitzahl: 3000
Die Zeit, 1.2.2021

Judith Wipfler: Pfarrer, leidenschaftlicher Poet und Erotiker
SRF, 30.1.2021

Franziska Loretan-Saladin: Interview mit Markus Friedli Kurt Marti – zum 100. Geburtstag
feinschwarz.net, 29.1.2021

Stephan Cezanne: Sprachkünstler mit nüchternem Blick auf die Ewigkeit
evangelisch.de, 20.1.2021

 

 

100 Jahre Kurt Marti mit Meret Matter und Franz Hohler. Lesung und Gespräch vom 3.12.2020 im Literaturhaus Zürich.

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