– Zu Uwe Kolbes Gedicht „Für den Anfang“ aus Uwe Kolbe: Renegatentermine. –
UWE KOLBE
Für den Anfang
Ich will es hier zu Anfang gleich gestehen,
wie das Gewissen mir noch immer schlägt
und sie, fernab, mir stets vor Augen steht,
die Heimat, die zugleich ich lauthals schmähe.
Lieb Freunde, halb im Wohl und ganz im Wehe,
wenn mir der Westfraß oft den Darm aufbläht,
liegts daran, was die Elbe mir herträgt.
Da wird die zartste Taube letztlich zähe.
Wähnt Mutter nicht mich im Schlaraffenlande?
Spricht Vater nicht Treue als Tugend an
und deutet seltsam heimlich auf die Reußen?
Ich aber suche, endets dreist im Wahne,
ein undeutsch (und drum ungeteiltes) Land,
gleichweit entfernt von Daimlerland und Preußen.
Dieses Gedicht hat Schlagseite. Es taumelt und schlingert dahin, wenn auch auf kunstvolle Weise. So imitiert es, was es besingt: das zweifache Elend eines innerdeutschen Grenzüberschreiters, der aus dem Osten kommend, gerade im Westen angelangt ist und „für den Anfang“ ein paar beruhigende Worte zu sich selbst spricht.
Das war die Lage Uwe Kolbes, als er 1987 mit einem Dauervisum aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelte. Sein Gedicht entstand nicht lange danach. Zu finden ist es aber nicht in Kolbes Gedichtbänden, sondern in dem Band Renegatentermine, einer Sammlung mit Kurzprosa, Essays und Zeitgedichten, in denen der Autor Abschied nimmt von den Hoffnungen, die ihn einmal mit dem „Dreibuchstabenland“, verbunden haben. Nach der Ernüchterung muß er sich als Deutscher des Jahrgangs 1957 aufs neue seiner selbst vergewissern – zwischen einer Vergangenheit, für die der Name Auschwitz steht, und einer Zukunft, die durch die sozialistische Utopie nicht mehr gedeckt ist. „Renegatentermine“ sind eine von Kolbe ersonnene Kategorie, eine Art Lokaltermin mit sich selbst, vorgenommen in Krisenmomenten zwischen Abbruch und Neubeginn. Stets ist dabei eine Fortentwicklung, ein Reifesprung verlangt. Allzu lange stand „Renegat“ für „Verräter“, Kolbe gebraucht das Wort als Ehrenname.
Auch sein Grenzübertritt ist ein „Renegatentermin“, zumal es sich um einen System- und Lagerwechsel handelt.
Wer „Für den Anfang“ laut liest, merkt dem Gedicht seine Arhythmien am schnellsten an. Zeitgedichte müssen Entlastung bringen, sie sollen Überdruck ventilieren, und es schadet nichts, wenn sie von den Umständen ihres Entstehens gezeichnet sind. Ironischerweise ist dieses hier auch noch ein Sonett. Kolbe hat sich also einer der strengsten und symmetrischsten Formen bedient, um sein Leiden desto besser sichtbar werden zu lassen. Eine Menge Unregelmäßigkeiten beherrschen das Gedicht: Die Reime treten auf, wenn man nicht mehr mit ihnen rechnet („herträgt“ auf „schlägt“), außerdem sind sie zum Teil unecht („gestehen / Wehe“). Die Sprache schwankt zwischen Straßenslang („Westfraß“), altertümelndem Pathos („endet dreist im Wahne“) und angestaubten Moralbegriffen („Tugend“). Und die Russen in der Manier des achtzehnten Jahrhunderts Reußen zu nennen grenzt schon ans Lächerliche.
Das Gedicht gehört in die Gattung der Deutschlandklagen. Man meint, aus ihm wie ein fernes Echo eines der Hauptlieder des Genres zu hören, Ernst Moritz Arndts 1813 geschriebenes „Was ist des Deutschen Vaterland? / Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland? / O nein! nein! Nein! // das ganze Deutschland soll es sein!“ Aber solche Töne würden dem armen Dichter den Magen vollends umdrehen. Wenn sein Gedicht in einer Beziehung zu dem Arndtschen steht, dann in einer parodistischen. Dafür sorgt schon die Wirklichkeit. Denn Kolbes Deutschlandschmerz ist nicht so sehr seelischer als körperlicher Natur. Seine Verdauungsschwierigkeiten sind wörtlich gemeint. Die Nahrung im freien Westen bekommt ihm nicht. Der Leib krümmt sich – das Gedicht krümmt sich mit. Dennoch ist es kein wehleidiges Gedicht. Ein trotziger Humor flackert durch seine Zeilen. Recht besehen, wirft die Lage des Dichters ihn auf die Stufe eines plappernden Kindes zurück. Die Mutter verklärt den konsumfreudigen Westen, der Vater beschwört die Bündnistreue zum Osten.
Beide sind ihm als Instanzen nicht mehr geheuer, er will erwachsen werden. Und genau das wird mit dem auftrumpfenden „Ich aber“ der letzten Strophe versucht. Das Deutschland, in dem der Sohn einzig leben möchte, könnte nur eine doppelte Negation sein: „undeutsch“ und „ungeteilt“. Der Gebrauch der Negation verrät seine Definitionsfurcht. Ganz offensichtlich gehört er zu jenen, die eine ganze Menge Gespenster in Schach halten müssen, wenn sie an Deutschland denken.
Wohlgemerkt: Kolbe wünscht es sich „ungeteilt“, nicht etwa „wiedervereinigt“. Geteilt war ein Synonym für deutsch, hieß Frontstellung zweier Staaten derselben Nationalität, die vor allem eines gemeinsam hatten: die Teilung. Deren Aufhebung mag er sich nur als Zuwachs an Freiheit und Freundlichkeit vorstellen. Und als gemeinsame Verantwortung für eine schwierige Geschichte. Wie „ungeteilt“ aber genau aussähe, wäre noch zu entdecken.
Kurt Oesterle, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2000
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