EINLEITUNG
Zur Beurteilung philosophischer Interpretationsperspektiven in der Rilke-Forschung
Wer heute die Absicht hegt, sich dem Rilkeschen Œuvre aus einer deklariert philosophisch-ästhetischen Perspektive zuzuwenden, sieht sich vor eine Art Legitimationsproblem gestellt, dessen Gründe Roland Perlwitz1 Ansichten nach in der Ungelöstheit jenes Fragenkomplexes zu suchen sind, welcher schon wegen des Wirkungsgradius der in ihm verschränkten wissenschaftsphilosophischen und methodologischen Fragen weit über Rilkes Dichtung hinausweist. Versucht man sich dem Schaffen des Dichters in philosophisch-ästhetischen Lektüren näher zu kommen, setzt man sich Voreingenommenheiten aus, welche aber keine Spezifik der Rilke-Forschung darstellen, sondern nach Anselm Haverkamps dezidierter Einschätzung die deutsche Literaturwissenschaft im Allgemeinen charakterisieren. Wie er bezüglich des verhängnisvollen Einflusses der Heideggerschen Philosophie auf den deutschen literaturwissenschaftlichen Diskurs verallgemeinernd formuliert, bestünden kurzsichtige gegenseitige disziplinäre Gattungs-Unterstellungen von Literatur und Philosophie, die endlich ad acta gelegt werden sollten, denn mit den rigiden Anforderungen von der Seite der Literaturwissenschaft werden nur die eigenen Theorie-Defizite kaschiert.2 Einleitend in die nachfolgenden Untersuchungen erscheint es mir demzufolge sinnvoll und sogar ratsam, diejenigen Bedenken ins Auge zu fassen, die die Forschung gegen die sich philosophisch orientierenden Rilke-Lektüren hegt, und dadurch zum einen über die Position und Zielsetzungen der vorliegenden Ausführungen Transparenz zu verschaffen, zum anderen den Versuch zu unternehmen, die Überwindung der gegenseitigen skeptischen Mutmaßungen von Literaturwissenschaft und Philosophie im Sinne Haverkamps voranzutreiben.
Betrachtet man nun die paradigmatischen Einwände, lassen sich diese um vier untereinander aufs Engste verflochtene thematische Gruppen anordnen. An der ersten Stelle handelt es sich dabei um ein wissenschaftstheoretisches Problem, das vor allem die in der Arbeits- und Denkweise der philosophischen und der literaturwissenschaftlichen Argumentationen anzutreffenden generischen Differenzen betrifft, welche in den philosophischen Interpretationsansätzen oft nicht klar genug auseinandergehalten werden. Der zweite Kritikpunkt thematisiert jene Mängel der philosophischen Untersuchungen zu Rilke, die vor allem mit der nicht hinreichenden Klärung des Problems zusammenhängen, ob sich die Fragestellungen dieser Art auf die „Einflussbeziehungen mit Philosophen“ oder eben auf die „Parallelismen“ zwischen dem Dichter und dem jeweiligen Philosophen beziehen. Zum dritten wird von Perlwitz auch die oft anzutreffende Hochstilisierung Rilkes als Seins-Dichters hervorgehoben, die als die Last der Heideggerschen Philosophie überhaupt umschrieben wird, ohne darauf hinzuweisen, dass man in diesem Zusammenhang von Autoren durchwegs älterer, überwiegend ontologisierender Studien (Kaufmann, Bollnow, Brecht) spricht, die zur Zeit der Abfassung ihrer Arbeiten schon aus chronologischen Gründen von Heideggers wichtigsten, ästhetischen Texten nicht einmal Kenntnis haben konnten.3 Perlwitz’ letzte Anmerkung in Bezug auf das Desiderat der philosophischen Untersuchungen thematisiert jenes durch und durch pragmatische Problem, nach welchem die Untersuchungen zu Rilkes philosophischen Lektüren in der Forschung noch immer nicht zureichend koordiniert werden. Das von ihm angesprochene Problem der mangelnden Koordination sollte jedoch nicht einengend nur auf Rilkes eigene Philosophen-Lektüren bezogen werden, sondern auch auf die oftmals sehr divergierenden philosophischen Annäherungen an das Werk des Dichters.
Führt man sich die oben angeführten Einwände Perlwitz’ vor Augen, kann eine sich philosophisch orientierende Untersuchung unmöglich der Reflektierung seiner Behauptungen ausweichen; besonders dann nicht, wenn sich diese Untersuchung keiner der bekannten paradigmenbildenden philosophischen Interpretationen zuordnen lässt, sondern, sich von diesen durch eine weitere Perspektive distanziert, und einer von ihnen abweichenden Argumentationslinie folgt. Um die ästhetisch-philosophische Perspektive der vorliegenden Untersuchung im Kontext der Forschung positionieren zu können, muss unter Bezugnahme auf die Perlwitzschen Einwände zur diffusen Beschaffenheit der philosophischen Interpretationsansätze Stellung genommen werden. Es muss dabei Roland Perlwitz darin in vollem Umfang zugestimmt werden, dass die eigentliche Erbsünde der philosophischen Interpretationsansätze auf die Thesen Fritz Kaufmanns zurückzuführen sind,4 der Rilke den Wunsch zuzusprechen schien, durch die potenzierte Reflexivität seiner Sprache eine sich von der faktischen Welt abschottende absolute Dichtung kreieren zu wollen, wobei seinerseits das Wesen dieser Dichtung aber grundsätzlich undefiniert bleibt. Dass Kaufmann dem reflexiven Charakter der Rilkeschen Dichtung eine teils ontologische, teils metaphysische Erklärung zugrunde gelegt hat, ohne aber dessen fundamentaler poetisch-ästhetischer Funktion nachzugehen, oder diese mindestens zu bedenken, hat den Weg für zahlreiche seinsphilosophisch motivierte Interpretationen frei gemacht, die, durch Martin Heideggers Sein und Zeit inspiriert, in Rilke die poetische Entsprechung des Philosophen erblickt, und vor allem die Duineser Elegien als explizite Illustrationen zum Heideggerschen Gedankengut gelesen haben. Wie verfehlt aber diese Methode war, zeigte sich, als der Aufsatz „Wozu Dichter?“ 1950 veröffentlicht wurde, denn durch diese Studie wurde klar, dass die früheren Interpretationsansätze, die sich auf Heidegger berufen haben, dem Rilke-Bild des Philosophen grundsätzlich zuwidergelaufen sind. Es sei deshalb festgehalten, dass die anstehende philosophisch-ästhetische Annäherung weder nach Parallelen zwischen Rilke und anderen Philosophen sucht, noch den Wunsch hegt, Einflussbeziehungen aufzudecken, sondern es geht ihr darum, Rilkes äußerst heterogene quasi-theoretische Gedanken über das Verhältnis von Kunst und Leben mit Hilfe der Begrifflichkeit der philosophischen Ästhetik zu fassen, und diese bei einem kunstphilosophisch inspirierten Interpretationsansatz der Duineser Elegien anzuwenden.5 Im Anliegen der Arbeit, Rainer Maria Rilkes spätes Hauptwerk aus der Perspektive seines ästhetischen Nachdenkens zu hinterfragen und aufgrund der so gewonnenen Ergebnisse eine Lektüre der Duineser Elegien darzubieten, verbinden sich Fragestellungen, die, philologisch-literaturhistorisch und kunstphilosophisch gleichermaßen motiviert, den Zyklus als den Abdruck der Ästhetik um 1922 deuten, indem sie, darin nach implizit gegebenen kunsttheoretischen und quasikunsttheoretischen Motiven suchend, Rilkes Ideen zur Kunst zu rekonstruieren versuchen. Es wird von diesem Unterfangen erhofft, durch die Eruierung der unentfalteten ästhetischen Ideen Rilkes nach 1910 auch die zentralen Probleme des Elegien-Zyklus in ein neues Licht stellen zu können.
Indem die doppelte Motiviertheit meines Untersuchungsansatzes zur Sprache kommt, wird der erste, von mir als wissenschaftstheoretisch umschriebene Kritikpunkt Perlwitz’ mitreflektiert, nach welchem zwischen der Denkweise der Philosophie und der Dichtung nicht scharf genug differenziert wird. Dieser Einwand wird von ihm zwar nicht weiter präzisiert, man kann aber davon ausgehen, dass er dabei auf den störend deduktiven Charakter vieler Interpretationen hinweisen will, in denen dem poetischen Text eine ihm oft fremde philosophische Konstruktion aufzubürden versucht wird. Im Bewusstsein dieses berechtigten Einwands wird jetzt angestrebt, sowohl Rilkes ästhetische Schriften als auch die Duineser Elegien sozusagen induktiv anzugehen, indem die ihrem Stil und Genre nach außerordentlich heterogenen ästhetischen und kunstphilosophischen Vorstellungen Rilkes begrifflich gefasst, und dadurch relevante Thesen bezüglich seiner späten ästhetischen Ideen aufgestellt werden sollen. Die philosophischen Theoreme der pragmatischen Ästhetik und deren Vorläufer werden im Sinne des Aristotelischen Organon als Werkzeuge des Nachdenkens angewendet, ohne sie in Rilkes Werk hineinzuprojizieren oder gar als Rilkes eigene Ideen verkaufen zu wollen. Die Rechtfertigung dieses Verfahrens findet man eigentlich bei Rilke selbst, der trotz der Tatsache, dass er sich seiner Abneigung gegenüber den Formen systematischen Denkens vollkommen bewusst war,6 nicht umhinkonnte, sich über genuin kunstphilosophische und ästhetische Fragen immer wieder in meist kürzeren Abhandlungen, Briefen, Zeitungsartikeln zu äußern. Um über die Rilkesche Ästhetik Relevantes aussagen zu können, und damit nicht im Sinne der Mahnung Wittgensteins über etwas Unsystematisches und allzu Poetisches und Intuitives schweigen zu müssen, ist man auf ein Organon angewiesen, mit dessen Hilfe die begriffliche Fassbarkeit der auffällig heterogenen Überlegungen zum Wesen der Kunst bewerkstelligt werden wird. Aus diesem Grunde wird in den Kapiteln 1 und 2 versucht, aus paradigmatisch wichtigen Schriften über die Kunst solche Prinzipien und Grundelemente einer sich formenden Theorie herauszudestillieren, die den sich in den einzelnen Schaffensphasen7 stark modifizierenden ästhetischen Vorstellungen zugrunde gelegt werden können. Durch die Untersuchung ausgewählter Aufsätze werden in Anlehnung an die Begrifflichkeit der philosophischen Ästhetik die Praxisorientiertheit und deren logischer Hintergrund, die epistemische Subjekt-Objekt-Struktur als die gemeinsamen Nenner der Rilkeschen Ästhetik aufgezeigt. (1) Die Praxisorientiertheit wird in unserem Kontext vor allem als die Frage nach der Funktion und Aufgabe der Kunst („Auftrag“) innerhalb des menschlichen Weltverhältnisses thematisch gemacht, während (2) die epistemische Folie der Rilkeschen Kunsttheorie als die sich immer ändernde Subjekt-Objekt-Struktur dargestellt wird. Diese wird als die eigentliche Grundstruktur des menschlichen Weltverhältnisses, als das Verhältnis des erkennenden Subjekts zum Objekt des Erkennens umschrieben. Die Relevanz dieser Untersuchungsperspektive zeigt sich besonders transparent, wenn man nach Rilkes Äußerungen zur Kunst in der späten und spätesten Schaffensphase fragt, in denen Schriften im Ästhetik-Genre kaum entstanden sind. Zunächst wird deshalb in den Schriften der frühen und mittleren Werkphasen nach explizit ästhetischen Ideen gesucht, um durch die Untersuchung nach deren Beschaffenheit und allmählicher Modifikationen im Werk Rilkes zu den unentfalteten ästhetischen Prinzipien des späten Hauptwerks vordringen zu können.
Das Desiderat der Kohärenz in Rilkes Überlegungen zur Kunst
Wie in der Forschung schon so oft festgestellt worden ist,8 war Rilke ein durch und durch untheoretischer Geist, bei dem es weitgehend unbegründet erscheinen mag, nach solchen genuin ästhetischen und kunsttheoretischen Schriften zu suchen,9 in welchen theoretische Probleme auf argumentierende Weise und mit transparent-wissenschaftlichem Begriffsapparat ausgearbeitet wären, mit deren Hilfe dann seinem poetischen und ästhetischen Nachdenken zu festen Konturen verholfen werden könnte. Als noch schwieriger erweist sich dabei eine Ästhetik seines späten Œuvres zu rekonstruieren, da die Texte dieses Genres in der Mehrzahl zwischen 1893 und 1904 entstanden sind. Das vorhandene Textkorpus zur Ästhetik beinhaltet ohnehin keine längeren Monografien oder umfassenden Studien, sondern nur kurze, oft als Briefe verfasste Fallstudien, die einerseits pragmatische Annäherungen an den Verlauf der Schaffensprozesse bei anderen Künstlern, Bildhauern und Malern darstellen, andererseits den Prozess der eigenen Schreibtätigkeit reflektieren. Mit Recht verwendet Manfred Koch für Rilkes Kunsttheorie die treffenden Oberbegriffe „Werkanalyse und Werkstattbericht“ und betont dabei, dass in diesen Aufsätzen „beiläufige Bemerkungen über bestimmte Kunstwerke in der Korrespondenz oder in Rezensionen oft gehaltvoller“ seien „als die offiziellen Verlautbarungen über Wesen und Bedeutung der Kunst in programmatischen Aufsätzen.“10 Beim Versuch, den den Duineser Elegien zugrunde liegenden ästhetischen Prinzipien näher zu kommen, stößt man also vor allem auf das objektive Hindernis, dass Rilkes künstlerisches Interesse nach 1910 fast ausschließlich der Praxis der Lyrik galt und er nach 1904 kaum theoretische Texte verfasst hat. In dieser ohnehin problematischen Grundsituation sieht sich der Rezipient besonders auf sich gestellt, wenn er die implizit gegebene poetisch-ästhetische Folie der Duineser Elegien explizit zu machen versucht, und deren kunsttheoretisch interpretierbare Komponenten geradewegs aus den zehn Elegien-Stücken herauszufiltern erhofft. Die eigentliche Herausforderung, der sich die vorliegende Untersuchung stellen muss, besteht deshalb einerseits im Aufzeigen einer mehr oder weniger kohärenten, wenn auch nicht umfassenden Konzeption Rilkes zu Fragen der Kunst, andererseits im Versuch trotz der stil- und genremäßigen Heterogenität der Überlegungen mindestens die Anwesenheit solcher fundamentalen Prinzipien zu entdecken, die dann im ganzen Œuvre zu Geltung kommen werden.
Durch die Heranziehung des Vortrags über Maurice Maeterlinck11 aus dem Jahre 1902 lässt sich im Textkorpus der ästhetischen Schriften ein Aufsatz aufweisen, in welchem in Bezug auf den flämischen Autor die Problematik des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben in relativer Kohärenz und Transparenz reflektiert wird. Hier gelingt es Rilke sich über seine ästhetisch-philosophischen Ideen verhältnismäßig exakt zu äußern, indem er bezüglich der Funktion der Kunst und der Aufgaben und Möglichkeiten des Künstlers jene Ideen formuliert, die nicht nur zum Verständnis der ästhetischen Vorstellungen seiner früheren und mittleren Schaffensphasen beitragen, sondern in Keimform auch das künstlerische Credo seines späten und spätesten Œuvres transparent antizipieren. In der Zielsetzung der anstehenden Darlegung der von Rilke profilierten Ideen Maeterlincks verbindet sich die Sichtbarmachung der Eckpunkte des ästhetischen Denkens Rilkes mit dem Hinweisen auf deren Weiterleben und Modifikationen im impliziten ästhetischen Konzept der Duineser Elegien. In Rilkes Maeterlinck-Lektüre lassen sich zwei solche Problemkreise ausmachen, welche jetzt als die Eckpunkte einer sich abzeichnenden Kunst-Vorstellung untersucht werden.
Eckpunkt 1
Die Aufgabe der Kunst sei „nach dem Anschluss an die Wahrheit unseres Lebens zu suchen, die hinter allen Dingen wie eine große gemeinsame Mutter wohnt.“12
Zu allererst sei jene thesenartige Aussage des Aufsatzes hervorgehoben, nach welcher der Kunst eine Aufgabe zugesprochen werden kann, die – die zentralen Komponenten des ästhetisch-poetischen Konzepts der Duineser Elegien vorwegnehmend – darin bestehen soll, sich zur Welt durch die Kunst in Bezug zu setzen, indem die durch die tradierten Weltdeutungen verdeckten Bezüge des menschlichen Weltverhältnisses sichtbar gemacht werden, und ein neues – ästhetisches – Verhältnis zur Welt initiiert wird. Es stellt sich dabei natürlich die Frage, wie der den flämischen Dichter deutende Rilke diesen Anschluss an die Wahrheit des Lebens zu realisieren glaubt. An einer früheren Stelle des Maeterlincks-Essays schreibt er, jeder große Dichter arbeite an einem großen Werk, das „[…] das einzige wirkliche Werk der Menschheit ist und das, um es kurz zu sagen, ,Suchen nach Wahrheit‘ ist“.13 Wenn man den Sinn dieser Thesen zu erfassen sucht, muss der Akzent zunächst auf den Wahrheitsbegriff gelegt werden, indem man, auf Rilkes Formulierung achtend, die Wahrheit als die „Wahrheit unseres Lebens“ ins Auge fasst, und nicht mit der Wahrheit der „Weltweisheit“14 (der Philosophie) verwechselt. Er behauptet, dass „ähnlich wie in den Tagen der griechischen Welt der Schönheitsbegriff mit dem Moralbegriff15 zusammenfiel, heute zwischen Schön und Wahr Annäherungen geschehen sind, die noch keine frühere Zeit zu verzeichnen hat.“16 Rilkes Beispiel zeugt von der Einsicht, dass die Kunst seiner Zeit, ähnlich dem griechischen Altertum, nicht als eine der Lebenspraxis fremde Entität behandelt werden soll, sondern eben als etwas, das eine Verbindung (Anschluss) zur Wahrheit des Lebens stiftet. Das moralisch Schöne als die Wahrheit des Lebens hängt in der Aristoteles-Argumentation mit der Wissensform der Phronesis zusammen, die nur dann erreicht wird, wenn der Mensch sein Leben lang gemäß der Vernunft handelt und ein redliches Leben führt. Der Kunst wird dabei die Rolle zuteil, dem Sich-Zurechtfinden des Menschen in seiner eigenen Welt beizutragen.17 Wenn Rilke den Moralbegriff des Altertums zum Wahrheitsbegriff des 20. Jahrhunderts in Parallele stellt und über die Annäherung der beiden an die Kunst redet, macht er damit deren lebenspraktische Motiviertheit thematisch und verortet sie zugleich in einem pragmatischen Kontext, indem über die Kunst aus der Perspektive ihrer Funktion und Aufgabe gesprochen wird.
An Maeterlincks Kunstauffassung mochte demnach für Rilke besonders dessen Überzeugung faszinierend erscheinen, der Kunst die Funktion des Bezugsstiftens zwischen Subjekt und Welt zusprechen zu können, indem das Subjekt statt seiner früheren transitiven Deuter-Position gegenüber der Welt ein neues, offenes Verhältnis zu ihr realisiert. Wird die Bezugsstiftung durch die Kunst zunächst als die Suche nach dem Anschluss an die Wahrheit des Lebens umschrieben, muss dieses Prinzip näher bestimmt werden. Worum geht es dem Dichter, wenn er über die Wahrheit des Lebens spricht? Was für implizite Distinktionen kommen dabei zum Ausdruck? Im Gegensatz zur das Leben transitiv beschreibenden statisch-formallogischen Richtigkeit, handelt es sich bei der „Wahrheit des Lebens“ um ein Geschehen, bei dem von der Wahrheit nicht im Sinne einer mathematischen Formel, sondern im Sinne eines dynamischen Prozesses gesprochen wird, in welchem das Subjekt herausgefordert ist, sich an diesen Prozess anzuschließen, um ihn mitgestalten zu können. Die Art und Weise des Anschlussprozesses ist es, worauf es Rilke bei seinen ästhetischen Fragestellungen ankommt. Die Kunst sollte sich nicht „an die kleinen und unwichtigen Wirklichkeiten des Tages“ wenden, sondern „Anschluss an die Wahrheit unseres Lebens“ suchen. Die poetisch-ästhetische Idee der Duineser Elegien, sich dichterisch zur Welt in Bezug zu setzen und dadurch die transitive Außenposition des Deuters zu überwinden, ist also schon im Maeterlinck-Aufsatz in Keimform vorhanden. Der poetisch-ästhetische Anschluss an das sich dynamisch ändernde Subjekt-Welt-Bezugssystem wirft jedoch die pragmatische Frage auf, wie diese verbindungsstiftende Aufgabe bewältigt werden kann.
Eckpunkt 2
Der Künstler bewältigt seine Aufgabe, wenn er „das Dasein bis an die Grenzen dieser großen und unbeweglichen Wahrheit verfolgt“18
Die Wahrheit des Lebens stellt etwas Großes, Unbekanntes19 dar, das sich den transitiven Deutungsversuchen immer wieder entzieht, was vom Menschen eine grundsätzlich veränderte Einstellung, und letztendlich ein verändertes Weltverhältnis erfordert. Die Aufgabe der Kunst besteht demnach genau darin, dem Menschen dadurch die Möglichkeit zum Anschluss an die Wahrheit des Lebens zu geben, dass ihn zu einem neuen Welt- und Selbstverhältnis herausfordert, indem ihn an die äußersten Grenzen der tradierten Deutungsschemen bewegt, wo diese dann ästhetisch-poetisch suspendiert werden können. Maeterlinck sei, wie Rilke schreibt, der Dichter dieses Unbekannten, der „versucht, tastend und horchend, die Richtung einzuhalten, in welcher wir sie [die Wahrheit] vermuten.20 Die eigentliche Frage bezieht sich nun auf das Wie dieses Anschlussprozesses, darauf, wie durch das Kunstwerk bewerkstelligt werden kann, das frühere Subjekt-Welt-Verhältnis ästhetisch-poetisch zu erschüttern.
Die Bedeutung des Maeterlinck-Essays in Bezug auf Rilkes ästhetisches Denken wird dann besonders ersichtlich, wenn es nach den poetisch-ästhetischen Prinzipien der Realisierung des Anschlusses an die Wahrheit des Lebens untersucht wird. Die hier vorfindbaren Formulierungen nehmen schon jene Vorstellungen vorweg, die später auch die implizite Ästhetik der Duineser Elegien prägen werden. An erster Stelle soll aber auf Maeterlincks Vorbildcharakter bezüglich der Verwandlungs-Idee21 aufmerksam gemacht werden. Rilke resümiert Maeterlinck: „Dort, wo er“ (der Mensch als objektiv gegebenes, physikalisches Wesen; Anm. von L. M.) „aufzuhören scheint, fängt der Mensch wahrscheinlich an, wo sein sichtbares Leben zu Ende ist, dort beginnt das Leben seiner Seele, welches das einzig wirkliche Leben ist.“22 Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich hier um die ontologisierenden Wurzeln der Idee der transzendentalpoetischen Einheitsstiftung zwischen Subjekt und Welt handelt, deren Grundstruktur später auf ontologischer, metaphysischer und poetischer Ebene gleichermaßen zur Geltung kommt, und als solche den epistemischen Kern der Verwandlungs-Idee bildet. Der Maeterlinck-Aufsatz liefert auch Formulierungen, die als Anhaltspunkte für die Probleme der Reziprozität des Subjekt-Welt-Verhältnisses dienen und dadurch das Theorem des Ganzsein-Könnens zu erhellen helfen. Dieser Tatsache muss deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil in der Idee des Ganzsein-Könnens der Sinn des – als die Aufgabe der Kunst aufgezeigten – Anschlusses an die Wahrheit des Lebens mitreflektiert wird. Der Dichter ist derjenige Mensch, der die „Schönheiten und seine Schrecken [des Lebens] in gleichem Maße liebt, und von seinen Wundern erzählt wie von Wirklichkeiten“.23 Die zu erreichende transzendentalpoetische Einheit vom Schönen und Schrecklichen, von der der Dichter erzählen muss, wird in den Elegien sogar zum Grundgesetz der Wahrheit des Lebens erhoben, für deren Realisierung die Dichtung und die Kunst überhaupt zu berufen sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch Rilkes Behauptung über das Grundgesetz der Maeterlinckschen Lebensauffassung, welches als „die Verinnerlichung, die Zusammenfassung aller Kräfte in unserer Seele, Erweiterung dieser Seele zu einer Welt, die mächtiger ist als jene unheilvolle Welt des Schicksals, die dem Menschen so lange drohend und feindlich gegenüberstand“24 umschrieben wird. Wenn die Dichtung den Anschluss an die Wahrheit des Lebens durch die Verinnerlichung realisiert, muss der Prozess der Durchführung dieser Verinnerlichung konkreter gefasst werden. Rilke erblickt Maeterlincks Bedeutung in dessen Verhältnis zum Medium der Schriftkunst, denn der flämische Dichter maß der Materie der Sprache ähnlich plastische Funktion zu wie den Werken der bildenden Kunst, und demzufolge forderte er eine ähnliche Annäherungsweise an sie. Nach Rilkes Interpretation liege der Inhalt eines Bildes nicht in seinem Thema, „sondern in etwas anderm, das an allen Stellen diesen Inhalt durchdringt, und durchleuchtet, über sich selbst hinaus erhebt und verklärt“.25 Der Akzent muss zum einen auf die Materie des Kunstwerks gelegt werden, zum anderen auf den Begegnungsprozess zwischen Rezipient und Kunstwerk. Das poetisch-ästhetische Zustandekommen des Anschlusses an die Wahrheit des Lebens wird als echtes Ereignis beschrieben, das dem Menschen Glück beschert:
Es ist gleichsam die Wärme, die bei der Arbeit entsteht, welche wir leisten, wenn wir ein Ereignis, das uns von außen anrührt, aufnehmen und zu unserem eigenen umgestalten.26
Das Gesagte resümierend sei nochmals hervorgehoben, dass die im ersten Eckpunkt dargelegte eigentliche Aufgabe der Kunst in der transzendentalpoetischen Einheitsstiftung zwischen dem Subjekt und seiner Welt besteht, was als Kern des sog. ästhetischen Weltverhältnisses bereits das poetisch-ästhetische Verwandlungs-Konzept der Duineser Elegien vorwegnimmt.
Die Heranziehung des Maeterlinck-Vortrags diente erstrangig dazu, trotz Rilkes bekannter Unaffinität gegenüber theoretischen Argumentationsstrukturen, ästhetische Prinzipien zu ermitteln, die zwar nicht als Basis für eine kohärent-systematische Ästhetik angesehen werden können, aber beim Erfassen der intuitiv erbrachten Ideen Rilkes zum Verhältnis der Kunst und des Lebens doch als Stützpunkte fungieren. Von den nachfolgenden Ausführungen wird nun erhofft, zur Erforschung des ästhetischen Denkens Rilkes dadurch beitragen zu können, dass dem überwiegend ontologisierenden Verständnis der Duineser Elegien ein Interpretationsansatz beigesteuert wird, der den Zyklus sowohl auf poetologischer als auch auf kunsttheoretischer Ebene in ein neues Licht stellt, und auf diese Weise den Rilkeschen Ideen mehr Transparenz verschaffen kann.
– Danksagung
– Einleitung
Zur Beurteilung philosophischer Interpretationsperspektiven in der Rilke-Forschung
Das Desiderat der Kohärenz in Rilkes Überlegungen zur Kunst
1. Das Problem der Systematisierbarkeit der Rilkeschen Ästhetik
1.1 Die Grundprämissen des Entwurfs einer pragmatischen Ästhetik bei Rilke
1.2 Rilkes späte Ästhetik im Kontext der pragmatisch-kunstphilosophischen Argumentation
1.2.1 Die begriffliche Erfassung des ästhetischen Weltverhältnisses
2. Rilkes Überlegungen zur Kunst als ästhetischem Weltbezug
2.1 Zur Ästhetik der frühen Schaffensphase: die Ästhetik des Subjekts
2.2 Der Übergang zur Ästhetik der mittleren Schaffensphase
2.3 Zur Ästhetik der mittleren Schaffensphase: die Ästhetik des sachlichen Sagens
2.4 Der Übergang zur Ästhetik der Duineser Elegien: das Sehen-Lernen
3. Zur impliziten Ästhetik der Duineser Elegien
3.1 Die ästhetische Desintegration in der Elegien-Ästhetik
3.1.1 Stilmittel des intuitiv verlaufenden In-Bezug-Setzens zum Kunstwerk
4. Zu einem Leitparadigma der Elegien-Forschung (ein Exkurs)
5. Eine Interpretation der Duineser Elegien
5.1 Zu den Prinzipien des ästhetischen Weltverhältnisses in den Duineser Elegien
5.2 Das Vokabular des Brauchens
5.3 Der Engel, der absolute Bezugspunkt
5.3.1 Der Engel als poetisch-ästhetische Reflexionsfigur
5.3.3 Die transzendentalpoetische Überwindung der Subjekt-Welt-Gespaltenheit
5.4 Das Zusammenspiel von Engel und Puppe
5.5 Der imaginäre Ort des poetischen Weltverständnisses
5.6 Zum anti-transzendenten Charakter des ästhetischen Weltverständnisses
5.7 Die Bewältigung des Auftrags durch das reine Wort
5.8 Die Dinge in dem anderen Bezug
6. Die zehnte Duineser Elegie: das Exemplum der Ausführung des Verwandlungs-Konzepts
6.1 Der Klage-Mythos. Die Bezugsstiftung durch das reine Wort
6.1.1 Thematische Reflexion auf den Prozess des poetischen Bezeichnens
6.2.1 Schauplatz 1: Die Leid-Stadt
6.2.2 Schauplatz 2: Hinter der Leid-Stadt: die unbeschienene Seite des Lebens
6.2.3 Schauplatz 3: Der Wanderweg im Leid-Land
7. Zusammenfassung
– Literaturverzeichnis
verfolgt ein doppeltes Anliegen, indem von den äußerst heterogenen ästhetischen Ideen der frühen und mittleren Schaffensphasen von Rainer Maria Rilke ausgehend, die Duineser Elegien in den Fokus nimmt, und den Zyklus als eine Art Abdruck der unentfalteten, sogenannten ungeschriebenen, späten Ästhetik Rilkes deutet. Die Untersuchung entwirft eine sich ästhetisch orientierende Lektüre der Elegien, wodurch einerseits die implizit gegebenen Rilkeschen Ideen zur Kunst rekonstruiert werden können, andererseits das Ganze des Zyklus in neues Licht gestellt wird. Die Untersuchung nähert sich dem zentralen Problem in zwei Perspektiven, von denen die erste nach der epistemischen Struktur hinter den divergierenden kunsttheoretischen Überlegungen des Dichters fragt, indem deren sich immer ändernde Subjekt-Objekt-Struktur analysiert, während sich die andere Untersuchungsperspektive auf die generische Praxisorientiertheit der Kunstbetrachtungen Rilkes hinweist, und diese mit Hilfe der Begrifflichkeit der zeitgenössischen pragmatischen Kunstphilosophie zu erfassen vorschlägt. Von Rilkes Äußerungen ausgegangen wird vor allem nach der Funktion und Aufgabe der Kunst („Auftrag“) innerhalb des menschlichen Weltverhältnisses gefragt, und diese als das ästhetische In-Bezug-Setzen zur Welt verständlich gemacht. Der Elegien-Text wird mit der philosophisch-ästhetischen Untersuchungsstrategie danach untersucht, wie die früheren ästhetischen Vorstellungen seines Autors in dessen späteren Schaffensphase weiterleben. Die hier angewandte Methode trägt dazu bei, die zentralen Figuren und Phänomene der Elegien in eine neue, bislang unbeachtete poetisch-ästhetische Perspektive stellen zu können, und dadurch die vorherrschende ontologisch-hermeneutische Lektüretradition in der Richtung der Ästhetik zu überwinden.
Praesens Verlag, Klappentext, 2020
Hans Egon Holthusen: Der späte Rilke, Merkur, Heft 8, Februar 1948
Hans Egon Holthusen: Rilke-Finsternis? Gedanken anläßlich des 100. Geburtstages, Merkur, Heft 330, November 1975
Carl J. Burckhardt: Ein Brief über Rilke, Merkur, Heft 330, November 1975
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