JIDDISCHES SONETT
Die 24 Sonette für Regi und Charles Aukin
2
Wir, die wir schneller noch als unser Wort verblassen,
Und sind wir auch der Schöpfung Ziel und Sinn –
All unsre Fantasie kann wohl die Schöpfung fassen,
Doch nicht den letzten, unsern Urbeginn.
In jedem Worte atmest du das Leben kühl, gelassen,
Und siehst doch: auch die Sterne gehn dahin.
Von Liebe ist dein Geist beflügelt und vom Hassen,
Kannst doch nicht sagen so wie Gott: Ich bin.
Wir sind nur Spiegel seiner schweigenden Gestalt.
Durch uns will er das Leben mit dem Tod verbinden.
Wenn unser Leib in Staub zerfällt, alsbald
Sieht man ein neues Flämmlein sich entzünden.
So gehn wir auf in Wunden und – verschwinden
Und leben ewig heiß und sterben ewig kalt.
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Als er Mitte des vorigen Jahrhunderts, im Paris der 50er Jahre, einem ihm noch unbekannten jiddischen Schreiber begegnete, habe er sich gefragt: ist das ein wirklicher Dichter? und sei zu der Antwort gekommen: Seht, welch ein Poet! – So der Literaturkenner Dr. Josef Bernfeld.
Auch andere erkannten Größe und Eigenart dieses Dichters, der nach der Schoa und nach dem Krieg mit einem Œuvre jiddischer Lyrik hervortrat. Der staunen machende Poet knüpfte zwar an Traditionen der jiddischen Ballade an, verband sie jedoch mit den poetischen Rebellionen der Moderne – denen des Symbolismus, des Expressionismus, manchmal des Surrealismus. Die existentiellen und geistigen Zerreißspannungen, mit denen er zu leben hatte, und die er in seine Verse zwang, waren weder mit den traditionellen noch mit neueren Dichtungsarten zu bewältigen – er brauchte sie alle zugleich.
Damit hat er bei der jiddischen Kritik nicht nur Bewunderung, sondern auch Irritation erzeugt. Allzu kühn und bizarr erschienen manchem traditionsgläubigen Schreiber die Bilderwelt und der Ton dieses Neuerers. Und daß er nach der Schoa, als andere jiddische Künstler sich rigoros von der einst so geliebten deutschen Kultur abwendeten, seine Dichtungen bei einem deutschsprachigen Verlag in Zürich herausbrachte und damit auch eine deutsche Leserschaft ansprach, löste Befremden aus.
Als Lajser Ajchenrand 1976 den Itzik Manger-Preis verliehen bekam, der – nicht wegen seiner Dotierung, doch wegen seines Ansehens – der „jiddische Nobelpreis“ genannt worden ist, entschied die Jury einstimmig. Die Begründung verwies auf das Innovatorische seiner Poesie. Er habe die jiddische Dichtung der modernen westeuropäischen Poesie genähert, ohne ihre Eigenart und Besonderheit aufzugeben.
Dieser Dichter, der die Schoa mit großer poetischer Intensität und Eigentümlichkeit zur Sprache brachte, wurde außerhalb des jiddischen Kulturkreises nur wenig wahrgenommen. Im deutschsprachigen Raum lebend, bestand er darauf, weiterhin ausschließlich jiddische Gedichte zu schreiben. Das schien verwunderlich und hatte doch viele Gründe.
Jiddisch war die Sprache der Mutter, des Vaters, der geliebten Schwester Etke und all der andern Umgekommenen, mit denen er täglich und nächtlich Zwiesprache hielt.
Das Jiddische verband ihn mit der Dichtung, Religion, Philosophie, Geschichte des Judentums, dem geistigen Boden, aus dem dieser Antäus seine poetische Kraft gewann. Aber das Mameloschen, seine jiddische Muttersprache, verstand er nicht als Medium der Abgrenzung. Es gehörte für ihn zu jener umfassenden Weltsprache der Poesie, wo die einzelnen Dichteridiome münden, auch das Deutsche und das Jiddische. So schrieb er:
Die Sprache des Dichters erhebt sich über alle nationalen und sprachlichen Grenzen – wie der lebendig schwingende Rhythmus des ewigen Alls.
Schon auf Grund der frühen Gedichte Ajchenrands hatte sich Hermann Hesse bei der Eidgenössischen Fremdenpolizei für den Autor eingesetzt.
Ich habe zu Herrn Layser Ajchenrand keinerlei persönliche Beziehung. Doch kenne ich eine Anzahl seiner sehr wertvollen, schönen und eigenartigen Gedichte, die ich sehr schätze, und die nicht nur als schöne Zeugnisse einer besonderen Begabung fortbestehen werden, sondern auch als mahnende Dokumente des jüdischen Schicksals in unsern Tagen. Dieser Dichter gehört zu den besten dichterischen Sprechern und Vertretern seines Volkes…
Und in einem Brief an den Autor schrieb er:
Hochgeschätzter Herr Ajchenrand… Sie wissen schon, daß ich von Ihren Gedichten einen starken und schönen Eindruck habe. Wir Dichter haben, unter andrem, die Aufgabe, das von den Menschen unsrer Zeit Erlittene auszusprechen. Ob das nun auf pathetische oder sentimentale, auf klagende oder auf anklagende Art geschieht, es ist in jedem Falle notwendig, und muß der Menschheit auf ihren unbeholfenen Kinderschritten der Entwicklung ein wenig helfen. Die heutige Größe des Leides gibt uns eine Solidarität, die alle Völker und alle Arten von Dasein und Leiden umfaßt. Das Unerträgliche muß zu Wort kommen, um vielleicht überstanden zu werden. Darin sind wir Brüder.
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Lajser Ajchenrand wurde am 23. September 1911 (oder 1912) in Dȩblin geboren, einem polnisch-jüdischen Städtchen südöstlich von Warschau, und lebte später mit der Familie in Kurow nahe Majdanek. Vor 1915 stand Deblin unter russischer Herrschaft und hieß Iwangorod. Dort lag eine der drei russischen Weichselfestungen, die während des ersten Weltkriegs mehrfach umkämpft wurde.
Der Vater war Melamed (Lehrer in der jüdischen Elementarschule), außerdem Schneider, und bei alldem so arm, daß der kleine Lajser schon früh durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beitragen mußte. Seine Schwester Etke förderte seine Leidenschaft für Literatur.
Der Vater starb schon vor dem zweiten Weltkrieg. Die Mutter, die Schwester und deren Familie wurden Opfer der Schoa.
Der werdende Dichter siedelte 1937 nach Paris über und lebte dort, wie sein Bruder Fischi, von Schneiderarbeit. Als die deutschen Heere Frankreich überfielen, meldete er sich als Freiwilliger zu einem Ausländerbataillon der Französischen Armee. Nach der Niederlage wurde er in einem Arbeitslager des Vichyregimes in Rufieux Haute-Savoie interniert. 1942, kurz vor der Deportation, gelang ihm die Flucht. Er rettete sich in die Schweiz – und durfte bleiben. Aber er verbrachte hier weitere Jahre in Arbeitslagern.
Sein literarisches Talent half ihm, Freunde zu finden, die sich für seine Freilassung einsetzten: Jo Mihaly, Leopoldt Lindberg, Carl Seelig u.a. 1945 nahm er Wohnung in Zürich. Hier erschienen beim Carl Posen Verlag mehrere Drucke seiner Lyrik: Wir verstummen nicht (Gedichte in der Fremde), gemeinsam mit Jo Mihaly (Elfriede Steckel) und Stephan Hermlin (Rudolf Leder); 1945. Hörst du nicht? Jiddische Gedichte, mit deutschen Übertragungen von Walter Lesch, an denen zweifellos auch der Dichter mitgewirkt hat; 1947. Eine kleine Broschüre Gedichte aus dem Material dieser Sammlung ging 1946 dem Band voraus.
Zeitweilig hielt sich Ajchenrand in Paris auf, und 1953–54 für ein Stipendienjahr in Buenos Aires. 1957–61 lebte er in Israel. Danach ließ er sich dauerhaft in Zürich nieder.
Die Schweizer Staatsbürgerschaft, die er Anfang der 60er Jahre beantragte, wurde ihm mit formalen Begründungen abgelehnt. Er verzichtete auf weitere Gesuche und blieb staatenlos, aber nicht heimatlos. Schon 1952 hatte er seine Lebensgefährtin, die Schweizerin Claire Ringgenberg, kennengelernt. Das Paar heiratete 1961 in London und bekam zwei Söhne, David (geboren 1963) und Raphael (geboren 1968).
Ohnehin besaß Ajchenrand inzwischen Bürgerrecht in der Literatur. 1953 erschien in Paris sein jiddischsprachiger (diesmal in hebräischen Lettern gedruckter) Band mimaamakim (Aus der Tiefe). Darin hat er die Gedichte aus Hörst du nicht weitergeführt, neu gruppiert und durch neue, gewichtige Zyklen ergänzt.
Ajchenrand reiste mehrfach nach Israel, wo alle seine späteren Lyrikbände erschienen: doss brojt fun zar (Das Brot des Leidens, 1964), dorscht noch dojer (Durst nach Dauer, 1970), landschaft fun gojrl (Schicksalslandschaft, 1979), zwischn itzt un kejnmol (Zwischen Jetzt und Nie, 1984); später der Nachlaßband di ejbike rege (Der ewige Augenblick, 1988), von M. Litvine betreut.
In Israel hatte er den großen jiddischen Dichter Abraham Sutzkever kennengelernt und blieb ihm lebenslang in Freundschaft verbunden. 1968 war ihm in Zürich der Salomon-Steinberg-Preis zur Förderung jüdischen Geisteslebens zugesprochen worden. Den Itzik-Manger-Preis verlieh man ihm 1976 in Tel Aviv.
Lajser Ajchenrand ist am 12. November 1985 in Männedorf/Zürich gestorben.
Wenn befreundete Schriftsteller und Künstler in Erinnerungsartikeln seine Persönlichkeit skizzieren, schildern sie seine Leidenschaft für die Lyrik. Carl Seelig schreibt:
Noch selten bin ich einem Schriftsteller begegnet, der von seiner lyrischen Berufung und Aufgabe so besessen ist wie Lajser Ajchenrand.
Alfred A. Häsler sagt in der Totenrede:
Weil er so tief in der Philosophie, der Religion und der Tradition des Judentums wurzelte, war alles Doktrinäre, Erstarrte und Erstarrende ihm fremd. Weil sein Geist sich aus der Quelle seines Herkommens nährte, blieb er lebendig und allen geistigen Strömungen der Gegenwart zugewandt.
Sigmund Bendkower resümiert:
Lajser Ajchenrand ist nach allen gültigen Maßstäben der Dichtkunst ein großer Dichter. Er ist im besten Sinne ein moderner Künstler, der auch die formalen Mittel vollendet beherrscht. Aber er hat sein persönliches hohes Niveau zu einer Zeit erreicht, da das Volk seiner Sprache, sein lebendiger Nährboden, das Kraftfeld des dichterischen Nehmens und Gebens, nicht mehr existiert.
Tuvia Rübner notiert: Die Existenz eines jiddischen Dichters in der Schweiz sei für ihn verblüffend gewesen.
Und das trotz der gewissen Verwandtschaft zwischen dem Jiddischen und den deutschschweizerischen Dialekten, die beide ihrer mittelhochdeutschen Wurzel treu geblieben sind. Später verstand ich den Zusammenhang. Lajser Ajchenrand war seinem Wesen nach zuhause: als Fremder. Seine Art war das dem Selbstverständlichen Widersprechende, und so war auch seine Dichtung.
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Der früheste Text Lajser Ajchenrands, der uns erhalten blieb, wurde 1934 durch Vermittlung der Schwester Etke in einer Warschauer jiddischen Zeitschrift abgedruckt. Später hat ihn der Dichter in den Band Wir verstummen nicht eingerückt:
HEND ZUM VARKOIFN
(Ballade)
Wenn letzter Gaßnlamtern derbrennt,
Tog zehenkt sich iber Gaßn un Hoifn,
Nehm ich meine hungerike Hend
Un trug sei zum varkoifn…
Dieser Band enthält auch das programmatische Gedicht „An Dante“, in dem gefragt wird:
Wo bist du, Dante? Es gibt keine Stadt,
Wo nicht die Hölle schreit.
Andere Balladen, durchaus in jiddischer Tradition, handeln von sozialer Not, von Revolution und „letztem Gefecht“, vom Krieg, von der Rache für die ermordeten Väter und Mütter, von den Gefallenen des Warschauer Ghettos und von einem Manne, der am 1. Mai 1944 erschossen wurde.
In dem Folgebuch Hörst du nicht? treten diese Texte und ihre Themen zurück. „Fahnen, offene Tore des Todes“, heißt es hier. Noch in mimaamakim begegnet es, daß Moses’ Worte wie rote Fahnen flattern. Doch wo es früher geheißen hatte: „Volk, du spielender Zorn / Zwischen Teufel und Gott“, steht nun:
Wir sind die Feuerbrücke
Zwischen Teufel und Gott
Ajchenrands Lyrik ist tief durchlebt und durchlitten, und doch keine Erlebnislyrik in üblichem Sinne. Wie sehr er seine Eltern und die Schwester verehrt, geliebt, betrauert hat, kann man seinen Versen ablesen. Aber von den äußeren Lebensumständen des Dichters erfährt man darin nur wenig.
Das lyrische Ich ist nicht autobiografisch bestimmt. Es wird zum Generations-Ich, zum Menschheits-Ich erweitert. Der Mensch als Ich und Wir zugleich, als mythisch überhöhtes Individuum wird Sprecher und Gegenstand der Lyrik.
Die Gedankenwelt des Buches mimaamakim wurzelt in altjüdischen Traditionen der Religion und Philosophie. Der Dichter lebt mit der Bibel und ihren Gestalten, ohne in landläufigem Sinne fromm zu sein. Das lyrische Ich ist hier zumeist ein jüdisches Ich, verwandt den Gestalten des Pentateuch, der Propheten-Bücher und der Hagiographen. Manchmal trägt es Züge eines Propheten oder Sehers. Da ist von Hiob die Rede, der in uns immer neu geboren wird, von Adam, Kain und Abel, von Moses, David, von Hesekiel und Jeremia. Und von Engeln, die den Versen Georg Trakls entstiegen sind.
Der Titel mimaamakim (Aus der Tiefe) beruft sich auf den berühmten 130. Psalm, der in der lateinischen Bibel „De profundis damavi ad te Domine“ hieß, oder in Luthers wirkungsreicher Nachdichtung „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“. Aus der Tiefe des Leides, der Erniedrigung, der Verzweiflung und des Zweifels, der Empörung und der Hoffnung. Mehr als alle die anderen Psalmen hat dieser Text Komponisten und Dichter inspiriert: Gluck, Bach, Mozart, Schönberg, Penderecki…, Baudelaire, Wilde, Trakl…
Zwei Gedichte dieses Titels – und viele andere aus diesem Themenkreis – sind in dem Band mimaamakim zu früheren Texten hinzugetreten und bilden mit ihnen ein sorglich komponiertes Motiv- und Themengeflecht.
Es wird mehrfach berichtet, Ajchenrand habe auf die Frage nach seinem Alter mit „2000 Jahre“ geantwortet. Er ist ein Mensch der Diaspora, des jüdischen Exils. Aber beim Entwurf seines dichterischen Kosmos greift er noch weit vor den Beginn dieser „Zerstreuung“ zurück. Sein lyrisches Universum reicht von der Genesis bis zum Ende aller Zeiten, bis zum Tag des Gerichts. Eine gewaltige Szenerie für ein Calderonsches Großes Welttheater, ein imaginärer Raum für sein tragisches Menschheitsdrama, das in der Ungeheuerlichkeit der Schoa kulminiert.
Er entwirft Visionen, Träume und Alpträume, fantastische Szenen. In den Gedichten wird häufig ein Du angesprochen, das unterschiedlichste Adressaten bezeichnen soll, oft rätselhaft und irritierend: der Dichter; der Mensch, die Generation, das Volk; die ungeborenen Kinder und Enkel. Die Toten, und der Tod; das Schicksal; die Engel; Gott. Der verborgene, der unerreichbare, der schweigende, der unbegreifliche, in einem kristallenen, vereisten, versteinten Himmel. Ajchenrand hat eine eigene Art, das biblische Bildnisverbot zu erfüllen. Der Leser sollte nicht allzu sicher sein, diesen Gott zu kennen. Er wird sich mit dem Dichter auf die Suche machen, wird mit Gott rechten und ringen, auch wohl an ihm zweifeln und verzweifeln. Manchmal in den Gedichten, so auf einer monumentalen Felsenbühne um Mitternacht, geschieht es, daß Gott sich selber erkennt. Wie in einer unio mystica finden Mensch und Gott immer neu zu ihrer widersprüchlichen Einheit.
Wenn Lajser Ajchenrand biblische Themen, Motive und Gestalten aufgreift, nutzt er nicht die Formensprache der althebräischen und aramäischen Dichtungen, sondern die der Moderne. Aber dem altüberlieferten Parallelismus entspricht bei ihm die Grundstruktur der Polarität: ein Netz von Antinomien durchdringt sein Werk, Worte rufen ihre Wider-Worte, Sätze ihre Gegen-Sätze. Antithetisch bauen sich Architekturen der Gedichte oder zyklische Folgen auf.
Wenn Ajchenrand es vermocht hat, Projektionen des Unterbewußtseins heraufzuholen, so geschah dies sicherlich nicht durch die surrealistische Technik des automatischen Schreibens, wie gelegentlich behauptet wurde; seine Traum-Inszenierungen vereinen Inspiration und Kalkül, poetische Eruption und ordnende Konstruktion. Nicht zufällig begegnet uns im dem Buch neben Balladenton und freiem Vers auch das formstrenge Sonett. – Ajchenrands oft reflexive Dichtungen verbinden Logik und Leidenschaft, und sie erreichen damit expressive Wirkungen.
In späteren Gedichtbänden tritt das Thema der Schoa in den Hintergrund. Begrifflich-Abstraktes nimmt zu. Die Ansprache an ein geheimnisvolles Du wird seltener.
Im Sprachlichen wirkt die Tendenz, dem einzelnen Wort immer größere Tragfähigkeit zuzuteilen. Der Dichter reduziert Verszeilen auf wenige Wörter, manchmal ein einziges Wort – eine Schreibart, die schon im frühen Expressionismus zu finden war. Aber alle diese Entwicklungen, die von Buch zu Buch fortschreiten, gehen von der Sammlung mimaamakim aus, in der das dichterische Werk Ajchenrands seine Höhe erreicht.
4
Der Gedichtband, in dem Lajser Ajchenrand 1953 die Summe seines bisherigen Dichtens zog, wird hier, ein halbes Jahrhundert nach dem Erstdruck, in einer Neuausgabe vorgelegt.
Der Dichter und einige seiner Freunde waren seinerzeit sehr skeptisch,was die Übersetzbarkeit seiner Texte in irgendeine andere Sprache betrifft. Wo Lajser Ajchenrand selber versuchte, seine jiddischen Verse deutschsprachigen Lesern nahezu bringen, nutzte er daher eine Umschrift – die er der deutschen Orthographie in ungewöhnlichem Maße annäherte.
Die vorliegende Ausgabe geht einen anderen Weg. Sie druckt die Gedichte in dreifacher Weise. Das jiddische Original wird einmal in hebräischer Quadratschrift, einmal in lateinischen Lettern wiedergegeben; und die deutsche Versübertragung steht dem Original zur Seite. Angaben Ajchenrands folgend, sind Druckfehler der Vorlage korrigiert worden. Die variable Orthographie des Dichters wurde nicht normiert. Die Transliteration soll deutschsprachigen Lesern den Zugang zum Original erleichtern; eine vergleichbare Umschrift bot Immanuel Olsvanger in seiner Sammlung Rosinkess mit Mandlen, die in der Schweiz mehrfach erschienen ist. (Die internationale wissenschaftliche Yivo-Transkription wird davon nicht berührt.)
Der Dolmetsch dieses Buches, nicht unerfahren im Übersetzen jiddischer Lyrik, legt hier seine Neuübertragung vor. Er dankt Frau Claire Ajchenrand für ihren Beistand und ihre Anmahnungen. Sie plädierte für Versionen, die dem originalen Wortlaut sehr nahe bleiben und dennoch wie deutsche Gedichte wirken können. Und sie hat einen wichtigen Grund auf ihrer Seite: bei der subtilen Begriffs- und Metaphern-Dialektik der Texte und deren manchmal hermetischer Schreibweise könnte eine freiere Übersetzung leicht zu Fehldeutungen führen.
Allerdings kann und darf ein Nach-Dichter auf Freiheiten nicht ganz verzichten.
Daß der Verlag dem Buchtitel Aus der Tiefe ein Stilleben von Chaim Soutine unterlegt, mag auf den ersten Blick befremden, und soll es tun. Aber Leben und Werk beider Künstler haben vieles gemein: die ostjüdische Herkunft; den Versuch, sich in Paris zum Künstler auszubilden; die Existenzweise eines jüdischen Immigranten im deutsch besetzten Frankreich; den expressionistischen Grundgestus und die gelegentliche Nähe zum Surrealismus. Außerdem findet die Wahl eines solchen Stillebens in Ajchenrands Gedicht „Natur morte“ (jiddisch nachzulesen in dem Gedichtband doss brojt fun zar) eine erstaunliche Stütze:
… das kalte Messer
bei den braunen toten Vögeln
auf dem Tisch
hält beständig den Weg offen
zu den unterirdischen Gedanken.
Hubert Witt, Nachwort
erbarmungslos wie das Leiden, das sie beschreiben, treten Laiser Ajchenrands Gedichte an den Leser heran. Sie bergen in sich die unauslöschbare Prägung der Scham und der Verzweiflung des Überlebenden. In ihrer strengen Form bringt Ajchenrand sie abwechselnd klirrend kalt und glühend heiß zum Leuchten und läßt schließlich zu, daß sie in die Langmut der Seele münden.
Die Lyrik des jiddischen Dichters legt getrieben von der Frage nach der „condition humaine“, ein ergreifendes Zeugnis ab von der Grausamkeit des jüdischen Leids und zugleich von der präzisen Sinnlichkeit des Erinnerungskörpers.
Ammann Verlag, Klappentext, 2006
– Eine späte, aber bedeutende Entdeckung: Die Gedichte des jiddischsprachigen Dichters Lajser Ajchenrand. –
Im Jahr 1939 verweigerte die Schweiz Else Lasker-Schüler das Aufenthaltsrecht. Drei Jahre später durfte der aus Frankreich geflohene jiddischsprachige Dichter Lajser Ajchenrand bleiben – und schuf in Zürich ein nahezu völlig unbekannt gebliebenes Werk. Nun legt der Schweizer Ammann Verlag Ajchenrands bedeutendsten Gedichtband mimaamikim (Aus der Tiefe, erstmals Paris 1953) in einer Übertragung von Hubert Witt vor, dem prominenten Kenner jiddischer Lyrik. Hiermit kommt eine ungewöhnliche, in Israel bereits 1976 mit dem Itzik-Manger-Preis ausgezeichnete literarische Stimme zu Gehör, die radikale Fragen aufwirft: Ist angesichts von Auschwitz Gott noch denkbar? Wie kann die Schoah Gegenstand von Sonetten und Balladen sein?
Ajchenrand ist dem osteuropäischen Judentum verhaftet. Er wurde 1911 als Sohn eines Schneiders im südöstlich von Warschau gelegenen Dęblin geboren und wuchs später in Kurów bei Majdanek auf. Dort kam er mit den für die jiddischsprachige Welt prägenden geistigen und literarischen Strömungen in Berührung, zu deren Fundamenten die hebräische Poesie ebenso wie die moderne deutsche Dichtung zählte. Früh schon bildete die soziale Not der jüdischen Bevölkerung ein zentrales Motiv in Ajchenrands Lyrik. 1937 zog er nach Paris und entkam 1942, nachdem er in einem Ausländerbataillon der französischen Armee gekämpft hatte, nur knapp seiner Deportation aus einem Arbeitslager des Vichy-Regimes. Seine Mutter und seine Schwester wurden in Polen von den Nazis ermordet.
Dies ist die entscheidende Zäsur, um die Ajchenrand unablässig kreist. Die in Aus der Tiefe enthaltenen Gedichte aus dem frühen Lyrikband Hörst du nicht? (deutsch 1947) weisen einen unmittelbaren Bezug zum traumatischen historischen Geschehen auf: durch die Erinnerung an Mutter und Schwester, durch Hinweise auf das Warschauer Ghetto und die Deportation seiner Juden, durch die explizite Nennung von SS-Schergen, deutschem „Mördervolk“ und christlicher „Teufelsbrut“. Gleiches gilt für die expressionistische Metaphorik der Gedichte, in denen die Schöpfung zur Chiffre eines absolut Unheimlichen wird. Inmitten ewiger apokalyptischer Zerstörung hat die menschliche Gestalt jeden Halt verloren, zerfällt in surreal-albtraumhafte Bilder:
Nachts sind wir dunkel verloschene Trauerwege
unsrer blutig-vergeßnen Generation.
Unser Gelächter die Asche verlorener Augenblicke,
rinnend durch unsere schwarzen und kalten Hände.
Unsere Augen sind offene Gräber: da ruhen
lang verstorbne Geliebte und zerronnene Tage.
Unsre Einsamkeit atmet uralte Zeiten
mit frostigen Klagen ungeborener Enge…
Ajchenrands poetische Welt ist in ihrer Verbindung moderner Bildersprache mit biblischem und jüdisch-mystischem Gedankengut einzigartig und zugleich ambivalent. Dort, wo die jüdische Tragödie und eine Katastrophe von kosmischen Dimensionen in eins fallen, besinnt er sich auf das mythische Volk Israel, auf dessen Bund mit seinem einzigen Gott, seine Erzväter und Propheten: Er synchronisiert das „uralt stille Weinen tausendjähriger Nacht“ und die „Exil-Verlorenheit“ mit der Schoah, stilisiert den „totalen Krieg“ zu einer Wiederholung der Geschichte von Kain und Abel.
In den Zyklen „Gesang vom Vergehn“ und „Gesang eines Wachenden“ gewinnt Ajchenrands poetische Sprache an Abstraktion und Transzendenz. Hier geht es um einen verborgenen, schweigenden Gott, der Zeit und Raum die Signatur ewigen Neubeginns im Zeichen qualvollen Verfalls aufdrückt. Nur als Paradoxon, als bis an seine äußersten Grenzen gespanntes Oxymoron ist der jüdische Gott, ist jüdische Existenz für Ajchenrand denkbar.
Anfang der sechziger Jahre ließ Ajchenrand sich endgültig in Zürich nieder: hier nun, obwohl „heimatverbunden“ durch Freundschaften und Familie, auch staatenlos. Sein existenzieller Boden blieb das Jiddische, wohl mit ein Grund, weshalb bis zu seinem Tode im Jahre 1985 all seine späteren Lyrikbände in Israel erschienen.
Hubert Witt hat eine allzu strikte Texttreue zuungunsten des poetischen Timbres zu vermeiden gewusst, insgesamt ein gelungener Versuch. Vereinzelte Holprigkeiten, etwa die sich bei den Partizipialattributen häufenden Elisionen („blühnde Träne“, „glühnde Lippen“), die das dem Jiddischen eigene Pathos mitunter ins Manieristische ziehen, mag man daher in Kauf nehmen. Und hoffen, dass dieser Ausgabe noch weitere folgen mögen.
Das Jiddische, seit dem Mittelalter Alltagssprache aschkenasischer Juden, wurde in der Familie gesprochen, im Schtetl, auf dem Markt, in der Schule. Die Sprache der Volkslieder und Legenden bildete ein unvergleichlich lebendiges Gebilde aus Weltanschauung und Lebensgefühl. Wer sich heute mit ihr befasst, ist unweigerlich mit der Shoah konfrontiert. Jiddisch ist weniger Ausdruck jüdischer Lebenspraxis als vielmehr nostalgische Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies. Denn das lebendige Judentum Osteuropas, Träger jiddischer (Volks-)Kultur und deren sprudelnder Sprachquell, existiert nicht mehr. Deutsche Armeen und Stalins Politik haben es ausgelöscht. Zwar gibt es noch weltweit verstreut jiddisch sprechende Gemeinschaften. Doch prognostiziert die Unesco das Aussterben des Jiddischen im Laufe dieses Jahrhunderts.
Den Einsamen
Befällt ein Jammer –
In herbstlichen Wassern
Sucht er vergebens
Die versteinten Augen
Des toten Freundes;
In rauchiger Schenke,
Der von Akkorden erfüllten,
Beugt sich seine Schwermut
Über den kühlen Wein,
Und seine roten Lippen
Erglühn
Wie eine offene Wunde
heisst es im Gedicht „Herbstliche Stunde“ des Dichters Lajser Ajchenrand. 1911 im russischen Iwangorod, dem später polnischen Deblin, geboren, bildet er mit Rajzel Zychlinski und Abraham Sutzkever den unvergleichlichen Dreiklang jiddischer Lyrik nach der Shoah.
Schmerzvolle Klage über Schicksal und Einsamkeit, Verlust und Trauer sind Motive seiner Gedichte. Aber auch Auflehnung und leidenschaftliche Selbstbehauptung.
schnajd majne odern ojss
un schpan sej ojf dajn gewer
wi ojf harfn
un hilch wi tojssnter orglen
un trumejter un schal:
di jidn senen fun granit!
di jidn senen fun schtol!
(Schneid meine Adern heraus, / Spann sie auf dein Gewehr / Wie auf Harfen – Dröhne wie aus tausend Orgeln / Und trompete und schrei: / Die Juden sind aus Granit! / Die Juden sind aus Stahl!“) Ajchenrand belebt seine Sprache aus den Abgründen der Geschichte heraus, aus der Tiefe seiner Gefühle und dem Fundus literarischer Traditionen. Aus der Tiefe (mimaamakim) – so der Titel seines Lyrikbandes. Zum ersten Mal 1953 in Paris erschienen, gedruckt in hebräischen Lettern, bildeten die darin enthaltenen „lider und ssonetn“ zum damaligen Zeitpunkt die Summe seines Dichtens. Der Autor war Anfang vierzig und staatenlos. Er hatte die Shoah überlebt, Eltern und Schwester waren umgekommen.
„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“ – so beginnt der 130. Psalm in der Übersetzung Martin Luthers. „Aus Tiefen rufe ich dich, du! mein Herr, auf meine Stimme höre!“ heisst es drängender bei Buber. Als gäbe es auf Erden niemanden, der noch verstünde. Ajchenrands Gedichte sind geprägt von der Verbundenheit mit seiner Familie und seinem Volk, vom Schmerz über ihren Tod.
far nacht
efenen sich ale kworim
un mir samlen ajn
di schotnss fun ale gelibte
(„Abends / Öffnen sich alle Gräber, / Und wir sammeln / Die Schatten aller Geliebten ein“).
Das lyrische Ich ist bei Ajchenrand kein autobiografisches, trotz seiner Zwiesprache mit den Angehörigen. Oft spricht es in der ersten Person Plural. Gibt dem Leid selbst eine Stimme, ist Menschheits-Ich. Es artikuliert sich in der Tradition biblischer Gestalten, kündet von Schreckensvisionen und Albträumen. Ist Gesang, Geschrei, hörbare Wut, die Stimme Hiobs und der Propheten. Es ist ein dialogisches Ich, personifiziertes Widerwort, Frage und Antwort. Es scheut sich nicht, Rechenschaft von Gott zu fordern, den Himmel anzuklagen, die Engel zu beschwören. Es ertönt aus einem Universum, grösser als die Shoah. Von der Genesis bis zum Tag des Gerichts erstreckt es sich.
Weh, sieben Sonnen haben meinen Schädel zerbrochen,
Tausend Nächte hab ich aus meinen Augen gewischt –
Geschlechter streiten in mir und wollen sich unterjochen,
Während mein Schweiss sich mit dem der Toten mischt.
Aus der Tiefe liegt nun in einer zweisprachigen Neuausgabe vor. Der jiddische Originaltext ist mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets gedruckt. Darunter findet sich die Umschrift in lateinischen Buchstaben und die deutsche Übersetzung von Hubert Witt. Die Neuveröffentlichung ist in vielfacher Hinsicht ein Geschenk. Schlicht und poetisch ziert die Abbildung eines Stilllebens von Soutine den Einband. Sie verweist auf die gemeinsame, ostjüdische Herkunft von Dichter und Maler, auf ihre Verbindung zu Paris, wo auch Ajchenrand vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lebte. Sinnbildlich deutet das Umschlagsgemälde auch den Inhalt an: die geglückte Verbindung von Tradition und Moderne. Aus der Tiefe lässt erkennen, dass Jiddisch nicht allein „zärtliche Sprache“ (Elias Canetti) ist. Lajser Ajchenrand verwendet souverän Stilmittel expressionistischer Lyrik. Die Metaphorik des Symbolismus und des Surrealismus arbeitet er in seine Gedichte ein. In Balladen, Sonetten und freien Versen umkreist er den – nicht erst nach Auschwitz, sondern mit Aufkommen der literarischen Moderne entstandenen – Topos der „Unaussprechlichkeit“.
Ajchenrands Lyrik, darin der Paul Celans verwandt, führt nicht ins Verstummen, sondern zu neuen poetischen Bildern, zu neuer Wirklichkeit. Er schreibt sich „aus der Tiefe“ in einen grenzenlosen Raum empor, in dem Tag und Nacht, Himmel und Erde nicht voneinander geschieden sind: „verloschene Wege“, „blutiger Tau“, „gefrorene Sterne“ sind dessen Orientierungspunkte. Immer wiederkehrend menschliche Details: Mund, Lippen, Augen, Hände. Und Adjektive: kühl, finster, aschig, grau. Die Partizipien versteinert, zerronnen, erstarrt. Die Substantive Nacht, Tod, Dunkel. Schwarz sind bei Ajchenrand die Rosen, schwarz ist der Schnee. Auf diesem Metaphernfeld wächst nichts als die wirklichkeitswunde Sprache selbst. Hofmannsthals Chandos-Brief hallt als fernes Echo in den Gedichten nach, ebenso wie Katzenelsons „Lid funm ojsgehargetn jidischn folk“.
Lajser Ajchenrand, der – nach der Flucht aus einem französischen Arbeitslager – ab 1942 in der Schweiz lebte, erhielt nie die eidgenössische Staatsangehörigkeit. Doch fand er in Zürich ein brauchbares Zuhause, von dem aus er immer wieder aufbrach: nach London, Paris, Buenos Aires, Israel. Schnell machte er sich über Landesgrenzen hinweg als Dichter einen Namen. Seine ersten drei Lyrikbände wurden in Zürich veröffentlicht, Anfang der fünfziger Jahre porträtierte Rudolf Jakob Humm den Autor für die Weltwoche. Gedichte erschienen auch in den deutschsprachigen Zeitschriften Akzente und Spektrum, Ajchenrands Bücher hingegen hauptsächlich in Israel. Dort, wie auch in Zürich, wo der Dichter 1985 starb, wurde sein Werk mit Preisen bedacht. Es bestätigt, was einst der Nobelpreisträger Isaac B. Singer über das Jiddische sagte: Es sei „Sprache des Exils, ohne Land und ohne Grenzen“. Das hat man im Fall Ajchenrands unbedingt als Auszeichnung zu verstehen.
– Der Lyriker Lajser Ajchenrand hält es mit Psalm 130: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“. –
Es war das Verdienst Hubert Witts, uns mit dem Gesamtwerk Rajzel Zychlinskis, mit dessen poetischen Beschwörungen des vernichteten Ostjudentums bekanntzumachen (F.A.Z. vom 7. Januar 2004). Jetzt lernen wir im jiddischen Original und in Witts einfühlsamem Deutsch einen Gedichtband Lajser Ajchenrands kennen. Dieser kam 1911 in Polen zur Welt und wuchs in der Nähe von Majdanek auf; seine Mutter, die geliebte Schwester Etke und deren Familie wurden von den Nationalsozialisten ermordet; er aber entkam der Vernichtung, weil er als angehender Dichter 1937 nach Paris gegangen war.
Dieses Detail seiner Biographie ist aufschlussreich, denn es zeigt, wie früh sich der junge Ajchenrand schon der europäischen Moderne verbunden fühlte und Kontakt zur Avantgarde suchte. Nach dem deutschen Einmarsch trat er in ein französisches Ausländerbataillon ein und wurde nach der Niederlage in einem Arbeitslager interniert, konnte 1942 aber in die Schweiz flüchten. Dort, mit nur kurzen Unterbrechungen, hat er den Rest seines Lebens verbracht und ist 1985 in Zürich gestorben.
Ajchenrand lebte im deutschen Sprachraum und war mit einer Schweizerin verheiratet, schrieb aber auf Jiddisch. Schon früh, zugleich mit Gedichten Stephan Hermlins und Jo Mihalys, erschienen Übersetzungen aus seinem Werk. Diese erste Sammlung aus dem Jahr 1945 hieß Wir verstummen nicht. Der Titel zeigt das Gebot der Zeugenschaft an, dem Ajchenrands Werk verpflichtet ist, und im Band Aus der Tiefe, der 1953 erschien, legte er die Summe seiner von der Schoah geprägten Dichtung vor.
Hubert Witt sieht dieses Buch als Ajchenrands Hauptwerk an. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, gibt er es noch einmal heraus. Der Titel spielt auf den 130. Psalm an, der in der christlich-römischen Tradition als „De profundis“ bekannt ist. „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“, heißt es dort: Das bedrängte Israel bittet Gott um Vergebung seiner Sünden, um die Gnade des Himmels.
In Ajchenrands Band stehen zwei Gedichte unter dem Titel „Aus der Tiefe rufe ich“. In einem von ihnen betet er nachts zu Gott, aber er findet keinen Trost:
In solcher Stunde, Schwester, weinst du verloren,
Spiegelst dich in toten Augen, auch
Deiner eigenen Kinder, die wie Rauch
Durch deine Träume ziehen und gehn verloren.
Erbarmen! fleht die Stunde, da sie geboren.
Die Bitte um Gottes Gnade ist auch hier im Namen der Kinder Israel gesprochen; gerade das macht diese Bitte jetzt problematisch. Es sind ihre ermordeten Kinder, die Ajchenrands selbst bereits ermordete Schwester beweint, und der Rauch, Symbol der Schoah, hat Gottes Schöpfung unheilbar kontaminiert: Mit dem Tod einer unschuldigen Generation ist die Frage der Theodizee unlösbar geworden.
Die Verse machen das Dilemma eines jiddischen Modernisten sichtbar. Dieser fragt nach den Prämissen des Bußpsalms und kann sich doch nur schwer aus den Netzen einer vorgegebenen Symbolik lösen. Tote Augen müssen ein blinder Spiegel bleiben, und seine Schwester, ermordet wie ihre Kinder, kann ihrer im Rauch verlorenen Erinnerung nur noch in der Utopie des Traums begegnen. Um eine Wirklichkeit aufzulösen, die es nicht mehr gibt, arbeitet Ajchenrand mit den Versatzstücken der lyrischen Tradition und bindet sie in die Grenzen eines überkommenen Reimschemas ein.
Das Gedicht „Mein Volk“ enthält die Strophe:
Wie Sternenstaub im Wind
Liegen wir hingestreut,
Von unseren Lippen rinnt
Das Blut, und schreit
Der Sternenstaub nimmt eine biblische Verheißung auf: „Sieh gen Himmel und zähle die Sterne“, sagt Gott zu Abraham. „So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.“ (1. Mose 15,5.) Jetzt ist das Gottesvolk zu Sternenstaub zerfallen, und Ajchenrand zerstört die Verheißung vor den Augen des Lesers. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat auch Else Lasker-Schüler eines ihrer Gedichte „Mein Volk“ genannt, auch dort wird ein Schrei hörbar:
Und immer, immer noch der Widerhall
In mir,
Wenn schauerlich gen Ost
Das morsche Felsgebein,
Mein Volk,
Zu Gott schreit.
Auch dieses Gedicht nimmt biblische Motive auf – das jüdische Volk, zum morschen Felsgebein erstarrt, ist das Totenfeld aus der Vision des Hesekiel –, aber anders als bei Ajchenrand hat der hier erdichtete Volkskörper keine reale Anatomie mehr. Er ist ein Gebilde freier Imagination: Im Vorfeld des deutschen Expressionismus konnte Lasker-Schüler eine Körper-Sprache schaffen, wie es sie noch nie gegeben hatte. Einen solchen Resonanzboden hatte Ajchenrand nicht, sein Publikum war auf den Totenfeldern der Nazis geblieben. Das Jiddische hatte den Boden verloren, auf dem es sich modernisieren konnte, und um sich den Überlebenden verständlich zu machen, musste er – oft gegen seinen künstlerischen Willen – auf die Mittel der lyrischen Konvention zurückgreifen.
Manchmal lässt Ajchenrand die Zügel schießen, dann befreit er sich von den formalen Zwängen. Abgelöst von Versmaß und Reimschema gibt Ajchenrands Sprache dann einen Bilderreichtum frei, der vieles integriert: die Kinderaugen als ein Grundmotiv seiner Dichtung, aber auch die flammenflügligen Pferde, die an Marc Chagall erinnern und zugleich an die Apokalypse.
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