SESTINE
Es gab eine Zeit, da war jede Stunde ganz.
Wie der Tennisball, der stillsteht eine
nadelscharfe Hundertstelsekunde und wartet,
überm Netz. Weder „jetzt eben“, noch „bald“,
sondern ein Drittes ist alles, was wir sehen.
Alles andere ist Hoffnung oder Zeit,
die war; doch nicht meine, eines andern Zeit.
Der trockne Ballschlag macht dich wieder ganz.
Er ist das einzig Wirkliche, das wir sehen.
Hoffnungen und Erinnern erfüllen eine
weitgehend zufällige Persönlichkeit; bald
sehen wir, wie sie den nächsten Ball erwartet.
Doch wer ist das, der bereitsteht und wartet?
Alle Zeit frißt auf der Gedanke an Zeit,
die war oder daß etwas geschieht, bald.
Hoffnungen und der Rest Erinnern. Ganz
bleibt nur der, der nicht länger eine
andre Kugel in dem Ball sieht, den wir sehen.
Ein solcher Vorgang, den wir wirklich sehen,
ist anonymer, als jedermann erwartet.
Vergangne Jahre und die Fürsten, die es eine
zeitlang gab, leben in scheinbar erstarrter Zeit.
Mit Namen machen wir den zerbrochnen Krug ganz.
Wir tragen ihn behutsam zum Brunnen, der bald
tief erscheint und voll von lauten Stimmen. Bald
verbleibt ein einsames Echo, und wir sehen
den hellen Wasserspiegel; er ist ganz.
Dort unten liegt er, und er wartet
so unzugänglich. Du bist er. Deine Zeit
ist kurz. Ein einziger Stein genügt. Und eine
Ganzheit fällt in tausend Scherben, erleuchtend eine
Zisterne, an deren Feldsteinwänden bald
flimmernde Reflexe erscheinen. Sie sind Zeit,
die einzige Zeit, die wir begreifen. Wir sehen
in Scherben. Wir stehn in starrer Pose; die wartet.
Der trockne Ballschlag macht dich wieder ganz.
Wir leben in einer namenlosen Welt. Wir sehen.
Wir sterben, sobald wir erinnern; sterben und warten.
Es gab eine Zeit, da war jede Stunde ganz.
Übersetzung: Richard Pietraß
In der Welt, die er beschreibt, geht ständig etwas Unabgeschlossenes vor sich, überall trifft die gewohnte Welt auf das Fremde.
Lennart Sjögren
Gustafsson hat – und von wie vielen Poeten kann man das schon sagen? – die formale Logik, die Philosophie der Alltagssprache, die strengen Labyrinthe der angelsächsischen Erkenntnistheorie, durchaus studiert. Seine Poetik räumt mit alten Geheimnissen auf, sie führt zu einer Deutlichkeit, die „eigentümlich“ ist, so eigentümlich, daß im klaren Spiegel des Gedichts eine seltene Beute erscheint, etwas Logisches, das nicht dürr, und etwas Phantastisches, das nicht trübe ist.
Hans Magnus Enzensberger
Die Muse Lars Gustafssons, eines poetischen Nachfahrens von Jules Verne und James Watt, ist mit dem Weihwasser der modernen Naturwissenschaft getauft. Die von ihr inspirierten Gedichte beeindrucken durch ein sensibles Gleichgewicht zwischen glasklarer Analyse und metaphysischem Staunen.
Richard Pietraß
Ich weiß nicht, ob du je die Stadt Västerås betreten hast. Diese Stadt ist so wohlgeordnet, daß man ihr sogleich anmerkt: die Ordnung ist zu nichts nütze; und das Chaos, die Unruhe, mit der uns unsere eigene Existenz erfüllt, sie tritt an dieser Stadt unbarmherzig ins Licht. Deshalb ist man an Orten sicherer, wo größere Unordnung herrscht. Dort kann man seine Hoffnung in eine Ordnung setzen, die es noch nicht gibt.
Lars Gustafsson
für Lars Gustafsson
jemand mit Äxten bekämpfen auf einer Heide oder
mit Labradoren auf einer Heide und
dann doch wieder sich im Geviert halb in der Sonne
halb im
aaaaaaaSchatten: den
aaaaSchwierigkeitsgrad erhöhen heißt
aaaaaaaaaaaaasich ein
aaaaaagegenläufiges Vorbild nehmen und es
aaaaaaaaaasolange direkt anreden
aaaaaaaaaaaaabis es das
aaaaaaaaaaGesicht verzieht nicht mehr weiß
aaaaaaaaaawohin es blicken soll
aaaaaaaaaaaaaaund
sich lautlos mit dem vermengt was durch diesen Vor-
gang in dir entstanden ist; ein Neubau aus Häresie
Walter Höllerer
Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze
Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.
Verena Reichel: Ein Zustand zwischen den Zuständen. Über den Lyriker Lars Gustafsson, Merkur, Heft 533, August 1993
Poetry on the road – Silke Behl im Gespräch mit Lars Gustafsson im Juni 2013 in Bremen.
Moderation: Hajo Steinert
Gesprächspartner: Verena Reichel, Christian Döring
Peter Mohr: Habe keine Sensationen zu bieten
literaturkritik.de, Juni 2006
Thomas Fechner-Smarsly: Rochaden der Leichtigkeit
Neue Zürcher Zeitung, 17.5.2006
Lars Gustafsson 70
Die Welt, 17.5.2006
Nico Bleutge: Klare Luft
Der Tagesspiegel, 17.5.2006
Michael Krüger redet über Lars Gustafsson und liest ein Gedicht von ihm vor.
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