MISREADING: KLUGES GEBET
PARA-READING anhand von unleserlichen Notizen nach INTELLIGENT PRAYER
Ist denn nicht auch Weltvertraun, du Stern,
Am Bug zu stehn, Lingerie und Aberwitz,
Hier hingestellter Baum, oh schwere Bürste,
Klug zu sein und Wut zu leuchten.
Es ist für die Natur ein Lob mithin,
Im Sinn von Festesfülle, bald schon Überfloß,
Nicht böses Lob, hier anzulanden, lächeln
Und dann etwas schreiben, das sehr gut ist.
Kitschige Verse waren dem Menschen mal Labsal,
Die plappernde Bewölkung erholte sich und kam
Unter der Bürste der Klugheit hervor, das Naturstumme
Zum Sprechen zu bringen, Dochtdenken! Flamme!
Zur Neige gehen, wenn es auch, wenn überhaupt es
Etwas gäbe wie Laub anstelle der Frist. Gebt Laub!
Bewölkung seid Ihr allerdings schon lange, oder
Inzwischen nicht mehr? Müde seid ihr? Gut. Dies ist
Die taube Flosse gegen die Verhexung der Weisheit
Durch die Bürstenphilosophie, die Saftige stillt Euch,
Den Kopf müsst Ihr selber hinhalten, über Wasser.
Doch seid Ihr keine Ukulelen mehr, restlos gerechnet,
Abgesehen vom Selbstimitat, in einem Wochenblatt
Erinnerung, wo Ihr im kargen Glück der Toten euch
Auf Tagesdecken niederlegt, nimmermehr zu denken.
Seid Ihr müde? Gut, Müdigkeit ist Todesgebet,
Dass sie für Euch denken mag, wenn Sprachlosigkeit
Erzählt, wie Ihr im Allverständnis liegt, allein, im Leidabteil.
(PLR 185 / MR)
LAURA (RIDING) JACKSON: Geboren 1901 in New York City in einer jüdischen Familie als Laura Reichenthal, studiert ab 1918 an der Cornell University, wo sie erste Gedichte schreibt, 1920 den Geschichtsprofessor Louis Gottschalk heiratet, von dem sie sich 1925 scheiden lässt. Gedichte erscheinen, sie publiziert unter dem Namen Laura Riding Gottschalk. Aufmerksamkeit erhält sie von einer Dichtergruppe des amerikanischen Südens, „The Fugitives“, die ihr 1924 als Entdeckung des Jahres mit folgender Begründung den Nashville Price of Poetry verleihen. „Sie kombiniert in ihrer Dichtung ein vielfältiges Spiel der Imagination mit tiefer Intellektualität und beißender Ironie, die in ihrem Werk eine in der amerikanischen Gegenwartslyrik seltene Substanz finden. Ihre Dichtung hat die Tendenz zum Philosophischen, aber sie ist nicht lebensabgewandt, sondern emotionsgespannt und mit profunden Themen befasst. Zudem hat sie ihr eigenes Ausdrucksidiom entwickelt, was ihrer Dichtung den Stempel einer echten Persönlichkeit aufprägt.“
Nach einem Aufenthalt in Nashville geht sie 1925 zurück nach New York, wo sie Hart Crane trifft. „Hart und Laura stürzten wie Wasserfälle in die Haushalte unserer kleinen literarischen Gemeinschaft – Hart hatte einen Krug Cider dabei, Lauras Geist hingegen war auf solche Stimulanzien nicht angewiesen – sie legten Jazz-Platten auf, schrien sich ihre literarischen Ansichten entgegen, nahmen sich hier und dort einen Fahrer, um sich zu ihrem nächsten Ziel chauffieren zu lassen, verließen jeden Haushalt ziemlich lädiert, aber voller Echos ihrer Ausgelassenheit. Hart Crane nannte sie ,Rideschalk-Godding, die den ernsthaften Geist der Übersäuerung fernhalte‘, und auch: Laura Riding Roughshod.“
Im selben Jahr nimmt sie die Einladung des Schriftstellers Robert Graves und seiner Frau Nancy Nicholson nach London an, der ihr Gedicht THE QUIDS gelesen hat und davon begeistert war. „Laura fand in Robert Graves einen großen, leicht unbeholfenen, aber doch gutaussehenen Mann, mit seiner gebrochenen Nase (eine Rugby-Verletzung), den spöttischen grauen Augen, seinem großen, von einem Schopf nicht zu bändigender Haare bedeckten Kopf, einen begnadeten Dichter, der trotz allem unsicher genug war, ihr intellektueller Schüler zu werden.“ Es beginnt eine enge Freundschaft und Arbeitspartnerschaft sowie schon bald eine so genannte „Marriage of Three“, die von der Familie Graves in ihrer Korrespondenz unermüdlich mit skeptischen Kommentaren versehen wird, doch offenbar glücklich ist. Laura Riding, Robert Graves, seine Frau Nancy Nicholson und die Kinder verbringen ein halbes Jahr in Ägypten, wo Robert Graves eine dreijährige Professur antreten soll, kommen aber früher als geplant wieder zurück – und machen sich mit einer schier manischen Energie an die Arbeit.
Laura Riding Gottschalks erster Lyrikband THE CLOSE CHAPLET erscheint 1926, 1927 bis 1928 folgen innerhalb von sieben Monaten fünf weitere Bücher, die sie nun unter dem Namen Laura Riding veröffentlicht: „Alle meine künftige Arbeit wird Laura Riding sein.“ A SURVEY OF MODERNIST POETRY (mit Robert Graves, als „Wort-für-Wort-Kollaboration“), A PAMPHLET AGAINST ANTHOLOGIES (mit Robert Graves), CONTEMPORARIES AND SNOBS, ANARCHISM IS NOT ENOUGH und im gemeinsam mit Robert Graves neu gegründeten eigenen Verlag The Seizin Press der Lyrikband LOVE AS LOVE, DEATH AS DEATH. Noch geht alles gut, und die Schwester von Robert Graves schreibt an deren Mutter Amy, es sei am klügsten, einstweilen keine Kritik zu üben, den Ball flach zu halten, bis eine günstigere Gelegenheit zu helfen sich böte, denn schließlich „sind wir, wie der Chor der griechischen Tragödie, nicht verantwortlich für die Handlungen der Hauptfiguren, eine Handlung, die sich selbst herausbilden muss, nach den ihr eigenen Gesetzen“.
1929 kommt es, nach der Erweiterung der Menage à trois um den von Laura Riding bald als Teufel attribuierten irischen Dichter Geoffrey Phibbs, zu einer Reihe schmerzhafter Verwicklungen, in denen Laura, Robert, Nancy und Norah, die ferne Ehefrau von Phibbs, gleichermaßen eine wenig glückliche Rolle spielen. Der Versuch, das unkonventionelle Arrangement aufrecht zu erhalten, führt zu kopflosen Reisen nach Paris, nach Rouen und schließlich zum Äußersten. Am 27. April 1929 springt Laura Riding (offenbar im Verlauf einer nervenzehrenden Aussprache zwischen allen vieren) aus dem Fenster der Wohnung im vierten Stock, Robert Graves folgt ihr, aus dem Fenster im dritten Stock springend, nach.
Beide überleben, er leicht, sie schwer verletzt. Riding erholt sich, die Verwicklungen nehmen noch kein Ende. Rosaleen, die Schwester von Graves, schreibt an den Bruder John: „Sie (Laura Riding) wird leben und auch wieder laufen können, glaube ich – aber keines der Probleme ist gelöst – wie in einem höchst unglaubwürdigen russischen Roman. Es kommt mir vor, als sähe ich vier Leuten in einem Alptraum zu – und auch für die Kinder ist das alles sehr schlimm.“
Schließlich entstehen zwei Paare (Nancy Nicholson und Geoffrey Phibbs sowie Laura Riding und Robert Graves), im darauffolgenden Rückbau des Ganzen fungieren Dinge als Geiseln, ein Tauschhandel, in dem eine Schreibmaschine, Unterhosen und ganze Bibliotheken zirkulieren. „Die immer wieder erwähnten Unterhosen, ich weiß es nicht. Hier sind zwei Paar, gab es noch mehr? Falls ja, verkaufe ein paar meiner Bücher und ersetze die Unterhosen. Ich hoffe, das ist der letzte Brief, den ich dir in der nächsten Zeit schreiben werde. Deine Briefe und Lauras Nachrichten machen mich gleichzeitig wütend und traurig“, so Geoffrey Phibbs an Robert Graves.
Nach einem eher enttäuschenden Besuch bei Gertrude Stein ziehen Robert Graves und Laura Riding im Oktober 1929 nach Deya auf Mallorca, wo sie ihren Verlag weiterführen, Besuch von befreundeten Dichtern, Künstlern und Wissenschaftlern empfangen, ein Haus bauen, schreiben, publizieren – und zwar nicht wenig. Von Laura Riding erscheinen unter anderem die Lyrikbände POEMS: A JOKING WORD, TWENTY POEMS LESS und EXPERTS ARE PUZZLED, THOUGH GENTLY, PROGRESS OF STORIES; und zudem drei Ausgaben des Periodicums EPILOGUE, das Robert Graves und Laura Riding gemeinsam herausgeben. „Als sie die Themen von Homilien für den EPILOGUE verteilte, gab Laura Honor (Wyatt) ,Offenheit‘, Robert (Graves) ,Diebstahl‘ und ,Bedauern‘, Gordon (Glover) ,Enthusiasmus‘, Tom (Matthews) ,Lob‘, und als Kommentar zu seinem verschobenen Besuch in Deya bekam James Reeves ,Entscheidung‘. (,Wut‘ reservierte Laura für sich selbst).“
1936, beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, müssen sie gemeinsam mit ihren Freunden Mallorca verlassen und leben vorübergehend ein nomadisches Leben zwischen Lugano, Rennes im Château de la Chevrie, Brittany und London. Laura Riding ruft mehrere hundert Leute zu einem privaten Zusammenschluss unter dem Namen THE PROTOCOL auf – wozu allerdings im Vorfeld ein Fragebogen zu beantworten (und, um aufgenommen zu werden, ausschließlich zu bejahen) ist. Diese Anstrengungen stehen in der vagen Hoffnung, die allgemeine Kriegshysterie zu mildern, durch Korrespondenz, durch Willensäußerung, in den folgenden Jahren auch: durch die Energie intellektueller Telepathie.
Wenn ihre Entscheidung, die USA zu verlassen, 1925 letztlich durch das Gedicht THE QUIDS und die Anerkennung, die sie dafür von Robert Graves erfuhr, ausgelöst worden ist, so wird ihre Rückkehr in die USA maßgeblich durch eine gute Kritik befördert, die Schuyler Brinckerhoff Jackson II für das TIME Magazine (700.000 Abonnenten!) verfasste und die Laura Riding am 2. Januar 1939 im französischen La Chevrie erreichte.
„Nach Ansicht der TIMES – bekennen sich Dichter zu einer Verantwortung, zu der sich früher oder später jedes menschliche Wesen bekennen muss. In ihrer demütigsten Form besteht diese Verantwortung darin, Worten Sinn zu geben, in seiner ehrgeizigsten Form aber, Worten vollkommenen Sinn zu geben. Denn die Anstrengung des Dichters, Worten Sinn zu geben, ist eine Anstrengung, an der sich jede menschliche Kommunikation – Briefwechsel, Gespräch, Journalismus, Literatur auf lange Sicht erweist. In dem Maße, in dem Dichter ihr Dichtertum erfüllen, steigern sie die Möglichkeiten menschlicher Kommunikation. In dem Maße, in dem Dichter dies versäumen, pervertieren oder verderben sie menschliche Kommunikation.“
Schuyler Jackson unterteilte die elf Dichter, die er besprach, in folgende Kategorien: POETS, POETASTER, POETICULES – und auf der Seite der wahren Dichter kamen nur Rainer Maria Rilke und Laura Riding zu stehen. „Ich glaube, der Mann hat sich in dich verliebt“, entgegnete Dorothy. Die Vulgarität deines Denkens, sagte Laura voller Verachtung, verschlägt mir den Atem.“
1939 schiffen sich Laura Riding, Robert Graves und einige ihrer Freunde in die USA ein und finden auf Schuylers Jacksons Walnuss-Farm in New Hope, Pennsylvania, Unterkunft. Im Juli 1939, als sich eine engere Beziehung zwischen Schuyler Jackson und Laura Riding andeutet, kehrt Robert Graves nach Europa zurück. Im Verlauf der Annäherung von Laura (Riding) Jackson und Schuyler Jackson kommt es zu einigen gespenstigen Szenen, insbesondere im Bezug auf den psychischen Zustand von Jacksons Frau, respektive künftigen Exfrau Kit, die jedoch je nach Biographin sehr unterschiedlich dargestellt werden. 1940 nimmt Laura Riding Abstand von der Dichtung im Ganzen und unterbindet weitere Veröffentlichungen ihrer Gedichte. 1941 heiratet sie Schuyler Jackson und beginnt mit ihm gemeinsam unter erbärmlichen Bedingungen in New York an der Neudefinition von Begriffen zu arbeiten. Eine Reihe von Schicksalsschlägen, auch die labile psychische Disposition von Schuyler Jackson, der sich mit seinen Kindern überwirft, um sie ringt, sie erpresst; der wirtschaftliche Niedergang der Walnuß-Plantage, auf die der Neuanfang mit dem Kauf einer Zitronenfarm in Wabasso, Florida, folgt, erschweren das Unterfangen. (Siehe auch das vorangegangene Kapitel „Definitorische Wut“). 1968 stirbt Schuyler Jackson.
1973 erscheint THE TELLING, ein Buch, das Laura (Riding) Jackson in den frühen 60er Jahren verfasst hat und dessen Titel man eigentlich als DIE VERKÜNDIGUNG übersetzen müsste. Es handelt sich um eine Mischung von Behauptungsduktus, Verkündigung, Selbstkommentar, Richtigstellungen, heftigem Niederreden, agnostischer Einheitsschau, Mystik ohne Gott, postplotinischer Sprachpragmatik, es ist aber auch Einsamkeitszeugnis, Trauerbuch um Schuyler Jackson sowie ein Dokument ihrer störrischen Abwehr von Popkultur als Vulgarisierung und Bastardisierung, ihrer Verteufelung von Neuer Musik, Homosexualität, French Studies und vielem anderen mehr.
In den ihr verbleibenden Jahren arbeitet sie immer weiter am DICTIONARY OF RATIONAL MEANING und führt einen regen, zuweilen sehr kontroversen Briefwechsel mit Freunden, Rezensenten, Feinden und anderen Bekanntschaften. Weitere Veröffentlichungen folgen, sie erhält mehrere Stipendien und Preise, 1991 zuletzt den Bollingen Prize für ihr Lebenswerk. Laura (Riding) Jackson stirbt mit 90 Jahren an einem Herzinfarkt am 2. September 1991.
(MR), Nachwort
Monika Rinck, Christian Filips: PARA-RIDING. Das Reiten und PARA-Reiten hebt an! Auf zum Parforce-Ritt mit Laura (Riding) Jackson (*1901 New York City, ☨1991 Wabasso). Doch halt, halt, halt… Da erschallt er auch schon, der böse Widerruf aus Nottinghams Wäldern: Es müsse endlich Schluss sein mit der Poesie! In conformity with the late author’s wish, her Board of Literary Management asks us to record that, in 1941, Laura (Riding) Jackson renounced, on grounds of linguistic principle, the writing of poetry: she had come to hold that „poetry obstructs general attainment to something better in our linguistic way-of-life than we have“.
Monika Rinck und Christian Filips haben sich beim Übersetzen und Überschreiben von Laura Ridings Gedichten und Essays zunehmend gefragt, ob sie aufhören sollen mit dem Dichten und sich einfach der hier verheissenen besseren Lebensart widmen. Dabei stellte sich mit der Zeit das Verfahren des PARA-Ridings ein. Das Überschreiben von Texten, die, um wahr zu sein, nicht bleiben durften, wie sie waren. Und vielleicht gerade so wieder das wurden, was sie nicht mehr zu sein versprachen: Gedichte.
Roughbooks, Klappentext, 2011
Reaktionen zu diesem Buch bei Roughblog
Franz Hofner: roughbooks – Riding und Para-Riding
fixpoetry.com, 12.2.2013
10. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung an Christian Filips am 24.8.2023 im Rahmen des 43. Erlanger Poetenfestes
Christian Filips | Der hohe Ton in der Poesie.
9. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung an Monika Rinck am 26.8.2021 im Rahmen des 41. Erlanger Poetenfestes
Monika Rinck beim 22. Literaturfestival Druskininkai Poetic Fall 2011.
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