AUTOBIOGRAPHIE
Ich führe ein ruhiges Leben
in Mike’s Place Tag für Tag
seh ich den Kämpen
in Dantes Billardstube und
den Französischen-Pinball-Brüdern zu.
Ich führe ein ruhiges Leben
am Lower East Broadway.
Ich bin ein Amerikaner
I was an American boy.
Ich las das American Boy Magazine
und ich wurde ein Boy scout
in Vorstädten.
Ich dachte ich sei Tom Sawyer
und fischte Krebse im Bronx River
und dachte es sei der Mississippi.
Ich hatte einen Baseballhandschuh
und ein American Flyer Fahrrad.
Ich trug die Woman’s Home Companion aus
um fünf Uhr nachmittags
und die Herald Trib
um fünf Uhr morgens.
Noch immer hör ich das Aufklatschen der Zeitung
auf den leeren Veranden.
Ich hatte eine traurige Kindheit.
Ich sah Lindberg landen.
Ich sah heimwärts
und sah keinen Engel
Sie schnappten mich als ich
im Fünf-und-Zehnpfennigladen Bleistifte klaute
im selben Monat wurde ich Adler Scout
Ich fällte Bäume für die CCC
und saß auf ihnen.
Ich landete in der Normandie
in einem Ruderboot das umkippte.
Ich habe die getarnten Armeen
an der Küste von Dover gesehn.
Ich habe ägyptische Flieger in rotvioletten Wolken gesehn.
Ladeninhaber die ihre Rolläden
gegen Mittag hochzogen
und Kartoffel-und-Löwenmaulsalat
auf Picknicks von Anarchisten.
Ich lese „Lorna Doone“
und ein Leben von John Most
der beständig mit einer Bombe auf seinem Pult
der Schrecken der Industrie war
Ich habe die Kolumbus-Parade gesehn
mit dem Aufmarsch der Müllabfuhrleute
hinter ihrem laut
pupenden Trompeter.
Ich bin lange nicht
draußen in Cloisters gewesen
auch nicht in den Tuilerien
aber ich nahm mir vor
mal hinzugehn.
Ich habe die Müllabfuhr-Parade gesehn
als es schneite.
Ich habe Hot Dogs auf Baseballplätzen gegessen
Ich habe die Gettysburgrede gehört
und die Ginsbergrede.
Es gefällt mir hier
und es fällt mir nicht ein
wieder hinzugehn woher ich kam.
Ich bin auch Ochsenwagen gefahren Ochsenwagen Ochsenwagen Ochsenwagen.
Ich bin unter unbekannten Völkerstämmen gewesen.
Ich bin in Asien gewesen
mit Noah in der Arche.
Ich war in Indien
als Rom erbaut wurde.
Ich war in dem Stall
mit einem Esel.
Ich habe den Eternal Distributor
von einem White Hill
in Süd-San-Franzisko gesehn
und die Lachende Frau im Loona-Park
draußen vorm Lachkabinett
bei Gewitter und Regen
und sie lachte noch immer.
Ich habe die Töne des Weckens gehört
in der Nacht.
Ich wanderte einsam
wie eine Menschenmenge.
Ich führe ein ruhiges Leben
draußen bei Mike’s Place Tag für Tag
seh ich die Welt vorbeimarschiern
in ihren neugierigen Schuhn.
Einmal ging ich fort
um die Welt zu umwandern
aber kam nur bis Brooklyn.
Die Brücke war zu viel für mich.
Ich bin beschäftigt mit Schweigen
Abseitsstehn und Zusehn.
Ich flog zu dicht an die Sonne
und meine Wachsflügel fielen ab.
Ich suche nach meinem Alten Herrn
den ich niemals kannte.
Ich suche nach dem „Lost Leader“
mit dem ich flog.
Junge Leute sollten Entdecker sein.
Zuhause ist woher man kommt.
Doch meine Mutter hat mir nie gesagt
es säh so aus wie dies hier.
Müde wie im Mutterleib
ruhe ich mich aus.
Ich bin gewandert.
Ich habe die Narrenstadt gesehn.
Ich habe die Masse Mensch gesehn.
Ich habe Kid Ory weinen gehört.
Ich habe eine Posaune predigen gehört.
Ich habe Debussy
durch eine Platte gequetscht gehört.
Ich habe auf hundert Inseln
geschlafen wo Bücher Bäume waren.
Ich habe Vögel gehört
die wie Glocken klangen.
Ich habe graue Flanellhosen getragen
und bin am Rand der Hölle entlanggegangen.
Ich habe in hundert Städten gelebt
wo Bäume Bücher waren.
Was für U-Bahnen was für Autos was für Cafés!
Was für Frauen mit blinden Brüsten
zwischen Wolkenkratzern verschüttgegangene Weiblichkeit!
Ich habe Denkbilder großer Männer
in Wachsfigurenkabinetten gesehn.
Den weinenden Danton an einem Metro-Eingang
Kolumbus in Barcelona wie er
Westward nach den Ramblas
auf den American Express hinzeigt.
Lincoln in seinem Steinernen Stuhl
und einem großen Steingesicht
in North Dakota.
Ich weiß daß Kolumbus
Amerika nicht erfunden hat.
Ich hab an die hundert stubenreine Ezra Pounds gehört.
Man sollte sie alle hinauslassen.
Es ist lange her daß ich ein Hüter war.
Ich führe ein ruhiges Leben
in Mike’s Place Tag für Tag
lese ich alle Leitartikel.
Ich habe den Reader’s Digest
von vorn bis hinten gelesen
und bin jetzt überzeugt von der fast identischen Ähnlichkeit
der Vereinigten Staaten mit dem Gelobten Land
wo auf jedem Geldstück steht
In God We Trust
nur die Dollarscheine brauchen das nicht
da sie ja selber Götter sind.
Ich lese die Stellungsanzeigen Tag für Tag
und suche nach einem Stein einem Blatt
einer noch nicht gefundenen Tür.
Ich höre Amerika singen
in den Yellow Pages.
Man sollte es nicht glauben
die Seele hat ihre Ekstasen.
Ich lese die Zeitungen Tag für Tag
und höre die Menschheit herumirrn
in der hoffnungslosen Verschwendung der Druckerschwärze.
Ich sehe daß WaIden Pond entwässert wurde
um einen Vergnügungspark anzulegen.
Ich seh schon den Tag wo sie Melville
seinen Wal zu essen geben.
Ich sehe einen neuen Krieg kommen
aber mich werden sie diesmal nicht kriegen.
Ich habe die Schrift
an der Latrinenwand gelesen
Ich half Kilroy dabei sie zu schreiben.
Ich bin Fifth Avenue hinaufmarschiert
und hab in geschlossener Truppe Trompete geblasen
und lief zurück zur Casbah
meinen Hund zu suchen.
Ich sehe die Ähnlichkeit
zwischen Hunden und mir.
Hunde sind die wahren Beobachter
sie kommen überall herum in der Welt
und durchs Molloy country.
Ich bin durch Seitengäßchen gegangen
zu eng für einen Chrysler.
Ich habe Hunderte von pferdelosen Milchwagen gesehn
in einem öden Stück Land in Astoria
Ben Shahn hat sie niemals gemalt
aber da sind sie
Alteisen in Astoria.
Ich habe des Lumpensammlers Singsang gehört.
Ich bin auf Superautobahnen gefahren
und habe den Anpreisungen der Plakate geglaubt
Durchkreuzte die Jersey-Niederungen
und die Städte der Ebene
Und wilderte durch die Wildnis von Westchester
mit seinen in Stationswagen
herumkarjolenden Banden von Einheimischen.
Ich hab sie gesehn.
Ich bin der Mann
Ich war da.
Ich hab was gelitten
und wie.
Ich bin Amerikaner.
Ich hab einen Passport.
Ich hab nicht gezeigt wie mir war.
Und ich bin zu jung um zu sterben.
Ich bin ein Selfmademan.
Ich habe prima Aussichten.
Ich bin vorgemerkt
für einen leitenden Posten.
Ich würde auch nach
Detroit ziehen
Ich bin nur vorübergehend
ein Schlipsverkäufer.
Mich können Sie überall einsetzen.
Ich bin ein offenes Buch
für meinen Brötchengeber
Ich bin ein Buch mit sieben Siegeln
für meine intimsten Freunde.
Ich führe ein ruhiges Leben
in Mike’s Place jeden Tag
versenke ich mich in meinen Bauchnabel.
Ich bin ein Teil
von der riesigen Verrücktheit des Körpers.
Ich bin in vielen Nachtwäldern gewandert.
Ich habe in betrunkenen Haustüren gelehnt.
Ich habe wilde Geschichten
ohne Satzzeichen geschrieben.
Ich bin der Mann.
Ich war dort.
Ich habe gelitten
und wie.
Ich hab in einem ungemütlichen Stuhl gesessen.
Ich bin eine Träne der Sonne.
Ich bin ein Hügel
von Poeten überlaufen.
Ich habe das Alphabet erfunden
beim Anschaun der fliegenden Kraniche und
der Buchstaben die sie mit ihren Füßen beschrieben.
Ich bin ein See in einer Ebene.
Ich bin ein Wort
in einem Baum.
Ich bin ein Berg der Dichtung.
Ich bin ein Überfall
in das Unausgesprochene.
Ich träumte
mir fielen alle Zähne aus
doch meine Zunge lebte
um mein Sagen zu sagen.
Denn ich bin eine Destille
der Dichtung.
Ich bin ein Strand des Gesangs.
Ich bin ein von selbst spielendes Klavier
in einem verlassenen Kasino
auf einer Strandpromenade
in einem dichten Nebel
das immer noch spielt.
Ich sehe die Ähnlichkeit
zwischen der Lachenden Frau
und mir.
Ich habe den Laut des Sommers
im Regen gehört.
Ich habe Mädchen auf Strandwandelbahnen
durch komplizierte Erlebnisse gehen sehn.
Ich verstehe ihre Vorsicht.
Ich bin ein Sammler solcher Früchtchen.
Ich habe Küsse
in Freudentaumel enden sehn.
Ich habe Entzückung drangesetzt.
Ich habe die Jungfrau
in einem Apfelbaum von Chartres gesehn
und die heilige Johanna brennen
auf der Bella-Union.
Ich habe Giraffen
ihre Hälse wie Liebe
um die eisernen Gegebenheiten
der Welt winden sehn.
Ich habe Venus Aphrodite ohne Arme
in ihrem zugigen Korridor gesehn.
Ich habe eine Sirene in
Nummer Eins Fifth Avenue singen hören.
Ich habe am 14. Juli
die Weiße Göttin in
der Rue des Beaux Arts tanzen sehn
und die Schöne Dame Ohne Gnade
ihre Nase puhlen sehn in Chumley’s.
Sie sprach kein Englisch.
Sie hatte gelbes Haar
und eine heisere Stimme
und kein Vogel sang.
Ich führe ein ruhiges Leben
in Mike’s PIace Tag für Tag
sehe ich die Taschenspieler
ihre Minestroneszene machen
und ihre Makkaroni hinunterschlingen
und ich habe irgendwo
die Bedeutung der Existenz gelesen
vergaß aber
wo es eigentlich war.
Aber ich bin der Mann
Und ich werde dasein.
Und vielleicht werde ich die Münder
der Schlafenden sprechen machen
Und vielleicht werde ich meine Taschenbücher
in Garben von Gras verwandeln.
Und vielleicht meinen eigenen
namentlichen Nachruf schreiben
und dem Reiter zurufen
Reiter Reit Vorbei.
einer der führenden Autoren der „San-Franzisko-Gruppe“. Er ist Inhaber einer modernen Buchhandlung und gleichzeitig Verleger einer Taschenbuch-Serie, in der unter anderem Allen Ginsbergs vieldiskutiertes „Geheul“ erschien. Vielfach hat er seine Gedichte mit Jazzuntermalung in Nachtclubs rezitiert – und seine Gedichte sind in erster Linie dazu bestimmt, laut gelesen zu werden – als unmittelbare Kommunikation in der Sprache unserer Zeit. Er nimmt sein Material, Ton und Phrasierung aus dem Alltag, aus dem „Coney Island“ von Vorstellungen und Empfindungen in unser aller Gehirnen und verwandelt sie in eine Poesie von satirischer Schärfe und lyrischer Schönheit. „Die Druckpresse“, sagt er „hat die Poesie so stumm gemacht, daß wir vergessen haben, welche Macht Dichtung als ,mündliche Botschaft‘ besitzt. Der Klang des Straßensängers wie des Predigers der Heilsarmee sind nicht verächtlich…“
Einige Pressestimmen über die amerikanische Originalausgabe, von der in wenigen Jahren über 40.000 Exemplare verkauft wurden:
„… er ist wahrscheinlich der bedeutendste Dichter im Amerika von heute.“
Ralph Gleason, Downbeat
Ferlinghetti schämt sich nicht, Romantiker zu sein, trunken von der Erfahrung des Wunders, gnadenlos satirisch gegenüber allem, das zu unrecht für ehrwürdig gilt.
The Village Voice, New York
Nach Allen Ginsberg – und Kenneth Rexroth ausgenommen – ist Ferlinghetti heute wohl der bekannteste Dichter der San-Franzisko-Gruppe. Zweifellos ist er einer der besten.
Ungeachtet seiner Verbindung mit der Beat Generation, macht er kaum den Eindruck, sehr „beat“ oder „cool“ zu sein. Seine Gedichte zeigen ein beträchtliches Maß von Mitleidensfähigkeit und vielfach eine Traurigkeit, die an eine höchst unbeatmäßige Sehnsucht grenzt.
Times, Shreveport
Die Anhänger der Beatniks werde in diesem schmalen Band einiges von der besten Lyrik finden, die diese literarische Bewegung hervorgebracht hat. Ferlinghettis Dichtung ist so frisch und unmittelbar wie ein Schlag ins Gesicht.
Kansas City Star
Limes Verlag, Klappentext, 1962
Auf einem der aussagekräftigeren Fotos aus meiner Biographie über Lawrence Ferlinghetti (Ferlinghetti: A Biography, 1979), sitzt der Dichter mit gelangweiltem Gesicht im überfüllten Gerichtssaal anläßlich der Verhandlung zu den Howl Obszönitäten im Jahre 1957. Da Ginsbergs Howl and Other Poems für Ferlinghettis City Lights Books in England gedruckt worden war, fiel die strafrechtliche Verfolgung unter die Zuständigkeit der amerikanischen Zollbehörde, genauer gesagt unter das wachsame Auge ihres obersten Beamten Chester McPhee, der sich bereits früher als Hüter der öffentlichen Moral hervorgetan hatte, als er Ausgaben von The Miscellaneous Man beschlagnahmen ließ, einer Lyrikzeitschrift, die von William J. Margolis herausgegeben wurde.
Während die fünfhundert Exemplare von Howl durch McPhee einbehalten wurden, brachte City Lights eine mit dem Originaltext identische Foto-Offset Auflage heraus und bot sie zum Verkauf an. In der Zwischenzeit hatte William Hogan, Buchkritiker des San Francisco Chronicle, Ferlinghetti seine Sonntagskolumne angeboten, damit er das Gedicht gegen die Beschlagnahme verteidigen konnte. In seinem Artikel empfahl Ferlinghetti die Verleihung einer Medaille an McPhee, durch dessen Mithilfe das Gedicht berühmt geworden war. Er schrieb, daß er das Titelgedicht als „das bedeutendste umfangreichere Werk der Lyrik seit dem Zweiten Weltkrieg“ betrachtete, das in diesem Land veröffentlicht worden ist, und er führt weiter aus, „mit dem großen obszönen Überfluß in Howl, der den Überfluß unserer mechanisierten Welt darstellt, die unter Atombomben und sinnlosem Nationalismus zugrunde ging… folgte Ginsberg den Spuren von Nelson Algren, Henry Miller, Kenneth Rexroth, Kenneth Patchen, ganz zu schweigen von einigen verstorbenen großen Amerikanern, die meist in der Tradition eines philosophischen Anarchismus standen.“
Zehn Tage nach Erscheinen des Artikels gab McPhee die beschlagnahmten Exemplare von Howl wieder frei. Die Staatsanwaltschaft von San Francisco weigerte sich, gegen das Buch vorzugehen. Dafür wurde dem San Francisco Police Department und seiner Jugendabteilung unter Vorsitz von Captain William Hanrahan, einem bekannten Schmutzjäger aufgetragen, das Spießrutenlaufen zu beginnen. Hanrahan gab öffentlich seiner Hoffnung Ausdruck, Howl würde den Weg zu einer ganzen Reihe von Buchbeschlagnahmungen ebnen.
Innerhalb kürzester Zeit wurden Ferlinghetti und sein Partner bei City Lights Shig Murao verhaftet – Murao weil er Howl verkauft hat, und Ferlinghetti weil er es veröffentlicht hat. Die Anklage gegen Murao wurde schließlich wieder fallengelassen, da nicht festgestellt werden konnte, ob er das Buch gelesen hat und sich damit der Obszönität bewußt war. In der Klage gegen Ferlinghetti wurde angeführt daß er obszönes und unmoralisches Material vorsätzlich und wollüstig gedruckt und verkauft habe. Die Staatsanwaltschaft versuchte, bestimmte Worte zu isolieren und ihre Obszönität zu beweisen. In einer Ausgabe des Buches wurden die angeblich obszönen Worte unterstrichen. Die amerikanische Vereinigung für bürgerliche Freiheiten übernahm die Verteidigung und machte geltend, daß einzelne Worte ein Buch nicht obszön machen konnten. Das Buch als Ganzes müsse beurteilt werden.
Während des Verfahrens, das sich über den ganzen Sommer 1957 hinzog, stellte City Lights in seinem Laden Bücher aus, die in der Vergangenheit verboten waren. Es war eine eindrucksvolle Literatursammlung unter anderem mit Ulysses, Lady Chatterley’s Lover, Huckleberry Finn, The Odyssey und Gulliver’s Travels.
Die Anklage, die als Zeugen nur zwei sogenannte Sachverständige aufzubieten hatte, konnte mit der Batterie von distinguierten Gelehrten und Schriftstellern, die zu Ferlinghettis Verteidigung erschienen waren, nicht mithalten. Dazu gehörten Mark Schorer, Autor und Vorsitzender des Department of Graduate Studies an der University of California in Berkeley und Walter Van Tilburg Clark, Autor und Professor für Sprachwissenschaft am State College in San Francisco.
Jake Erlich, der Hauptanwalt der Verteidigung, zitierte Whitmans Leaves of Grass, um Howl zu verteidigen. Erlich war zuvor Anwalt des zum Tode verurteilten Kidnappers Chessman gewesen, der durch seine Appelle vom elektrischen Stuhl berühmt geworden war und dessen Hinrichtung Bob Kaufman so eindringlich bedauert hatte. Erlich nahm eine Ausgabe von Ginsbergs Buch in die Hand und sagte: „Gibt es irgendetwas an diesem Buch, das darauf hindeutet, daß sein Inhalt zu einem moralischen Zusammenbruch der Bürger in dieser Stadt führen könnte… Wir stehen vor der Frage, wie dieses Buch vom Gericht beurteilt werden soll. Wenn ich das Gesetz richtig verstehe, muß das Gericht das Buch als Ganzes deuten. Ich mutmaße, daß ich beim Auseinandernehmen des Klassikers Leaves of Grass hier und da ein Wort oder eine Idee fände, die von den Leuten nicht geschätzt würden. Aber in Leaves of Grass will der Dichter eine bestimmte Idee vermitteln, nicht wollüstig, geil, unsittlich oder ordinär, sondern eine Geschichte, die eine bestimmte Erscheinungsform des Lebens selbst beschreibt.“
In seiner Urteilsverkündung am Ende des Verfahrens erklärte Richter Clayton Horn: „Ich glaube, daß Howl wie jedes andere Werk der Literatur den Versuch unternimmt und es beabsichtigt, eine deutliche Aussage oder Auslegung über eine menschliche Erfahrung im Sinne des Autors mitzuteilen.“ An einer anderen Stelle des Urteils zitiert er den Spruch: Honi soit qui mal y pense, „Es schäme sich, wer schlecht darüber denkt.“
Das FBI hat offensichtlich nie die Mitteilung bekommen, daß Ferlinghetti vom Vorwurf der Obszönität freigesprochen wurde. Jahre später, als er seine FBI Akte aufgrund des Gesetzes über die Informationsfreiheit einsah, entdeckte Ferlinghetti eine eher humorvolle Beschreibung seiner Person als ein „Beatnik Aufrührer“.
Die Eintragungen über Ferlinghetti schienen nicht nur auf dem Howl Prozeß zu basieren. Da war auch noch der Fall Anton Refrigier zu berücksichtigen. Trotz handgreiflicher Proteste des Amerikanischen Frontkämpferverbandes, der Vereinigung der Veteranen und der Gesellschaft für Künstler des Westens nahm Ferlinghetti öffentlich Stellung gegen die Entfernung eines Wandgemäldes von Refrigier am Rincon Annex Post Office in der Innenstadt von San Francisco. Es stellte das Wachstum der Nation mit einem so treffenden Sinn für die Ungerechtigkeiten gegenüber Minderheiten und Arbeitern dar, daß es zum Widerspruch kommen mußte. Noch 1948 war das Gemälde ohne das geringste Anzeichen von Unmut enthüllt worden. Mit der Zeit jedoch holten die langen Schatten von McCarthy Refrigier ein und die Darstellung wurde wegen ihrer subversiven Natur attackiert. 1955 entzündete sich die Auseinandersetzung um die Wandmalereien. In einer Resolution des Kongresses wurde ihre Beseitigung gefordert, wobei dreiundzwanzig Beispiele für Refrigiers Verbindung zu kommunistischen Vereinigungen oder Organisationen von Gesinnungsgenossen angeführt wurden. Ferlinghetti schrieb, es sei „zu offensichtlich, daß das Wandgemälde zum jüngsten Schlachtfeld einer intellektuellen und künstlerischen Zensur geworden ist“. Es wurde geplant, ein Komitee zur Verteidigung der Wandmalereien von Refrigier zu gründen. Die Aufregung legte sich jedoch, als der Schatten von McCarthy in die Geschichte entwich.
Vielleicht hat das FBI auch etwas über Ferlinghettis Lehrtätigkeit an der University of San Francisco im Sommer 1952 herausgefunden. In einer Vorlesung über Shakespeare entwickelte er einen homosexuellen Interpretationsansatz von Shakespeares Sonetten. Dies führte zu einem unmittelbaren Skandal unter Studenten, Fakultät und dem Ministerium. Er durfte das Sommersemester beenden, wurde aber nicht wieder eingestellt.
Da waren auch noch hunderte von Dichterlesungen, Veranstaltungen gegen den Vietnamkrieg und Protestmärsche, an denen Ferlinghetti in den 60ern teilgenommen und die J. Edgar Hoovers Mannschaft sicher als Ärgernis empfunden hatte. Sie haben sich vielleicht sogar mit seiner Meinung angefreundet, daß ein Künstler sich nicht mit einer Regierung arrangieren sollte, die in einen Aggressionskrieg verwickelt ist. Dann ist da noch die Antwort, die er Who’s Who einmal gab: „Fuck you.“
Zweifellos hatten die FBI-Leute genaue Kenntnisse von Ferlinghettis Verhaftung im Dezember 1967 wegen seiner Teilnahme an einer Demonstration vor dem Oakland Army Induction Center. Man erwartete drei Busse mit künftigen Rekruten zur Musterung und er wollte zusammen mit den anderen Demonstranten die Einfahrt zum Einberufungszentrum sperren. Als sie die Einfahrt zum Parkplatz neben dem Zentrum blockierten, trat ihnen ein beträchtliches Polizeikontingent entgegen. Die Demonstranten rückten enger zusammen. Sie wurden darüber informiert, daß der Protest als illegale Versammlung angesehen wurde und aufgefordert, zu verschwinden. Als sie sich weigerten, las man ihnen ihre Rechte vor und transportierte sie in Fahrzeugen ab. Ferlinghetti legte gegen den Vorwurf der öffentlichen Ruhestörung keinen „Widerspruch ein und bekam neunzehn Tage Arrest im Alameda Country’s Santa Rita Gefängnis. In einer Erklärung vor dem Richter sagte er:
Ziel der Demonstration war es, den Krieg zu beenden. Ziel war es, den Eintritt in den Krieg zu blockieren. Die Motive der Demonstranten waren rein und die Aktion war völlig gewaltfrei. Es war ein legitimer Ausdruck von politischem Andersdenken und nach meiner Meinung darf dieses Andersdenken in einer Gesellschaft, die sich selbst als frei bezeichnet, nicht unterdrückt oder verfolgt werden.
Im Gefängnis arbeitete Ferlinghetti in der Wäscherei und verfaßte ein Journal. Über seinen ersten Tag im Gefängnis schrieb er:
Rehabilitiert uns, bitte… erster allgemeiner Eindruck eines jeden, der zum ersten Mal im Knast ist: plötzlich wird einem bewußt, was eingesperrt wirklich bedeutet, paranoide Angst vor dem Unbekannten, Angst nicht zu wissen, was mit deinem Körper passieren wird… Stacheldrahtzäune und Wachtürme… Konzentrationslager des armen Mannes?
Auch konnte das FBI wenig erfreut sein über Tentative Description of a Dinner Given to Promote the Impeachement of President Eisenhower, das der Dichter Mitte der fünfziger Jahre geschrieben hatte oder über Tyrannus Nix, ein politisches Traktat über Präsident Nixon. Und wenn sie die Veröffentlichungsliste von City Lights der vergangenen Jahre studieren würden, fänden die FBI Agenten auch nichts, was ihr Herz erfreuen würde.
Ferlinghetti, der unheilbare Aufrührer, kam nie zur Ruhe. Seine eigene Kindheit verlief alles andere als ruhig. Wie Corso wuchs auch er bei Fremden auf, wurde von einer Hand zur nächsten weitergereicht und hat seine Mutter und seine älteren Brüder das erste Mal gesehen, als er fast elf Jahre alt war. Geboren wurde er in Yonkers, New York am 24. März 1919 als Sohn eines Immigranten aus der Lombardei und einer Mutter von französisch-portugiesischer und sephardisch-jüdischer Herkunft. Sein Vater starb einige Monate vor seiner Geburt und die Mutter, die mit ihrem Kummer und dem Neugeborenen nicht fertig wurde, kam bald ins staatliche Hospital von Poughkeepsie, New York, wo sie fünf Jahre blieb. Seine älteren Brüder wurden auf ein Internat nach Ossining geschickt. Lawrence lebte bei einer Tante, die ihn mit nach Frankreich zu ihren Verwandten nahm. Dort lernte er Französisch, war aber bald wieder in New York, wo Tante Emily als Hausmädchen für die Bislands arbeitete, eine wohlhabende Familie aus Bronxville, einem Vorort von New York. Eines Tages verließ sie die herrschaftliche Villa und kehrte nicht wieder zurück. Eine Woche zuvor hatte sie ihrem Neffen das Buch Little Lord Fauntleroy gegeben, die Geschichte eines armen amerikanischen Jungen, der ein großes Vermögen in England erbt. Das war das erste Buch, das Ferlinghetti von Anfang bis Ende durchlas.
Presley und Anna Lawrence Bisland nahmen den Jungen in ihrer Familie auf. Es dauerte nicht lange, bis Ferlinghetti anfing, die Bibliothek voll ledergebundener Ausgaben von Sir Walter Scott, Longfellow, James Russell Lowell und Whittier zu durchstöbern. Als seine Mutter ihn besuchte, hatte er schon zahlreiche griechische und römische Klassiker gelesen.
Seine Familie nach so vielen Jahren wiederzusehen, war für ihn eine emotional fordernde Erfahrung. Er wurde vor die Wahl gestellt, bei den Bislands zu bleiben oder zu seiner leiblichen Mutter zurückzukehren. Er wählte das Leben, das ihm vertraut war. 1971 schrieb er:
I lawrence ferlinghetti
wrought from the dark in my mother long ago
born in a small back bedroom −
In the next room my brother heard
the first cry,
many years later wrote me −
„Poor Mom – No husband – No Money – pop Dead
How she went through it all“
Someone squeezed my heart
to make it go
I cried and sprang up
Open eye Open heart where
do I wander
Nach der Highschool schrieb sich Ferlinghetti an der University of North Carolina in Chapel Hill ein, in der Hoffnung irgendwann Journalist zu werden. Als er 1941 am College seinen Abschluß machte, hielt Carl Sandburg die Rede zur Verleihung des akademischen Grades. Ferlinghetti schrieb über den großen populistischen Dichter:
Er formte ein Zauberwort. Er nannte uns die Brückengeneration, den einen Fuß in einem Krieg, den zweiten in einem anderen.
Ferlinghetti diente im Zweiten Weltkrieg bei der Navy. Er machte seinen Magister an der Columbia University, wo er manchmal die gleichen Professoren hatte, bei denen auch Allen Ginsberg studiert hatte. 1948 ging er auf Kosten der Armee nach Paris und besuchte die Sorbonne, wo er promovierte. Seine Lyrik spiegelt häufig diese Jahre in der französischen Hauptstadt wider, wo er selbst oft das Gefühl hatte, wie Ernest Hemnigway oder Henry Miller das Leben eines Auswanderers zu führen. In seinem ersten Buch Pictures of the Gone World schrieb er:
In Paris in a loud dark winter
aaaaaaaaaaaaaaawhen the sun was something in
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaProvence
when I came across the poetry
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaof René Char
I saw Vaucluse again
aaaaaaaaaaaaaaaaaain a summer of sauterelles
its fountain full of petals…
Eins der immer wiederkehrenden Bilder, die ich von North Beach habe, ist das von Ferlinghetti, der ins Café Puccini geht, um seinen Morgenkaffee zu trinken und die New York Times zu lesen. Oft saß ich im Café Roma direkt gegenüber und beobachtete ihn, wie er in die Zeitung vertieft am Tisch saß. Wenn ich ihn da sitzen sah, dachte ich daran, wie er mir immer von den langen Stunden erzählte, die er im Café Mabillon in Paris verbracht hatte, damals als er auf Kosten der Armee dort gelebt hatte und in Montmartre für einen Apfel und ein Ei zur Miete wohnte. „Ich lebte damals den Mythos des Auswanderers“, sagte er, obwohl es überhaupt nicht mythisch klang.
Nach seinem Kaffee geht er zum City Lights Bookstore, immer noch am gleichen Platz wie vor vierunddreißig Jahren, die modernen Hochhäuser des Finanzviertels ein oder zwei Blocks näher als in den fünfziger Jahren. Dort angekommen zieht er sich in sein Büro zurück und widmet sich zusammen mit seiner Mitherausgeberin Nancy Peters mehrere Stunden den Verlagsgeschäften. Es ist, wie er in One Thousand and One fearful Words for Fidel Castro schrieb, ein meist „ruhiges Leben“.
Dennoch ist er in all den Jahren, die ich ihn kenne, immer auf dem Sprung gewesen, sei es zu einem literarischen Colloquium nach Berlin, einer Konferenz in Paris oder einer Lesung in Universitäten des amerikanischen Ostens. Als wir uns 1975 kennenlernten, schien er sich immer gerade auf Zwischenstation zu befinden. „Ich bin auf dem Sprung nach Europa“ sagte er dann oder „Greenpeace macht eine Protestveranstaltung im Norden. Ich muß los.“ Bei anderen Gelegenheiten ging er bloß zum Union Square die Straße runter, um an einer Antiatom-Demo teilzunehmen. „Ich gehe zu einer Kerouac Veranstaltung nach Quebec“, erzählte er mir im September 1987. „Ich wollte eigentlich nicht hin, aber sie bezahlen mir die Reise und ich bin noch nie dort gewesen.“
Als 1959 die Beat Generation in voller Blüte stand, schrieb er in sein Notizbuch:
Die Werke der Beat Generation sind Beschimpfungen – das einzige, was davon Bestand haben wird, ist das erzählende ich – ob in Prosa oder Lyrik – seine Stimme klingt durch die amerikanische Erfahrung hindurch, erst Whitman, dann Thomas Wolfe, dann Kerouac…
In Whitman, dem Gestalter des freien Menschen in der Lyrik und im amerikanischen Leben, fand Ferlinghetti seine stärkste und dauerhafteste Quelle:
„Autobiography“ beginnt mit:
I am leading a quiet life
in Mike’s Place every day
watching the champs
of the Dante Billiard Parlor
and the French pinball addicts.
I am leading a quiet life
on Lower East Broadway.
I am an American.
I was an American boy.
I read the American Boy Magazine
and became a boy scout
in the suburbs.
I thought I was Tom Sawyer
catching crayfish in the Bronx river
and imagining the Mississippi.
Das ich dominiert, und dieses Gedicht über direkte Beziehungen fährt fort in der Betrachtung des amerikanischen Lebens und seiner Werte Mitte der fünfziger Jahre. Alles fließt ruhig dahin. Keine Mißtöne stören das Bild. Es ist wirklich ein „ruhiges Leben“, das gemächlich übergeht von North Beach und der vertrauten Umgebung zu Whitmans Amerika:
I have ridden superhighways
and believed the billboard’s promises
Crossed the Jersey Flats
and seen the Cities of the Plains…
1978, am Abend des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums von City Lights Booksellers and Publishers nahm ich zusammen mit dem Dichter Steven Schwartz 250 mics LSD. Außer uns schienen alle Dichter aus einem Umkreis von fünfhundert Meilen auf der Party versammelt zu sein. Als der Stoff zu wirken begann, begaben wir uns in das Penthouse Restaurant im Gebäude der Bank of America, hoch oben über North Beach. Nachdem wir eine Stunde dort gewesen waren, in der ich mich ziemlich gut gefühlt hatte, war mir plötzlich, als ob ich im Vorraum einer Leichenhalle stände. Ich rannte zur Straße runter und in mein Appartement, von wo aus ich meine Eltern anrief. Meine Mutter sagte:
Geh zu Lawrence Ferlinghetti. Du kannst ihm trauen. Er wird dir helfen.
Ich legte auf und rannte zur Old Spaghetti Factory, wo die Party stattgefunden hatte. Sie war eine Stunde vorher zu Ende gegangen. Alle waren schon lange zu Hause. Also machte ich mich auf den Weg zu Ferlinghettis Wohnung in der Francisco Street. Auf halber Strecke fingen die Gebäude um mich herum an zu schmelzen. Als ich näher kam, verwandelten sie sich in etwas, das wie Eis aussah. Dies stellte ein Problem dar. Als das Gefühl des Abgleitens zunahm und Ferlinghettis Haus völlig abzuschmelzen drohte, schaffte ich es irgendwie die Ruhe zu bewahren und zu seiner Wohnung zu kommen. Ich klopfte an die Tür während ich eine Hand auf mein Herz drückte, welches sich wie ein unabhängiges Wesen anfühlte, das aus meinem Körper springen wollte. Als die Tür aufging, starrte mich Ferlinghetti mit seinen hellblauen Augen an: „Was ist los, Neeli?“
„Ich habe LSD genommen und kann mich nicht mehr kontrollieren. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Gut, komm rein“, sagte er. „Viele Leute haben einen schlechten Trip. Das ist nicht weiter schlimm. Erinnerst du dich, als ich dir von dem Trip erzählt habe, den ich in Tepotzlan, Mexico hatte? Ich hatte magische Pilze von einer alten Indianerin bekommen, die dort lebte. Ich ritt auf einem kleinen Zapatista Pferd in den Sonnenuntergang. Ich war wie ein Sonnenuntergang, der niemals endet. Einige Freunde waren bei mir. Als die Nacht anbrach, ritten wir weiter durchs Tal. Es war eine nie enden wollende Nacht.“
Seine Worte beruhigten mich. Ich ging die Treppe hoch und betrat die Diele, die zur Küche führte.
„Komm rein. Es sind ein paar Freunde hier. Alles Freunde von City Lights.“ Er legte seinen Arm um mich und sagte: „Du gehörst zur Familie… du kannst heute nacht hierbleiben. Mein Sohn Lorenzo ist bei seiner Mutter in Bolinas.“
Während ich ihm zuhörte, bekam ich langsam wieder die Kontrolle über mich. Ich ging in die Küche und fand seine Freundin Paula Lillevand vor, die am Tisch saß mit dem Druckereibesitzer Jack Stauffacher und seiner Frau Josephine. Als ich mich gesetzt hatte, reichte mir Ferlinghetti ein Telegramm von Allen Ginsberg, in dem er City Lights zum Jubiläum gratulierte. Nachdem ich die Hälfte gelesen hatte, fing ich plötzlich furchtbar an zu zittern. Ich stand vom Tisch auf und ging in Lorenzos Zimmer.
Erst lag ich ruhig auf seinem Bett und hörte etwas Musik. Als die Musik anfing, bedrohlich zu klingen, so als ob sie mörderische Botschaften aussende, stellte ich das Radio ab. Dann schaute ich mir eine Wiederholung von I Love Lucy in dem kleinen Fernseher neben Lorenzos Bett an. Das war recht lustig, bis zu dem Zeitpunkt als Lucy und Ricky sich mir zuwandten und mit dem Finger auf mich zeigten. Lucy sagte: „Du bist nichts. Hörst du mich, nichts.“ Ich schaltete den Fernseher aus und rannte auf den Flur. Als ich die Küche erreichte, merkte ich, daß alle Gäste bereits gegangen waren und Ferlinghetti schlief. Eine Weile stand ich im Flur und schaltete dann das Licht an. Ich beschloß, in Lorenzos Zimmer zurückzukehren. In diesem Moment überkam mich eine Woge von Wahnvorstellungen und ich spürte die Anwesenheit einer gebieterischen, unsichtbaren Gestalt.
„NEELI! KANNST DU MICH HÖREN?“
„Wer ist da?“ fragte ich.
„DIES IST DIE STIMME VON LSD. DER EINZIGE WEG WIE DU DICH VON DIESEM TRIP BEFREIEN KANNST, IST AN FERLINGHETTIS TÜR ZU KLOPFEN UND lHN UM VERZEIHUNG DAFÜR ZU BITTEN, DASS DU DICH HINTER SEINEM RÜCKEN ÜBER lHN LUSTIG GEMACHT HAST.“
„Aber das war nur ein Scherz. Ich imitiere jeden.“
„BITTE lHN UM VERZElHUNG!“
Ich ging zu seiner Schlafzimmertür. Meine Hand wollte den Türgriff fassen, aber ich nahm all meine Kraft zusammen, um sie zurückzuziehen.
„DU WIRST ES BEREUEN“, warnte mich die Stimme.
Als ich mich zur Küche vorkämpfte, stolperte ich und kroch auf allen Vieren zum Telefon. Ich schaute auf die Uhr: 3 Uhr morgens. Ich wählte die Vermittlung und fragte nach dem Notruf der Drogenberatung. Nachdem es vierzehnmal geklingelt hatte, meldete sich eine müde Stimme.
„Ich hab LSD genommen und bin auf einem schlechten Trip. Was soll ich bloß machen?“
„Nehmen Sie ein heißes Bad und legen Sie sich ins Bett“, riet mir eine mitleidige Stimme mit nur leicht verärgertem Unterton.
Ich tat wie mir geheißen wurde und lag friedlich in Lorenzos Zimmer. Bevor ich einschlief, sah ich vor mir Ferlinghetti als Kapitän auf einem Schiff mit aufrührerischen Schriftstellern. Da waren berühmte und verruchte Dichter, unbekannte Menschen aus den Straßen von North Beach und alle hatten von der Standhaftigkeit dieses Mannes aus Bronxville profitiert. Zuletzt sah ich ihn, wie er das Boot unter der Golden Gate Bridge hindurch auf die offene See steuerte. Dann schlief ich ein. Als ich am Morgen erwachte, saßen er und Paula in der Küche und tranken Kaffee. Sie sagten, ich solle mich zu ihnen setzen.
„Das muß ein toller Trip gewesen sein“, sagte Ferlinghetti.
Typisch für die Art, wie er die Welt um sich herum wahrnimmt, ist eine Erzählung Ferlinghettis über seinen ersten Eindruck von San Francisco, als er 1951 mit einer Fähre aus Oakland dort ankam. Er hatte einige Jahre in Paris hinter sich und einen kurzen Zwischenstop an der Ostküste, die er als fremd und deprimierend empfand, obwohl er dort aufgewachsen war. Nach allem, was er über San Francisco gehört hatte, konnte er sich vorstellen, daß dieser Ort ihm gefallen würde. Damals war es eine Stadt mit weißen Bauwerken. Es gab nur wenige Hochhäuser. Er meinte zu mir, San Francisco würde ihn an mediterrane Hafenstädte wie beispielsweise Tunis erinnern. Er sagte, daß er es nie vergessen werde, wie die weißen Gebäude die Sonne reflektierten. Es sah aus wie ein Ort, in dem er leben könnte.
Er verließ die Fähre und lief die Market Street runter, eine der Hauptverkehrsstraßen mit Straßenbahnen, breiten Bürgersteigen und großen Kaufhäusern. Es dauerte nicht lange, bis er das italienische Viertel von North Beach gefunden hatte, daß ihn mit seinen Bäckereien, den Restaurants und Espresso-Cafés an das Leben in Paris erinnerte. Ich vermute, er wollte in der Stadt bleiben, weil er dort billigen Rotwein und Baguette bekommen konnte. Vor allem wegen seiner Veröffentlichung von Allen Ginsbergs Howl and Other Poems wurde diese Gegend ein Zentrum für Whitmans wild children. Die von diesen Dichtern, Künstlern und Bohemiens erzeugten Aktivitäten sind in San Francisco und der ganzen Welt lebendig geblieben.
Bei seinen Gedichten achtet Ferlinghetti wie e.e. cummings und William Carlos Williams sehr darauf, wie das Gedicht aufgebaut ist. Seine Gedichte haben etwas gespenstisches, undurchsichtiges, als ob der Sprecher die Welt über einen unüberbrückbaren Abgrund hinweg aus der Ferne betrachtet. Die Gedichte sind der direkte Zugang zu einer seltenen Welt voll engelhafter und satanischer Impulse, die langsam ineinander verschmelzen, manchmal so unmerklich, daß man sie zwei- oder dreimal lesen muß, bevor man sagt: „Das ist ein verdammt gutes Gedicht…“ was immer dann passiert, wenn ich Gedichte aus Pictures of the Gone World lese. Sie sind poetische Telegramme aus der Phantasie eines Mannes, der unauffällig die großen Themen behandelt, denen sich die Dichter immer schon angenommen haben – abstrakte Themen wie Schönheit, Tod, Liebe und Glück. Wenn diese Dichtungen/Telegramme ihr Ziel erreichen, erlangen sie eine Glaubwürdigkeit wie sonst nur Gedichte, deren Schöpfer durch große Ziele und Ambitionen getrieben wurden. Ferlinghetti behandelt den Tod in der gleichen entwaffnenden Art, wie e.e.cummings es in Buffalo Bill’s… getan hat. Er schreibt:
aaaaaThe world is a beautiful place
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaato be born into
if you don’t mind some people dying
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaall the time
aaaaaaaaaaaor maybe only starving
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasome of the time…
Er beendet das Gedicht mit der gleichen Direktheit:
aaaaaa… and going swimming in rivers
aaaaaaaaaaaon picnics
aaaaaaaaaaaaaaain the middle of the summer
and just generally
aaaaaaaaaaaaaa„living it up“
Yes
aaabut then right in the middle of it
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaacomes the smiling
aaaaaaaaaaaamortician.
Ferlinghetti stimmt mit Walt Whitman in vielerlei Hinsicht überein. Es war kein Zufall, daß er Whitmans An American Primer veröffentlicht hat. Für ihn war es ein wichtiger Beitrag des Dichters über seine Vorstellungen zum amerikanischen Englisch im 19. Jahrhundert. Whitman hat es nie als abgeschlossenes Dokument betrachtet. Die Philosophie darin ist rein populistischer Natur. Wenn er mit Worten wie „spiritual“ konfrontiert wurde, reagierte er gewöhnlich zurückhaltend, aber in Primer lesen wir: „Bodies are all spiritual. – All words are spiritual – no thing is more spiritual than words.“ Whitman wollte keine dogmatische, erzreligiöse Abhandlung schreiben. Seine Absicht wird in folgendem Satz deutlich: „The Americans are going to be the most fluent and melodious voiced people in the world – and the most perfect users of words. – Words follow character – nativity, independence, individuality.“ Von diesem Konzept war Ferlinghetti sehr angetan. Was ihm noch mehr zusagte, glaube ich, war der letzte Satz in Primer, mit dem Whitman neue Worte fordert „that would give that taste of identity and locality which is so dear in literature.“
In dem Gedicht „Starting from San Francisco“ denkt Ferlinghetti ganz bewußt an Whitmans „Starting from Paumonak“, der Landzunge am Ende von Long Island. Darin beschreibt Whitman die Absicht seiner Vision und wie sie sich in einem großen amerikanischen Epos manifestieren wird: „I will sing the song of companionship, / I will show what alone must finally compact these…“ und fährt dann fort mit einer optimistischen Vision des erwachenden amerikanischen Landes und seiner Kultur. Die Themen aus Leaves of Grass – die weite Straße und der amerikanische Dichter als Protokollant der allgemeinen Impulse im Land – werden in Ferlinghettis Gedicht zum Leben erweckt. Aber anstatt im Osten zu beginnen, führt Ferlinghetti uns von San Francisco zurück durch Whitmans weites, ausgedehntes Land. Und anstatt Gesellschaft zu suchen, bleibt Ferlinghetti allein, entfremdet.
Here I go again
crossing the country
(back to my old
lone wandering)
All night Eastward… Upward
over the Great Divide…
Do they have a Classified Section
as in phonebooks
as in the back of the Bibles here?
In Versen, die uns zu Whitmans „Out of the Cradle Endlessly Rocking“ zurückführen, schreibt Ferlinghetti:
The world is a winter farm −
Cradle we rocked out of −
Prairie schooners into Pullmans,
their bright saloons sheeted in oblivion – …
„Starting from San Francisco“ endet mit der Frage: „Who stole America?“ gefolgt von: „Myself I saw in the window reflected.“ Wie Ginsberg ist auch Ferlinghetti in vielen Gedichten der Meinung, daß das Versprechen einer großen, visionären amerikanischen Kultur verraten worden ist.
Mit A Coney Istand of the Mind begann Ferlinghetti Gedichte zu schreiben, die an die Dichter des 19. Jahrhundert erinnern, mit einem zusätzlichen Anflug von Humor, den er bei Sandburg und in seiner eigenen natürlichen Veranlagung vorfand. Sein Gedicht „I Am Waiting“ erinnert mich an Whitmans mehr rhapsodische Phasen:
I am waiting for my case to come up
and I am waiting
for a rebirth of wonder
and I am waiting for someone
to really discover America
and wail…
Ende August 1987 hatte ich mich mit Ferlinghetti im Café Puccini verabredet in der Hoffnung, er wäre bereit, für mein nächstes Buch die Einleitung zu schreiben. „Bleib hart“, hatte mein Verleger gesagt, „und gebe dich nicht mit einem Nein zufrieden. Laß Lawrence wissen, daß du eine korrekte und ernsthafte Besprechung deiner Arbeit wünschst, eine die deinen Weg vom jungen zum gereiften Dichter nachzeichnet.“
Ich setzte mich an seinen Tisch, direkt unter das Porträt des Komponisten, der dem Café seinen Namen gegeben hatte und sagte, daß mein Buch im Frühjahr erscheinen soll. „Es ist sehr wichtig für mich“, sagte ich, „und es wird über 135 Seiten haben. So ein Buch habe ich mir immer gewünscht. Es wäre eine Ehre für mich, wenn du die Einleitung schreiben würdest und zwar eine −, die sich wirklich ehrlich mit meiner Arbeit auseinandersetzt.“ Ferlinghetti war einverstanden und bat mich, ihm das Manuskript zu geben, sobald ich das Gefühl hätte, daß es abgeschlossen sei. Ich wurde nun viel lockerer und erzählte ihm, wie sehr mir seine letzte Sammlung von Gedichten und Übersetzungen, Over All the Obscene Boundaries, gefallen hätte. Seine Augen leuchteten auf und er legte seine New York Times beiseite. „Weißt du, ich habe für das Buch keine Kritiken bekommen. Es freut mich, daß es dir gefällt.“
„Warum stellt eigentlich keiner eine Sammlung deiner lyrischen Gedichte zusammen?“ fragte ich. „Nicht die politischen, sondern die aus Pictures of the Gone World, A Coney Island of the Mind und aus deinen letzten Büchern, die wirklich dein Gespür für Sprache zeigen.“
Ferlinghetti schlug mir vor, ich solle an New Directions schreiben und fragen, ob sie an der Veröffentlichung eines solchen Bandes interessiert seien. „Wir kamen überein, das Buch The Lyrical Ferlinghetti zu nennen. Ich erzählte ihm dann, daß sich nach meiner Meinung viele seiner politischen Gedichte bei aller guten Absicht nicht mit den kürzeren, lyrischen Arbeiten messen konnten. „Mir gefällt die Leichtigkeit, mit der du in einigen frühen Gedichten Gefühle auszudrücken verstehst. Viele der politischen Arbeiten sind Abhandlungen und es fehlt ihnen die poetische Kraft“, sagte ich.
Als ich mich von ihm verabschiedet hatte, vergegenwärtigte ich mir die Gründe, die mich seine lyrischen Werke so schätzen ließ. Zum einen vermitteln sie direkte und konkrete Bilder in einer musikalischen und nachdenklichen Sprache. Zum anderen besitzen sie eine ungewohnt malerische Qualität, ohne konkrete Bilder zu zeichnen. Die Anordnung der Gedichte auf der Seite gibt den Versen Freiheit und läßt die Bilder oft wirksamer lebendig werden, als wenn sie alle am linken Rand anfingen. Diese außergewöhnliche Aufteilung dient dazu, bestimmte Sätze hervorzuheben und andere in den Hintergrund treten zu lassen. Dann erinnerte ich mich daran, daß er mir, als ich an seiner Biographie arbeitete, erzählt hatte, bei seinem ersten Buch sei er von der Vorstellung ausgegangen, er müsse eine Ausstellung von Gemälden zusammenstellen. „Deshalb wählte ich den Titel Pictures of the Gone World“, hatte er gesagt.
Ferlinghettis lyrische Gedichte erforschen eine innere Welt, ähnlich den Surrealisten, die er in Frankreich studiert hatte. Seine Sprache suggeriert Vorstellungen von unüberwindbaren Verlusten, zauberhaften Landschaften und unbeantwortbaren Fragen zu Liebe und Tod. Sie bestehen aus einer wohlklingenden Mischung von Eigenem und älteren Schriftstellern wie W.B. Yeats und Jacques Prevert. In seinen früheren Gedichten lassen sich auch Züge von e.e. cummings finden.
Einen der ersten Dichter, die ich in der literarischen Gemeinde von North Beach getroffen habe, war Jack Hirschmann, den ich an der University of California in Los Angeles kennengelernt habe. Er war groß, hatte einen breiten Schnauzbart und langes, bis auf die Schultern fallendes Haar. Aufgewachsen war er in New York. Sowohl Gelehrter als auch vollendeter Dichter grüßte er mich mit „Ich bin gerade unterwegs“ und ich antwortete „Und ich bin direkt hinter dir.“
In den darauffolgenden Monaten waren wir beide mit einigen literarischen Projekten beschäftigt, saßen aber meistens im Café Trieste, lasen unsere Gedichte oder hörten uns die Arbeiten unserer Kollegen an. Ein Thema, das uns alle beschäftigte war, wie wir Ferlinghetti überreden konnten, bei unseren Lesungen und Veröffentlichungen mitzumachen. Als wir Beatitude wieder aufleben ließen, eine 1959 von Bob Kaufman und William Margolis gegründete Lyrikzeitschrift, stellte Ferlinghetti Gedichte zur Verfügung und ermutigte uns, weiterzumachen, verbunden mit der Warnung, die Zeitschrift nicht zu ausgefallen zu gestalten. Die Zeitschrift ist immer schon über Billig-Matrizen vervielfältigt worden und die eigentliche Idee war, eine wirkliche Alternative zu den akademischen Zeitschriften anzubieten.
Kurz nachdem ich 1975 nach San Francisco gezogen war, saß ich mit Harold Norse im Café Trieste. Ferlinghetti spazierte herein und stellte sich für einen Kaffee an. Er trug ein verwaschenes blaues Arbeitshemd und eine Levis, auf der am unteren linken Bein ein Flicken mit der amerikanischen Flagge aufgenäht war. Er schaute zu Norse rüber und nickte ihm zu. Sie kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit in Paris während der 50er Jahre und außerdem hatte City Lights gerade Norse’ Hotel Nirvana veröffentlicht.
Ich wollte sofort vorgestellt werden, weil ich glaubte, der Dichter und Verleger würde etwas Positives über das mächtige Manuskript sagen, das ich ihm ein paar Tage zuvor geschickt hatte. Es war eine Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel Songs for the Zen Roshi, zur Illustration des Textes mit eigenen Federzeichnungen gewürzt. Für Norse war es selbstverständlich, daß er sich zu uns an den Tisch setzen würde. Ich überlegte, wie ich am besten das Thema auf meine Manuskripte bringen könnte, aber mir fiel nichts ein. Ich geriet fast in Panik, als er mit seinem Cappuccino in der Hand auf unseren Tisch zusteuerte. Je näher er kam, desto mehr strahlten seine Augen. Fast jeder im Café war sich seiner Anwesenheit bewußt. Ich spürte eine deutliche Veränderung der Stimmung bei den europäischen Touristen am Nachbartisch, ebenso bei den jungen Dichtern, die sich an einem Tisch neben der Jukebox versammelt hatten. So ist es nicht erstaunlich, daß ich ihn später oft zu seinen Bewunderern sagen hörte: „Ich bin nicht Ferlinghetti. Ich sehe nur so aus. Er ist vor einer Stunde gegangen.“ Trotz seiner Berühmtheit ist er von Natur aus schüchtern. Selbst in seiner Lyrik ist er vorsichtig und schreibt selten offen bekennende Verse. Typisch für seinen Sinn für Humor ist der Titel „Mock Confessional“. In dem Gedicht geht er auf humorvolle Weise auf seine Autobiographie ein:
… Anyway I hear people are wondering about me
and I’ve written this to clear the air
especially since
people who read my books
don’t read other books…
Aber ich dachte nicht an seine Schüchternheit und seine Bekenntnisse, als er neben uns stand. Norse bat ihn, Platz zu nehmen und stellte uns vor: „Lawrence, ich möchte dir Neeli Cheery vorstellen. Er ist vor kurzem aus Los Angeles gekommen, wo er ein Freund von Bukowski war.“ Er setzte sich und begrüßte mich mit leiser Stimme, die mich irgendwie beruhigte. „Warum hast du mir all diese Gedichte geschickt? Was soll ich damit machen?“
„Veröffentlichen“, sagte ich.
Norse wandte sich an Ferlinghetti: „Lawrence, du mußt Neeli kennenlernen. Er hat Laugh Literary zusammen mit Bukowski in L.A. herausgegeben.“
Das brachte ihn auf Bukowski. Er erzählte uns, daß City Lights gute Umsätze mit Bukowskis Büchern macht. Ferlinghetti hätte gern mehr davon. Aber er wußte, daß Bukowski auch gute Kontakte zu Black Sparrow Press hatte.
Ich erzählte ihm ein paar meiner Bukowski Geschichten und die Situation, als Norse, den wir in seiner Wohnung in Venice Beach besuchten, den „dirty old man“ fertiggemacht hatte. „Es war unglaublich“, sagte ich, „Norse kannte alle Tricks des Säufers und beschimpfte Bukowski, daß er eben all diese Tricks ständig verwenden würde.“ „Bukowski war auch mal hier. Er kam zu einer Lesung“, erzählte Ferlinghetti. „Seine Freundin Linda King war dabei. Sie haben sich beide ziemlich wild verhalten. Ich glaube als sie gingen, war eine Tür demoliert und ein Fenster in Scherben.“ Er grinste und fing dann an zu lachen.
Ich erzählte ihm, daß Bukowski mal von einer Party berichtete, auf der ihm der Gastgeber ein Fenster gezeigt hatte, das Robert Creeley in angesoffenem Zustand kaputt gemacht hatte. So wie Bukowski es erzählte, baten sie Creely, sein Autogramm auf die Wand neben dem Fenster zu schreiben und machten viel Wirbel darum, wie toll das wär. „Als ich ihnen ihr gottverdammtes Fenster zerschmettert habe“, sagte Bukowski, „haben sie die Bullen gerufen.“
„Du kannst wirklich lustige Geschichten erzählen“, sagte Ferlinghetti, „Aber schick mir keine Gedichte mehr. Wir können sie einfach nicht gebrauchen.“
Als ich in mein dunkles, kaltes Zimmer in der Wohnung eines pensionierten Tankstellenbesitzers, der den ganzen Tag in der Küche saß und Wodka trank, zurückkehrte, sah ich mir nochmal die Kopie des Manuskriptes an und merkte, daß es ein Fehler war sie wegzuschicken. Ich hatte die Gedichte im Anschluß an den Besuch des San Francisco Zen Center sehr überstürzt und eilig niedergeschrieben. Dort war ich hingegangen, um etwas über Meditation zu erfahren. Der Meister Richard Baker, der vor hundert Versammelten stand, zeigte mit dem Finger auf mich und sagte: „Ich weiß, wer du bist. Du bist der große Zappler.“
Er hatte Recht; Ich mußte immer herumzappeln. Als er mich fragte, warum ich gekommen sei, sagte ich ihm, daß ich gerne Meister sein wollte. Er bot mir seinen Platz auf dem Podium an, aber ich lehnte ab.
Bei einem Abendessen mit Ferlinghetti 1976 in North Beach meinte ich zu ihm, daß jemand seine Biographie schreiben sollte.
„Wer würde die lesen?“ erwiderte er.
„Viele Leute“, sagte ich. „Und einen Verleger würdest du sicher auch leicht finden.“
Er hatte nichts dagegen, daß ich sein Biograph sein sollte. Mit einer autorisierten Biographie war er allerdings nicht einverstanden. „Ich denke, du solltest frei sein“, sagte er. „Wenn sie autorisiert ist, muß ich mich mehr darum kümmern. Ich möchte, daß du freie Hand hast.“ Wie sich jedoch zeigte, stellte Ferlinghetti mir großzügig seine Zeit zur Verfügung, nahm mich mit zu Lesungen außerhalb der Stadt und in sein Sommerhaus nach Big Sur.
Ich arbeite damals in der Redaktion von City, einer Zeitschrift, die herausgegeben wurde von Journalisten und Warren Hinckle, einem ehemaligen Bürgermeisterkandidaten von San Francisco, der seine redaktionellen Entscheidungen meist in den Bars von North Beach traf. Meine Aufgabe war es, im Büro der Zeitschrift in der Pacific Street zu sitzen und auf einen Auftrag zu warten, was gewöhnlich eine kleine Buchbesprechung bedeutete. In der Zwischenzeit fragte ich mich, wer wohl die geplante Biographie veröffentlichen würde.
Ich saß im Trieste und ging ein paar Aufzeichnungen durch, als ein kleiner Typ mit lockigen Haaren, der zwei Tische weiter saß mich fragte: „Bist du aus New York?“ Ich sagte ihm, daß ich aus Südkalifornien sei. „Das ist schwer zu glauben“, sagte er. „Du redest und bewegst dich wie ein New Yorker.“ Er sagte, er hätte mich seit etwa einer Woche beobachtet. Dann kam er zu meinem Tisch und stellte sich vor.
„Ich heiße Jerry Rubin“, sagte er.
„Jerry Rubin, der Kriegsgegner?“ fragte ich.
Er nickte mit dem Kopf und meinte, er hätte gehört ich sei Dichter. Er wollte wissen, wie ich davon lebe. Ich sagte ihm, daß ich Arbeitslosengeld kassiere, daß es aber bald abläuft. Nebenbei erwähnte ich das Ferlinghetti-Projekt. „Das ist eine gute Idee“, sagte Rubin. „Keiner hat bisher ein Buch über Ferlinghetti geschrieben. Ich glaube, das würde sich gut verkaufen. Hast du schon einen Verleger?“
„Noch nicht“, antwortete ich.
Er ging zum Telefon am Eingang des Cafés und rief seinen Agenten in New York an, einen Mann namens John Brockman. Nachdem er ein paar Minuten mit Brockman gesprochen hatte, winkte er mich zu sich.
„Mir gefällt die Idee einer Ferlinghetti-Biographie“, sagte der Agent. „Kannst du mir genau sagen, was du dir vorstellst?“
Ich erzählte ihm mein Konzept für das Buch, und daß ich es so schreiben wollte, daß auch junge Leute es lesen wie sie ja auch Ferlinghettis Lyrik lesen. Brockman sagte: „Gut, mir gefällt die Idee. Das klingt heiß.“ Er glaubte, das Buch verkaufen zu können, auch wenn er bislang wenig Erfahrung mit literarischen Werken hatte. „Wann kannst du mir etwas schicken?“ fragte er.
Ich sagte ihm, ich bräuchte zwei Wochen für einen Entwurf. Zehn Tage später, ich hatte noch nichts geschrieben, blieb ich die ganze Nacht im City Büro und schrieb eine siebenseitige Rechtfertigung für die Biographie, wobei ich ausschließlich meinem Instinkt folgte.
Dem Agenten gefiel, was ich ihm geschickt hatte und er meinte, er würde sich wieder bei mir melden. Einige Wochen später erfuhr ich, daß Doubleday meinen Entwurf akzeptiert hatte. Sofort fing ich an, Interviews mit Ferlinghetti auf Band aufzunehmen, wobei er mal sehr zurückhaltend und dann auch wieder sehr offen war und mir die gleiche Geschichte abends in einer völlig anderen Version als am Morgen erzählte. Aber irgendwie nahm das Manuskript Formen an. Meistens arbeitete ich in der Lobby des St. Francis Hotel, wo ich am besten schreiben konnte.
Eines der bewegendsten Gedichte aus A Coney Island of the Mind handelt von Beniamino Bufanos Statue des heiligen Franziskus, als sie vor einer kleinen Kirche in North Beach aufgestellt wurde. Ich erzählte Bufano von dem Gedicht, als er 1960 bei meinen Eltern zu Besuch war. Er bat mich, es ihm laut vorzulesen. Das Gedicht ist ein lyrisches Meisterwerk der Zeilenanordnung und Wortstellung, wodurch eine starke Stimmung in den Bildern erzeugt wird, die sich in edler Harmonie durch das Gedicht ziehen:
aaaaaThey were putting up the statue
aaaaaaaaaaof Saint Francis
aaaaain front of the church
aaaaaaaaaaof Saint Francis
aaaaaaaaaaaaaaain the city of San Francisco
in a little side street
aaaaaaaaaaaaaaajust off the Avenue
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaawhere no birds sang
aaaaaand the sun was coming up on time
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaain its usual fashion…
Wenige Dichter haben so viel Ähnlichkeit mit ihren Gedichten, wie dies bei Ferlinghetti der Fall ist. Mit seinem freundlichen Wesen und seiner gemächlichen Art scheint es oft so, als rede und bewege er sich in Zeitlupe, wodurch er die gleiche Ruhe wie seine Gedichte ausstrahlt. Ich erinnere mich, wie ich ihn und seinen Sohn Lorenzo in seinem Sommerhaus in Big Sur besucht habe. Ich wollte mich über Lyrik, North Beach und Big Sur unterhalten, aber er hatte nur noch Augen für die Natur ringsum, so als ob ich gar nicht anwesend wäre. Erst später am Lagerfeuer begann er zu reden. Ich erkundigte mich nach einem Exemplar von Leaves of Grass in seinem Sommerhaus. Ferlinghetti meinte, dies sei eines der wenigen Bücher, das immer für ihn und seine Gäste in Big Sur vorhanden wäre.
Kurz nach meinem Aufenthalt in Bixby Canyon begleitete ich Ferlinghetti zu einem Lehrerseminar nach Sacramento, wo er das Publikum über eine Stunde in seinem Bann hielt. Unter Highschool-Lehrern ist er gerade auch wegen seiner Zugänglichkeit der beliebteste moderne Dichter. In meiner Biographie bezeichnete ich iln als eine initiatory bridge für junge Dichter. „Dog“ ist ein Gedicht, daß noch immer zum Kanon der Highschool-Lehrer gehört:
The dog trots freely in the street
and sees reality
and the things he sees
are bigger than himself
and the things he sees
are his reality
Drunks in doorways
Moons on trees
the dog trots freely thru the street
and the things he sees
are smaller than himself…
Es gehört zu den „Sprechgedichten“ aus A Coney Island of the Mind, die Lawrence eigens für öffentliche Lesungen geschrieben hat. Seit er in den 30er Jahren Sandburg lesen hörte, ist der mündliche Vortrag seiner Dichtung für ihn zum festen Bestandteil der Arbeit geworden. In den 50er Jahren trug er dazu bei, die öffentlichen Lyrik Veranstaltungen wiederzubeleben. James Broughton erzählte mir, daß er nach San Francisco zurückkehrte und die Lyrik in den Straßen lebendig geworden war. Es handelte sich um eine Tradition, die auf Carl Sandburg und Vachel Lindsay zurückgeht, die durch ihre öffentlichen Auftritte populär wurden. Geht man noch weiter zurück, ist da natürlich noch Whitman. Am Ende von Ferlinghettis Populist Manifesto lesen wir: „Whitman’s wild chlidren still sleeping there, / Awake and walk in the open air.“
1975, nicht lange nachdem Norse uns im Café Trieste zusammengebracht hatte, schlug ich Ferlinghetti vor, er solle doch häufiger öffentliche Lesungen abhalten. „Kann ich nicht“, sagte er. „Ich bin im Ruhestand.“
„Nein, ich meine es ernst. Wir brauchen dich. Ich kann das Little Fox Theater jederzeit bekommen. Es gehört jetzt Francis Ford Coppola und er wird es uns für unsere Lesungen zur Verfügung stellen. Es sollten immer Benefizveranstaltungen sein wie die, die ich jetzt für Bob Kaufman plane.“
„Nun, ich weiß nicht. Ihr solltet das selbst machen. Ihr braucht mich nicht.“
„Natürlich brauchen wir dich. Du sagst, du seist ein populistischer Dichter. Aber du sitzt immer nur im Büro deines Buchladens. Du solltest mit uns mitmachen.“
Es dauerte nicht lange, bis sein Name zusammen mit der neuen Generation von Dichtern, die in North Beach gelandet waren, auf einem Plakat stand. Sein internationaler Erfolg machte die Aktivitäten hinter den Kulissen noch aufregender und unsere eigenen Lesungen bedeutender. Als er vor das Publikum trat, trug er einen runden Filzhut auf den er DIRECTOR OF ALIENATION geschrieben hatte. Dann las er: „Looking in the mirror at Macy’s / and thinking it’s a subterranean plot / to make me feel like Chaplin…“
Für mich repräsentierte er den Außenseiter, ähnlich wie Bukowski, aber in einem anderen Zusammenhang. Bukowski schwieg über seine Position und zog es vor, in einem Job beim U.S. Postal Servcice unterzutauchen. Ferlinghetti hingegen stand im Mittelpunkt der dichterischen und kulturellen Aktivitäten. Als er nach San Francisco kam, war er Korrespondent für Art News. Er lehrte auch am College. Bald wurde er Besitzer eines Buchladens, Verleger von Lyrik und selbst ein bekannter Autor. Im Unterschied zu Bukowski grenzte sich Ferlinghetti durch politische Aktivitäten von der kulturellen Hauptströmung Amerikas ab und verstand sich mehr als Störfaktor im etablierten System denn als entfremdeter Außenseiter.
Heute Morgen las ich in Ferlinghettis Selected Poems und seine Worte beruhigten mich. Es ist nicht schwer, in seiner Musik aufzugehen. Wenn man ihn liest, fühlt man sich behaglich und ist mit sich und der Welt im reinen. Was mich am meisten an seiner Arbeit fasziniert, sind die Gedichte, die wie Lebensbilder erscheinen oder, wie er über Jaques Prevert schrieb: er ist mehr ein „Sehender“ als ein Seher. Ich denke an „The Old ltalians Dying“, ein Gedicht über das sich verändernde North Beach. Ich habe es der Tochter eines achtzigjährigen Italieners gegeben, der auf demselben Flur gegenüber von mir gewohnt hat und der sich eines Morgens eine Pistole an den Kopf setzte, weil er in seinem Alter keine Last sein wollte:
You have seen them sitting there
waiting for the bocci ball to stop rolling
waiting for the bell
aaaaaaaaaaaaaaato stop tolling & tolling
for the slow bell
aaaaaaaaaaaaaaato be finished tolling
telling the unfinished Paradiso story
as seen in an unfinished phrase
aaaaaaaaaaaaaaaon the face of a church
as seen in a fisherman’s face
in a black boat without sails
making his final haul
Kurz nachdem Ferlinghetti das Gedicht geschrieben hatte, schickte er Ginsberg eine Kopie. Als Antwort schrieb Ginsberg einen kurzen Brief und lobte das Gedicht für seinen Humor. „Es ist überhaupt nicht humorvoll gemeint“, beschwerte sich Ferlinghetti. „Allen hat es überhaupt nicht verstanden.“ Nancy Peters, die Mitherausgeberin von City Lights, versuchte ihm zu erklären, daß Ginsberg recht hatte. „Das Gedicht hat wirklich viel Humor, Lawrence.“ Sie wandte sich zu mir und fragte nach meiner Meinung. „Ja, stimmt. Es ist eine gute Mischung aus Humor und Tragödie.“ Wir betonten, daß es noch nie eine solch gelungene Hommage an North Beach gegeben hätte.
Eines Tages, als ich an einer Litfaßsäule in North Beach die Ankündigung für eine Lesung anbringen wollte, griffen zwei Polizisten meine Plakate und führten mich zu einem Polizeiwagen. „Das ist verboten“, sagte der ältere, rotgesichtige Bulle grinsend. Während ich in dem Polizeiwagen vor der Wache in North Beach saß, liefen Ferlinghetti und Nancy Peters vorbei. „Was machst du denn da drin?“ fragte Ferlinghetti. „Ich habe das Gesetz gebrochen… offensichtlich.“ Ferlinghetti erzählte mir von seiner Festnahme einige Jahre zuvor, wegen der fehlenden Erlaubnis für den Verkauf angeblich obszöner Comics bei City Lights. Er war aufgrund einer Vorladung wegen eines Verkehrsdelikts zur Wache gekommen und der diensthabende Beamte fand in seiner Akte den alten Vorgang. Die Sache war schon lange in Ordnung gebracht worden, aber er mußte trotzdem einige Stunden im Knast bleiben. Als er ihnen erzählte, daß er der Besitzer von City Lights Bookstore nur zwei Blocks entfernt unten an der Columbus Avenue sei, sagten sie, sie hätten noch nie etwas von dem Laden gehört.
Was mich angeht, so schaffte ich es irgendwie, als sie mich in den Knast gebracht hatten, das Büro des Bürgermeisters anzurufen und wurde dann bald frei gelassen. Am nächsten Tag mußte ich vor Gericht erscheinen. Der Richter wies den Fall ab und beschimpfte die Polizisten wegen der Verhaftung. Ich fuhr zurück nach North Beach und kaufte mir bei City Lights einen Stapel Bücher als Belohnung. Ferlinghetti saß oben auf der Galerie des Geschäfts am Schreibtisch und arbeitete. Er lehnte sich rüber und winkte.
„Ferlinghetti ist nicht aufrührerisch“, sagte mir eine junge Dichterin, als wir die Columbus Avenue entlanggingen.
„Vielleicht nicht“, sagte ich, „aber denk an die vielen Male, als er an Protesten teilgenommen oder sie angeführt hat, oder wie er sich den Streikenden anschloß und zu den ersten gehörte, die unpopuläre Dinge vertraten.“
„Ja, wahrscheinlich hast du recht“, sagte sie.
„Wenn du ein Dichter bist, bist du schon irgendwie wild“, fuhr ich fort. „Sieh uns an. Wir führen nicht gerade ein geordnetes Leben.“
Sie nickte zustimmend. „Wir gingen weiter und ich dachte daran, wie Ferlinghetti schon lange bevor wir uns kennenlernten, in seinen frühen Gedichten zu mir gesprochen hat. Ich habe ihn eine „initiatory bridge“ genannt und dachte dabei vor allem daran, wie meine Freunde und ich seine Gedichte in den Jahren 1958 und 1959 verschlangen.
Mein Lehrer für Literatur hatte uns „Thanatopsis“ von William Cullen Bryant vorgelesen und ich stand auf und sagte, daß es ganz gut sei, daß ich aber ein modernes Gedicht über den Tod hätte.
Mr. Briggs wurde wütend. Dann forderte er mich auf, das Gedicht vor der Klasse vorzutragen. „Wir werden ja sehen, wie gut es ist“, sagte er.
Nächsten Tag kam ich mit A Coney Island Of Mind in die Klasse und begann mit dem Vortrag von „Sometime During Eternity“. Es dauerte nur eine halbe Minute, bis Briggs mich unterbrach.
„Das ist kein Gedicht“, sagte er, „und außerdem beleidigt es deine Mitschüler.“
Dann ließ er abstimmen, aber die Klasse war einmütig der Meinung, daß ich weiterlesen sollte. An diesem Morgen wurde das ganze Gedicht gelesen.
Als ich Leaves of Grass durchblätterte, suchte ich ein Gedicht, das zu Ferlinghetti paßte, keins der lauten oder stürmischen, auch nicht die weitschweifenden Werke wie „Song of My self“ oder „Out of the Cradle Endlessly Rocking“. Vielleicht eher ein beschreibendes Gedicht, schließlich jedoch entschied ich mich für den letzten Abschnitt von „Laws for Creation“, einem kürzeren Werk. Es erinnert mich sowohl an Ferlinghettis „Populist Manifesto“ als auch an sein Leben überhaupt. Eine Stärke von Ferlinghettis Lyrik ab Pictures of the Gone World ist seine Fähigkeit, in einer direkten Weise mit Metaphysik umzugehen, indem er überflüssiges und kompliziertes vermeidet ohne seine lyrischen Instinkte zu opfern. Whitman tut das gleiche. In „Laws for Creation“ berührt er die Idee der profanen Göttlichkeit in dem Sinn, daß jeder von uns die Schöpfung für sich selbst neu definiert:
What do you suppose creation is?
What do you suppose will satisfy the soul, except to walk free and own no superior?
What do you suppose I would intimate to you in a hundred ways, but that man or woman is as good as God?
And that there is no God any more divine than yourself?
In wenigen nüchternen Versen faßt Whitman seine ganze Lebensphilosophie zusammen. Sie sind Teil der lyrischen Arbeitsweise, die in Whitmans epischen Gedichten fest verankert ist, etwas das immer offen und zugänglich bleibt. Ein Teil der Faszination Whitmans für Ferlinghetti lag in der Anerkennung der Stellung dieses Dichters im 19. Jahrhundert, sowohl als Neuerer der Lyrik als auch als Lehrer. Ferlinghettis Werk läßt sich leicht diesen zwei Kategorien zuordnen. Ich sehe ihn vor mir, wie er die Verse seines Gedichts „Endless Life“ rezitiert:
Endless the splendid life of the world
Endless its lovely living and breathing
its lovely sentient beings
seeing and hearing Feeling and thinking…
Neeli Cherkovski, in Neeli Cherkovski: Heartbeat, MaroVerlag, 1991
The Conspiracy:
You send me your poems,
I’ll send you mine.
Robert Creeley
1
Wer behauptet, ich sei dafür vorgesehen gewesen, die Beat-Dichter zu lesen, hat ebenso recht wie derjenige, der sagt, die Vorsehung gründe sich nur auf Zufälligkeiten. Weshalb mir also die Gedichte der Beats und Freaks in mein Gehirn stürmten und von dort allmählich zum Herzen hin absanken, das vermag jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, niemand mehr genau zu sagen. Fest steht nur, es geschah, als Bücher zu einer außerordentlich gefragten, zwar nicht vom Aussterben, aber doch sehr bedrohten Spezies gehörten, weil sie als „Geschenksendung. Keine Handelsware!“ nicht nur gegen Zollgrenzen, sondern auch gegen verordnete Erkenntnisgrenzen anrannten. Was heute zwischen Sonnenallee und Do Swidanija, Lenin leicht vergessen wird: Bücher konnten Lebensmittel und hochexplosive Stoffe mit Langzeitwirkung sein. Je größer die geographische Entfernung zur Fremde des Autors war, um so bedeutsamer erschien die Lektüre seiner Bücher, um so sehnsüchtiger wurde eine gedankliche Verbindung zu ihm aufgenommen. Von großer Fremdheit wären vielleicht der Mann im Mond und Marsmännchen gewesen, aber Autoren der Vereinigten Staaten von Amerika waren auch schon fremd genug.
Zu warten, was die Mauer überspringen würde, dafür bedurfte es nicht nur der Geduld und geschickt eingefädelter Zufälle, dafür waren auch die legendären Westtanten, für Wünsche allzeit hellhörige Freunde und ein beinahe konspiratives Informationssystem vonnöten. Anstöße gab es nicht nur im Mittelkreis von Fußballfeldern, sondern vor allem, so ahnungslos die Täler auch waren, in wißbegierigen Freundeskreisen, was irreführend Mundpropaganda genannt wird. Außerdem war statt vorauseilenden Gehorsams ein zurückeilender Ungehorsam angesagt, galt es doch, nicht bedingungslos mit der Mode zu schwimmen, sondern nachzuholen, was längst aus der Mode war.
Daß viele Texte der als Beat-Generation bekannt gewordenen Autoren zwanzig bis dreißig Jahre nach ihrem Entstehen in den 80ern über Teich und Mauer zu mir ins Dresdner Tal schwappten, wurde von Zufällen dirigiert. Vielleicht ließ ich mich anfangs sogar von der Silbe Beat täuschen, war ich doch ein vom populären Beat der Sixties hart gesottener Fan, erwartete womöglich als Elbekind Neuigkeiten von Mersey und Themse. Aber ich begriff schnell, daß in der Literatur ein ganz anderer Beat dröhnte als in der Musik. 1978 erschienen fünfzehn Gedichte von Allen Ginsberg im Heft 127 des Poesiealbums, eines Lyrikperiodikums von 32 Seiten zu 0,90 Mark der DDR, das im Zeitungskiosk zwischen Neuem Deutschland und Horizont lag. Im selben Jahr ließ Reclam Leipzig Jack Kerouac als Taschenbuch On The Road durchs eingemauerte Ländchen gehen. Zwei Volltreffer, die Wirkung zeigen sollten.
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Aber daß Ferlinghetti in San Francisco mit Gründung von City Lights, Booksellers and Publishers, zum Fundament der Beats wurde, erfuhr ich erst vom Waschzettel eines Buches, das mir Mitte der 80er einer der hellhörigen Westfreunde schickte: Gedichte von Lawrence Ferlinghetti, eine broschierte Hanser-Ausgabe mit dem Konterfei des bärtigen Autors auf dem Umschlag. Wie bei den meisten Westbüchern üblich gab ich es, nachdem ich es ausgelesen hatte, in einen inoffiziellen Lesezirkel, in dem ein einziges Exemplar durch Wandern von Hand zu Hand nach kurzer Zeit mehr Leser fand als sogenannte Bestseller. Zwar entschwand „mein“ Ferlinghetti dabei auf Nimmerwiedersehen, aber einige seiner Gedichte hatten sich in mir eingenistet, waren mir so nah, als hätte ich sie selbst geschrieben, und wollten, daß ich mit ihnen ein Gespräch begänne und meinen Gedichtechos Flügel verliehe, damit sie aus dem Dresdner Tal hinausfliegen konnten. Plötzlich war das Gewohnte abgewohnt, schien sich in großer Entfernung ein Raum aufzutun, in den hineinrufen zu müssen ich mir einredete. Und der hellhörige Westfreund vernahm meine Rufe, erwies sich auch noch als spendabel, schickte mir die Gedichte von Ferlinghetti in haargenau derselben Hanser-Ausgabe mit dem Konterfei des bärtigen Autors auf dem Umschlag ein zweites Mal über den deutschen demokratischen Limes und löste damit endgültig meine Gedichtechos aus. Das Ferlinghetti-Gedicht „Gruß“, ein Anti-Kriegs-Gedicht, verführte mich 1985 zu „Gruß zurück“, und sein „Populistisches Manifest“ gab mir 1987 die „Leihweise Manifestation“ ein. Obwohl nicht der im Osten lauernde große Bruder, sondern der im unvorstellbar wilden Westen hausende Outlaw besungen wurde, erschienen die Gedichte, allerdings gut versteckt in Büchern kleiner Auflage. Wer würde sie schon dort entdecken und lesen? Ihr Adressat, der in der San Francisco Bay für Literaturgeschichte gesorgt und höchstwahrscheinlich keine Ahnung vom Dresdner Tal hatte, wohl kaum.
GRUSS ZURÜCK
(aus Anlaß der Gedichte von Lawrence Ferlinghetti)
an den Dichter des Beat im großen Amerika
an dich auf einer anderen EisScholle
an den Dichter des HafenViertels von Frisco
an dich in unsrem WeltAllTag
an den Dichter bekannter FremdSprache des Beat
an dich auf einem kleinen Bild
Ich grüße dich L. F.
der du mich erreichst im schönen September
sind deine Verse über mich gekommen
aus meterhohem Wasser
des gesalznen Ozeans zwischen uns
aus ungelesnen Büchern
ihrer hellen Verbrennung im Draht zwischen uns
aus gelebter Fremde
deiner und meiner Macht zwischen uns
…
In einem langanhaltenden Traum
den auch mein ausgefuchster Wecker nicht beendet
komme ich über die vielen Wasser
hinüber zu euch
Jack Kerouac ist tot
Charlie vom Checkpoint ist nicht abgerissen
Frank O’Hara ist tot
Alle Statuen senken ehrfurchtsvoll ihre Symbole
Wer weiß wie es Allen Ginsberg geht
Wolken kratzen sich an den Häusern den Bauch auf
Und wer gibt mir Sicherheit daß du L. F. lebst
Was stört es mich in meinem Traum deiner Gedichte
machen wir alle ne RundFahrt durch diese Staaten
egal ob tot oder lebendig
Ich grüße dich L. F.
nicht mit erhobenem MittelFinger
nicht mit Victoria meines zwei Finger VAUs
nicht meineidig grüßen dich drei meiner Finger
nicht mit amputiertem Daumen meiner Finger Vier
Ich grüße zurück mit ganzer Hand
LEIHWEISE MANIFESTATION
Zu lange geht der Jahre Teig
Ein Schweigen liegt unter den Tüchern
wie Hefe aufgebläht für einen einzigen Groschen
…
Folgen wir dem Ruf
aus unseren Kammern zu kommen
Nicht Dichter nur alle
aaaaaaaaaaaaaaaaaaAlle
öffnet Fenster öffnet Türen
äfft die Affen nicht länger nach
Die Väter sind tot
aaaaaaaaaaaaaaaLang leben die Väter
…
Zeit jetzt für OsterSpaziergänge im Dezember
Zeit die schöne Nachbarin zu würdigen
Zeit jetzt die Nachrichten zu verstehen
Unsre Geschichte kann kein Krieg sein
Keine feindlichen Bilder sind unsre Geschichte
Unsre Geschichte wird uns voraus sein
Keine Zeit jetzt sich an die Schreibtische zu binden
Kein Raum jetzt für weinerliche Ratlosigkeit
Keine Stunde Zeit jetzt dem duldsamen Warten
…
Zeit jetzt die Köpfe umzugestalten
die Blicke von Innen nach Außen zu wenden
…
Keine Zeit neue Grenzen zu stecken
Zeit über Grenzen zu denken
Keine Zeit Täler ohne Ahnung zu lassen
Zeit über Berge zu sehen
All ihr ArtPENner wacht auf
Die Schönheit der Arten ist noch zu sehen
…
Artikuliert jetzt eure Gefühle
Artikuliert den Willen eurer Gefühle
Laßt die kleinen Artikel ruhen
in den Kiosken der Papierhändler
Artisten seid wieder der Sprache
Die Geräusche der Straßen hört wieder
aaaaaaaaaaaDie Gerüche der Höfe sind nah
Die Rufe der Passanten hört wieder
Die Brandung der Flut ist nah
Zeit jetzt den Sternen
aaaaaaaaaaader Wörter große Zahl
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFrieden zu geben
Verdammt
aaaaaaaaaaaihr alle
aaaaaaaaaaaaaaaaaawacht auf
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Keine zwei Jahre, nachdem die „Leihweise Manifestation“ notiert war und noch bevor sie 1990 erscheinen konnte, wachten wir tatsächlich auf, hörten wir wieder „Die Geräusche der Straßen“, Schritte von abertausend Demonstranten, die durch den Herbst 89 liefen und nicht nur poetische Freiheiten forderten. Zwar hatten weder Beat noch Gedicht die Mauer gestürmt, aber immerhin waren Beat und Gedicht keine Geschenksendungen mehr, sondern nur noch Handelsware, die ungehindert in die hintersten Winkel talseitiger Volksbuchhandlungen stürmen konnte, so daß niemand mehr ahnungslos bleiben mußte. Anfangs bestätigte die Engstirnig- und Engherzigkeit einiger Buchhändler den Eindruck, daß sie bislang vorwiegend mit dem Vertrieb von Parteilehrjahrsbroschüren beschäftigt waren. Mit der Zeit, so hofften wir Leser, würden die Buchhändler ihre Stirnen und Herzen weiten, aber die Hoffnung auf Veränderbarkeit der Parteilehrjahrsaktivisten blieb fragwürdig. Immerhin ergab die einst verlachte Losung „Überholen, ohne einzuholen“ jetzt einen flüchtigen Sinn, nämlich den, die Informationsmonopolisten unangestrengt überholen zu können, ohne erst ihr geringes Wissen einzuholen. Aber vom Beat wußten sie sowieso nichts. Inzwischen holten wir auf Teufel komm raus nach, was uns über Jahrzehnte vorenthalten worden war. Obwohl wir von Anfang an ahnten, daß die Jagd aussichtslos sein würde, holten wir die halbe Jugend nach, stürmten Schallplattenbörsen und Antiquariate, fuhren sogar einigen Idolen hinterher, und auch wenn sie längst ins Gras gebissen hatten, blieb uns noch immer der Besuch ihrer Gräber.
Erst als Ginsberg und Burroughs 1997 starben, wurde mir bewußt, daß nie in mein Blickfeld geraten war, was und wo sie gelebt hatten. Also nichts wie hin, zumal ich annehmen durfte, daß wenigstens einer der alten Haudegen, nämlich Ferlinghetti, noch am Leben war. Ankunft in San Francisco am 9. Juni 1998. Besuch des City Lights Bookstore auf der Columbus Avenue am 10. Juni. Als ich im Buchladen die schmale Treppe zur Lyrik-Abteilung hinaufsteige, kommt mir ein hochgewachsener alter Mann mit Hut und grauem Gesicht entgegen. Beseelt von diesem Ort, sehe ich wie selbstverständlich in dem treppab polternden Hut- und Bartträger niemand anderen als den Meister höchstpersönlich. Anstatt ihn zu fragen, ob er es wirklich sei, oder ihm ins graue Gesicht hinein zu sagen, daß er gar kein anderer sein könne, löst sich nur ein krächzendes Hallo aus meiner Kehle. Der alte Mann sagt ebenfalls hallo, und schon ist er vorbei. Konsterniert von dieser Begegnung, sitze ich eine geschlagene Stunde im benachbarten Café Vesuvio und kann weder Ort noch Zeit realisieren.
ERSCHEINUNG
Bevor ich in die Columbus Avenue kam
waren sie alle ihrer Wege gegangen
O’Hara Cassady Kerouac Burroughs Ginsberg
und wie sie alle vorgaben
geheißen zu haben
Nur Ferlinghetti Geist seiner Gestalt
kam schmal die Treppe im CityLights hinunter
den Hut auf dem Kopf
aaaaaaaaaaaeine Dame im Handgepäck
sagte Hallo und ging seiner Wege
bevor ich zu mir kommen und vorgeben konnte
dagewesen zu sein
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Freunde aus Eugen/Oregon, denen ich von der Erscheinung auf der Treppe des City Lights Bookstore erzählte, schickten mir ein Jahr nach dem Besuch an der Westküste ein Buch. Natürlich nicht irgendein Buch, sondern eins von Ferlinghetti. Natürlich auch nicht irgendein Ferlinghetti-Buch, sondern ein von Ferlinghetti signiertes. Nicht einmal die Ferlinghetti-Signatur war irgendeine, sondern eine an mich gerichtete: „for Michael Wüstefeld“ stand da. Sofort dachte ich, das sei der Augenblick, in dem der Zufall in Vorsehung umschlagen, die Vorsehung gleich einem Motto in Erfüllung gehen, daß jetzt jenes Echo, auf das sich so viele Jahre meine Hoffnungen eingeschworen hatten, sein Ziel finden würde: You send me your poems, I’ll send you mine. Ich zögerte keinen Tag, schrieb einem Restexemplar meiner Heimsuchung vorsätzlich auf den Vorsatz: „for Lawrence Ferlinghetti“, packte es ein, adressierte: City Lights Bookstore, 261 Columbus Avenue, San Francisco, Ca 94133. Dann ließ ich das Echo aus dem Tal flattern und über den großen Teich, ein Flatterecho, das aufgeregt wie ein Herz schlug und flimmerte, ob wohl der „Gruß zurück“ seine Bestimmung fände:
Ich grüße dich L. F.
nicht mit amputiertem Daumen meiner Finger Vier
Ich grüße zurück mit ganzer Hand
Aber zu lange hatte ich in meinem ahnungslosen Tal gesessen und in dieser engen Versenkung geglaubt, eines Tages der Dichterverschwörung anzugehören, meine Gedichte neben denen Ferlinghettis und all der anderen stehen zu sehen, mit ihnen verbunden zu sein. Wie immer hatte ich alles zu wörtlich genommen, auch Ferlinghettis „Populistisches Manifest“, in dem es heißt:
Dichter, steigt herab
noch einmal auf die Straßen der Welt
Und öffnet eure Herzen & Augen
mit der alten Freude am Schauen
Denn auch die „Herzen & Augen“ der Dichter sind irgendwann verbraucht, und nichts vermag eine zubetonierte Aorta zu weiten. Geradezu folgerichtig prallte mein versuchtes Echo am letzten Gott der Beat-Generation ab, versackte im Ozean. Deshalb schmerzt es auch nicht, wenn mir der eitle Gang durchs Internet, bei dem der eigene Name in die Suchmaschine eingegeben wird, eine Begegnung mit meinem herrenlosen Buch verschafft, das in San Francisco von Calvello Books, einem Antiquar, nehme ich an, feilgeboten wird.
Wüstefeld, Michael.
Heimsuchung Gedichte. Edition Neue Texte
Berlin Aufbau-Verlag 1987. Small 8vo in white boards,
158p. Near fine in VG + DJ with two price sticker removal
abrasions Inscribed to Lawrence Ferlinghetti by the author.
Wüstefeld’s vita folded in. Buch-Nr. des Händlers 2236
Preis; EUR 16,38 (inkl. Umsatzsteuer)
(Währung umrechnen)
Buchanbieter: Calvello Books, San Francisco, CA, USA
(Im Angebot des Anbieters suchen) (Frage stellen)
Ende Juni 2004 liest der alte Mann aus San Francisco in Berlin. Ich fahre ihm nicht hinterher. Er bemerkt meine Abwesenheit nicht. Ich muß nicht wissen, ob er lebt, wenn ich seine Gedichte lese. Er muß nicht wissen, ob ich lebe, wenn er seine Gedichte liest. Ich muß ihn nicht sehen, wenn ich seine Gedichte lese. Er wird meine Gedichte nicht lesen, auch wenn er mich gesehen hätte. Ich grüße dich L. F. mit erhobenem MittelFinger, mit Victoria meines zwei Finger VAUs, meineidig grüßen dich drei meiner Finger, mit amputiertem Daumen meiner Finger Vier grüße ich dich L. F.
Michael Wüstefeld
The Boys und einige andere
Wenn man in New York einen der alten ehrwürdigen Verlage betritt, der noch nicht als Teil eines Megakonzerns hinter einer glitzernden Fassade untergebracht ist, befindet man sich, kaum ist man aus dem Fahrstuhl getreten, in einer Literaturgeschichte. Alle Wände der Rezeption sind gepflastert mit den Urkunden, die der Verlag oder die Autoren des Verlages eingeheimst haben: Pulitzer-Preise, National Book Awards, McArthur, Book Critics Circle Awards und hundert andere. Die Urkunden sind nicht viel größer als DIN-A4, so dass in den oft kleinen Empfangszimmerchen (Raum ist teuer in New York) eine Menge untergebracht werden kann. Sie sind oft mit alten Akzidenz-Schriften und zweifarbig gedruckt, so dass eine sehr lebendige Art von „Living Literary History“-Tapete entsteht. Wie oft habe ich zum Beispiel in dem kleinen, fensterlosen Empfang des Verlages Farrar, Straus & Giroux am Union Square gestanden und mich gefragt, was wohl ein noch unbekannter Autor in dieser Umgebung empfinden mag, wo alle großen Namen der Weltliteratur brüderlich nebeneinander hängen.
Als ich einmal in Gedanken versunken dort wartete, fiel mir aus dem Fahrstuhl der mir damals noch nicht persönlich bekannte karibische Dichter (und spätere Nobelpreisträger) Derek Walcott entgegen. Ich war zwar bei FSG mit ihm verabredet, aber es war doch seltsam, den großen, schweren Mann mehr oder weniger in den Armen halten zu müssen, weil nicht mehr Raum in der Herberge war.
Roger Straus, der Verleger, liebte diesen großen Poeten, der damals noch Professor in Harvard war; er war Teil einer poetischen Gang, die er „The Boys“ nannte und zu der außer Walcott noch Joseph Brodsky und Seamus Heaney gehörten (die beide später auch den Nobelpreis erhielten). Roger verlegte und liebte viele Dichter, aber „The Boys“ hatten Sonderrechte. Wenn die drei in dem winzigen Büro von Roger beisammen saßen, musste man im Englischen schon sehr versiert sein, um wenigstens einen Hauch von den Anspielungen, linguistischen Witzen, Sauereien & Pöbeleien mitzukriegen, gar nicht zu reden von oft nicht besonders schmeichelhaften Anekdoten über die nicht anwesende Konkurrenz. Roger war bekannt dafür, dass er die Verlagskollegen (mit gewissen Ausnahmen) gerne als „bunch of motherfuckers“ bezeichnete, um einen seiner relativ milden, aber nie jugendfreien Ausdrücke zu zitieren, aber er konnte ihn auch lobend einsetzen: Wenn zum Beispiel ein als übler „motherfucker“ bekannter Kritiker sich einmal anerkennend über ein Buch des anwesenden Dichtertriumvirats geäußert hatte, dann wurde er als jolly good motherfucker geadelt. Roger war aber auch sonst einmalig. Er stammte, in seinem geliebten New York 1917 geboren und 2004 dort auch gestorben, aus dem berühmten Guggenheim-Clan. Sein Großvater Oscar war unter Roosevelt der erste jüdische Minister in einem US-Kabinett, der Familie des Vaters gehörte das Kaufhaus Macy’s, Rogers Frau Dorothea, selber Schriftstellerin, stammte aus der Liebmann-Familie, der die Rheingold-Brauerei gehörte. Er selber hatte unmittelbar nach dem Krieg seinen Verlag gegründet, dem er bis zu seinem Tod 2004 als Präsident vorstand: ein eleganter, immer blendend aufgelegter Herr im besten Anzug mit Hals- und Einstecktuch, dessen Autoren die meisten nationalen und internationalen Preise einheimsen konnten. Alle Büros am Union Square waren mit Urkunden bis zur Decke gepflastert. Roger gehörte nicht zu den Verlegern, die mit dem Geld herumwarfen, wenn es um die gigantischen Vorschüsse ging, um einen Autor abzuwerben oder einen Nudnik aufzubauen, er verzichtete gerne auf Memoiren von Politikern und How-to-do-Bücher von Filmschauspielern und setzte immer auf Qualität. So hatte er sich von T.S. Eliot über Elizabeth Bishop bis zu Robert Lowell, von C.K. Williams bis zu Frederick Seidel, von Czesław Miłosz und Eugenio Montale bis zu den boys – zu denen dann noch Adam Zagajewski stieß – die besten zeitgenössischen Dichter geholt, und zum Schluss kam noch über seine Lektorin Elizabeth Sifton (Frau des Historikers Fritz Stern) der sanfte John Ashbery hinzu – den die boys zwar achteten, aber leider nicht verstanden: What the fuck does he want to say? Aber Roger war auch bekannt dafür, dass er die großen jüdischen Autoren verlegte, von Isaac Singer bis zu Bernard Malamud und natürlich Philip Roth, den ich bei Roger anlässlich eines Abendessens kennengelernt hatte. Komm, gehn wir ins Schlafzimmer, sagte er zu mir, da können wir auf dem Ehebett in Ruhe reden, was weder Roger noch seine Frau auch nur im Mindesten zu stören schien. Vier- oder fünfmal war ich mit diesem enthusiastischen Verleger bei Nobelpreisverleihungen in Stockholm, oft in angrenzenden Zimmern, so dass wir uns beim ordnungsgemäßen Anlegen der Fräcke helfen konnten – beim ersten Mal hatte ich ohne Rogers Hilfe die verschiedenen Teile so schlecht verknöpft, dass mir der gesamte Apparat beim Hinsetzen im festlich gestimmten Theater über den Kopf hinaus wegrutschte.
Da ich das Glück hatte, dass alle drei boys ihre Bücher bei Hanser veröffentlichten, brauchte ich keine Rücksichten zu nehmen. Als Dichter waren sie mir trotz aller Unterschiede sowieso gleich lieb: der schwarze Karibe, der jüdische Russe und der katholische Ire.
(…)
Da wir nun schon einmal in New York sind, machen wir schnell noch einen Sprung zum Verlag New Directions, der im obersten Stockwerk eines der ältesten Hochhäuser im Süden untergebracht ist, in 80 Eighth Avenue. Wenn man sich auf einem der uralten Ledersessel niederlässt, weiß man, dass hier schon Dylan Thomas und William Carlos Williams gesessen haben, und wenn man ein Papier hochhebt, kann es einem passieren, dass ein Brief von Wallace Stevens oder Vladimir Nabokov drunterliegt. Die Büros sehen aus, als wäre die Zeit vor der Erfindung des Computers stehengeblieben, bis man die Geräte zwischen all den schwankenden Papierbergen entdeckt. ND ist einer der schönsten Verlage der Welt, und er ist keinesfalls stehengeblieben. Er wurde 1936 von dem jungen Harvard-Absolventen James Laughlin – 1914 geboren, zwei Jahre vor Braziller, 1997 gestorben, zwanzig Jahre vor George, der über hundert wurde – gegründet, der ein bisschen Geld von seinem (Stahl-)Vater geerbt hatte, das er in den Verlag investierte – offenbar genug, um die kleine Firma durch die Nachkriegszeit zu bringen. James war selber ein von mir sehr geachteter Dichter der extrem minimalistischen Art, und er liebte die Dichter, weshalb er von Pound über Marianne Moore bis Anne Carson und W.G. Sebald alles verlegte und noch verlegt, was Rang und Namen hatte. Als kürzlich der Dichter Lawrence Ferlinghetti starb, habe ich folgenden Nachruf geschrieben:
Als dieser Tage sein Tod nach fast einhundertzwei Lebensjahren gemeldet wurde, fiel mir eine Begegnung mit Lawrence Ferlinghetti wieder ein (von dem ich immer annahm, dass er unsterblich sei). Ich besuchte in den achtziger Jahren in New York den legendären Verlag New Directions, der im obersten Stockwerk eines alten Hochhauses untergebracht ist (80 Eighth Avenue, gegenüber dem Postamt). Wenn man alle Türen fest geschlossen hat, kann man auf die Terrasse hinaustreten und einen Rundblick auf New York genießen, und bei gutem Wetter kann man bis nach Coney Island blicken, früher einmal so eine Art Prater von New York. Gründer des Verlags war der Dichter James Laughlin, ein großartiger (von Eva Hesse übersetzter) Minimalist, der in den dreißiger Jahren geerbt hatte und mit diesem Geld einen bis heute unabhängigen Verlag aufbaute, der – neben einem umfangreichen europäischen Programm – vor allem für seinen Einsatz für amerikanische Dichtung berühmt wurde: New Directions verlegte die Bücher von Ezra Pound und William Carlos Williams, von Kenneth Rexroth und Wallace Stevens, von Delmore Schwartz und Gary Snyder – und Lawrence Ferlinghetti. Dessen Buch A Coney Island of the Mind, 1958 zum ersten Mal erschienen, war einer der großen anhaltenden Bestseller des Verlags mit einer Auflage von mindestens einer Million Exemplaren – das hat kein Poet aus dem Land der Dichter und Denker je geschafft. An jenem Tag war Ferlinghetti zu Besuch. Zu dritt standen wir in Mänteln auf der Terrasse – Laughlin, geboren 1914, Ferlinghetti, geboren 1919, und ich –, und ich ließ mir von den beiden Riesen New York von oben erklären. In New York war Ferlinghetti zur Welt gekommen – da drüben! –, der Vater starb, als Lawrence noch im Leib der Mutter war, einer sephardischen Jüdin, die ihrerseits wenige Jahre nach der Geburt in einer Nervenheilanstalt ihr Leben beendete. Liebevolle Pflegeeltern, einige Jahre in Frankreich, Studium, im Zweiten Weltkrieg bei der Marine, Korea, Vietnam-Krieg, Anti-Vietnam. Ein amerikanisches Leben, aber ohne allen Schnickschnack.
Ich hatte bei Hanser 1980 einen Band von Ferlinghetti in der Übersetzung von Wulf Teichmann betreut und den Dichter anlässlich einer Lesung in Berlin kennengelernt, zusammen mit Reinhard Lettau, mit dem er die ,Love Poems‘ von dem als Dichter wenig bekannten Karl Marx übersetzt hatte, und Heiner Bastian, dem Entdecker von Richard Brautigan. Ferlinghetti war alles andere als ein verbohrter ,social activist‘, eher ein friedlicher Anarchist im Sinne der gegenseitigen Hilfe des Fürsten Kropotkin. Er hatte einst an der Sorbonne eine Dissertation über die Stadt in der modernen Literatur geschrieben und lebte nun seit den 1950er Jahren als Schriftsteller, Maler, Buchhändler und Verleger in San Francisco, das ihn zu seiner Zeit vom Meer aus gesehen an Tunis erinnert hat. Jetzt gehörten die Häuser nicht mehr den Bürgern der Stadt, sondern Investoren. The Poetic City That Was. Hier hatte er Anfang der fünfziger Jahre seine Buchhandlung City Lights Bookstore aufgebaut und den gleichnamigen Verlag gegründet, in dem 1956 der Gedichtband erschien, der in der Auflage wahrscheinlich zu dem meistverkauften in der westlichen Welt gehört: Howl von Allen Ginsberg. Howl wurde – die beste Reklame, die ein Gedichtband haben konnte – indiziert, der Autor und sein Verleger wurden wegen Verbreitung pornografischer Literatur angeklagt und eingesperrt – aber schließlich freigesprochen. Die Autoren der Beat-Generation – Burroughs, Kerouac, Corso und die anderen – waren seine Freunde. Mehr als dreißig Bücher hat dieser milde Revolutionär geschrieben, Romane, Essays, aber vor allem Gedichte – und er hat wie kaum ein anderer dafür gekämpft, dass Gedichte allen Menschen zugänglich gemacht werden sollten und nicht nur einer Handvoll gut erzogener Intellektueller. „Dichter“ – hatte er einst in einem seiner poetischen Manifeste geschrieben –, „kommt aus euren Schreibstuben heraus, öffnet eure Fenster, ihr habt euch lange genug in euren geschlossenen Räumen aufgehalten.“
(…)
Michael Krüger, aus Michael Krüger: Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen, Suhrkamp Verlag, 2023
Holger Kreitling: Als Ferlinghetti Kapitän eines U-Bootjägers beim D-Day war
GRUSS AN FERLINGHETTI
Es macht nichts
aadaß ich nicht weiß ob es dich noch gibt
aaaaoder nicht Pardon, daß ich dich duze
Wir sind doch beide gleichalt Ich werfe mit Wörtern rum
aaaaSie träumen oder träumen nicht
aaaaaaauch das Karussell darf nicht fehlen
Auch die gut geschärften Federn
aaaanur daß ich nicht weiß:
aaaaaader Vögel? der Vögel?
aaaaaaaaoder von uns Vielschreibern?
Gern würde ich dir schicken
was etwa? Den Gläsernen Havelok?
aaHeimlich werde ich ihn Nezval stehlen Doch
er hängt nicht mehr im Hausflur Nr. 124 jemand war flinker
und flatterte ab auf ihm in einen
aaaader Lunaparks dieser Welt
Also was stehlen? Das
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaweiß ich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaschon:
einen aus diesen Lunaparks Es wird damit
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaScherereien geben
Ich freue mich schon er wird auf dem Cymbal
aaaader Sonne spielen das wird hot
Wir werden alle singen im Komplott
PS:
Angeblich bist du schon weg.
Grüß dort bitte Honza Zábrana!
Ludvík Kundera
Franz Dobler: Großer Mann mit großer Story
jungewelt.de, 23.3.2019
Willi Winkler: Einer ist noch da
Süddeutsche Zeitung, 22.3.2019
Jean-Martin Büttner: Nicht einmal er glaubt mehr an die Revolution
bernerzeitung.ch, 22.3.2019
Stefan Buck: Der letzte Beatnik wird hundert Jahre alt
Die Welt, 24.3.2019
Tom Schulz: Mit 100 fängt das Leben doch erst richtig an
Neue Zürcher Zeitung, 24.3.2019
Bernhard Widder: Lawrence Ferlinghetti wird 100: Poesie der Empörung
Wiener Zeitung, 24.3.2019
Lawrence Ferlinghetti liest „Loud Prayer“ beim Abschiedskonzert von The Band am 25.11.1976 in San Francisco.
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