ABSCHIEDSLIED,
geschrieben im Pavillon des Dichters Hsje Tjau
Verstoßen hat mich der gestrige Tag,
den ich nimmer, nimmer zu halten vermag,
und der heutige wieder verwirrt mir das Herz
mit wühlendem Kummer, erdrückendem Schmerz.
Und wieder die Wildgänse fliegen
vom Herbstwind getragen davon –
Laßt uns in vollen Zügen
den Wein genießen, Brüder,
in Hsje Tjaus Pavillon!
Unter den Dichtern des Dschjänan-Stils,
der markig und voll echten Gefühls,
doch keiner größer als Hsje Tjau war –
erhebend und wie Kristall so klar.
Auch in uns der Drang nach Großem lebt,
auch unser Herz nach den Sternen strebt,
zum Himmel empor, wo die Freiheit wohnt,
empor zur Sonne, empor zum Mond.
Doch zückst du das Schwert und schlägst in den Strom
so eilen die Wellen nur noch schneller davon;
und willst du im Weine ertränken den Schmerz,
so krampft er sich dir nur noch tiefer ins Herz.
Ist doch auch nichts in dieser Welt, das dir behagt!
Rüstet mein Boot! Fort! Fort! Sobald es tagt!
war der offizielle Name des in Europa und Amerika heute wohl bekanntesten chinesischen Dichters. Tai-bai, was Morgen- oder Abendstern bedeutet, war sein Beiname. Geboren wurde er 701 auf heute sowjetisch-kirgisischem Territorium, unweit der Stadt Tokmak, in einer Familie, deren Vorfahren um 600 dorthin verbannt worden waren. Mit fünf Jahren kehrte er mit seinen Eltern nach Setschuan zurück. Seine Jugend scheint mit eifrigen Studien kanonischer, aber auch unorthodoxer, mythisch-mystischer Werke, mit literarischen Versuchen, Fechten und Wandern verbracht zu haben. Mit fünfundzwanzig verließ er sein Vaterhaus und führte fortan ein Wanderleben, das ihm die landschaftlichen Schönheiten und Eigenheiten der meisten Provinzen Chinas erschloß. Es war vielleicht kein Zufall, daß er die Tochter eines früheren Kanzlers heiratete. Denn trotz seiner offenen Verachtung für das beamtete Literatentum hegte der Dichter zeitlebens den mehr oder minder heimlichen Wunsch, nicht auf der Leiter der Beamtenprüfungen emporklimmen zu müssen, sondern seines ungewöhnlichen Talents wegen an den Hof berufen zu werden, um dem Kaiser als idealer Berater zur Seite zu stehen. Deshalb lag ihm offensichtlich viel daran, auf seiner Wanderschaft mit wichtigen Persönlichkeiten zusammenzutreffen. Mit zweiundvierzig wurde er auf Empfehlung eines einflußreichen daoistischen Priesters in die Hauptstadt Tschang-An eingeladen. Kaiser Hsüen-Dsung geruhte, ihn als literarische Zierde und amtlichen Verseschmied an Hofgelagen teilhaben zu lassen. Dem ungestüm freiheitsliebenden Dichter behagte dieses Leben nicht. Nach drei Jahren hatte er sich so viele Feinde gemacht, daß er die Hauptstadt schleunigst verlassen mußte. Seine ursprüngliche Erwartung, wirksam in das politische Leben eingreifen zu können, war in der Atmosphäre des Hoflebens erstickt worden. Wieder nahm er sein Wanderleben auf. In Lo-Yang traf er mit Du Fu zusammen. Diese beiden überragenden Poeten ihres Zeitalters fanden schnell Gefallen aneinander, trennten sich aber nach einem halben Jahr wieder, da es Du Fu in die Hauptstadt zog, wo er an den Beamtenprüfungen teilnehmen wollte. Li Tai-peh wanderte nun einige Jahre im Südosten, Norden und Westen Chinas umher. Inzwischen war der Aufstand des Grenzgenerals An Lu-schan ausgebrochen – 755. Der Dichter schloß sich in Anhue dem Prinzen Li Lin von Yung an, einem jüngeren Bruder des regierenden Kaisers, der Truppen gegen die Aufständischen zusammenzog. Der Kaiser verdächtigte Prinz Li Lin, selbst nach dem Thron zu streben. Der Bruderzwist hatte für Li Tai-peh böse Folgen: er wurde ins Gefängnis geworfen, dann in den fernen Süden verbannt. Auf dem Weg in den Verbannungsort erreichte ihn die Begnadigung. Er war bereits einundsechzig, als er sich plötzlich entschloß, mit General Li Guang-bi gegen die Rebellen zu marschieren. Auf dem Weg erkrankte er und mußte umkehren. 762 starb er im Haus des Kalligraphen Li Yangbing, damals Präfekt von Dang-Tu in der Provinz Anhue, eines Verwandten Li Tai-pehs, der als erster eine Sammlung seiner Gedichte herausgab und ein Vorwort dazu schrieb. Darin beklagt er, daß in den Wirren der Zeit neun Zehntel der Werke Li Tai-pehs verlorengegangen seien. Erhalten sind immerhin noch neunhundert Gedichte.
In seinem „Lied von den acht genialen Zechern“ schreib Du Fu über seinen Freund:
Nach einem Humpen Wein schreibt Li Tai-bo
die herrlichsten Gedichte – und en gros!
Nickt dann erschöpft vom Schöpferdrange ein
in Tschang-An auf dem Marktplatz irgendwo.
Sucht ihn in den Spelunken von Tschang-An
auf kaiserlichen Wunsch ein Edelmann,
grölt Li Tai-bo: Sagt Seiner Majestät,
mein Geist sei nur dem Weingeist untertan.
Ein unbezwingbarer Widerwille gegen die Banalitäten des beamteten Literatentums mit seinen kaiserlichen Beamtenprüfungen und ein kaum weniger unbezwingbares Verlangen, an maßgeblicher Stelle das Schicksal des Reiches mitbestimmen zu können, bestimmten Li Tai-pehs Leben. „Die alte – ewig neue Pein“, die ihn unaufhörlich quälte, suchte er durch Flucht in die Natur, in die mythisch-mystische Welt der Unsterblichen, durch freundschaftliche Beziehungen mit Geistesverwandten und die nur allzu flüchtigen Freuden der Weinseligkeit zu mildern. Mit der Kraft des Poeten, auch in der bedrückendsten Einsamkeit aus und in sich selbst eine Welt zu gestalten, in der er sich scheinbar unverletzbar und unangreifbar bewegen konnte, schuf er unsterbliche Gedichte wie „Gelage im Mondschein“ – ein machtvolles Trostlied für Trostlose.
Li Tai-peh ist neben Tschü Yüen (etwa 340 bis 278 v.Chr.), den er sehr verehrte, wahrscheinlich der phantasievollste Dichter der klassischen chinesischen Literatur. In ihm trafen sämtliche Spielarten religiös-philosophischer Anschauungen mit traditioneller Gelehrsamkeit und dem Stolz, Wagemut und der ungestümen Lebenskraft eines fahrenden Ritters zusammen. Er freundete sich mit Außenseitern, daoistischen und buddhistischen Einsiedlern an und verteidigte in seiner Jugend mit dem Schwert das Recht der Entrechteten. Seine Gedichte, in denen er sich auch in Sprach- und Formenreichtum über die Konventionalitäten der klassischen Poesie unbekümmert hinwegsetzte, blieben ein Quell der Inspiration für viele Dichter Chinas bis in unser Jahrhundert. Sein Werk war und bleibt ein gewaltiger Protest gegen die Niedrigkeit der Erhabenen – um so gewaltiger, da er durch seine Gelehrsamkeit, seine Kühnheit und Phantasie alle Regionen – irdische und überirdische – einbezog.
Li Tai-peh lebt bis heute im Volk in zahlreichen Legenden weiter. Die vielleicht anrührendste davon inspirierte mich vor vielen Jahren in Nanking zu folgendem Gedicht:
Bambushain, von Silberlicht durchgittert.
Irgendwo ein Flötenton verklingt.
Vor dem Teiche steht er, sieht erschüttert,
wie der Mond, zerrissen und zersplittert,
in die Tiefe sinkt.
Nein! ruft er. Ich rette dich! und springt.
Und den Mond im Arm, der sanft verzittert,
lächelt still der Dichter und ertrinkt.
Ernst Schwarz, August 1991, Nachwort
Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze
Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.
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