Lucian Hölscher: „Wenn ich ein Vöglein wär’…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Münchner Reden zur Poesie“

Münchner Reden zur Poesie

Wenn ich ein Vöglein wär’
Und auch zwei Flüglein hätt’,
Flög’ ich zu dir.
|:Weil’s aber nicht kann sein, : |
Bleib’ ich allhier.

Bin ich gleich weit von dir,
Bin ich doch im Traum bei dir
Und red’ mit dir.
|:Wenn ich erwachen tu’, : |
Bin ich allein.

Es vergeht kein’ Stund’ in der Nacht,
Dass nicht mein Herz erwacht.
Und dein gedenkt,
|: Dass du mir viel tausendmal, : |
Dein Herz geschenkt. 

Unter allen Gedichten ist dies eins, das mich ganz besonders berührt: ein Liebeslied, das von der Sehnsucht nach der Geliebten handelt, aber auch von den Grenzen der eigenen Möglichkeit, die Distanz zu ihr zu überwinden. Bei ihr zu sein gelingt dem Sänger nur in der Nacht und im Traum, wo Raum und Zeit ihre distanzierende Kraft verlieren. In den folgenden Überlegungen soll es um die Wirklichkeit dessen gehen, was ebenso wie hier jenseits unserer eigenen Erfahrungsmöglichkeiten liegt: um die Gegenwärtigkeit des Fernen und Fremden. Es gibt ein Problem mit der Wirklichkeit dieses Jenseits unserer selbst, ein Problem der Glaubwürdigkeit und der Tradierbarkeit. Denn nur was gegenwärtig ist, ist uns auch unmittelbar evident. Die Aneignung des Fernen und Fremden hingegen beruht immer auf kulturellen Vermittlungen, die auch brüchig, uns jedenfalls nicht immer sicher sein können. Die Wirklichkeit, die sie uns suggerieren, muss immer wieder erst erzeugt werden, und diese Erzeugungen sind nicht immer auch überzeugend.
Ich will drei Formen der Vermittlung auf ihre Techniken hin befragen, wie sie den Eindruck der Wirklichkeit des Fernen erzeugen: Religion, Geschichte und Dichtung.Wie gelingt es ihnen, uns das Ferne und Fremde als wirklich erscheinen zu lassen? Welchen Gefahren sind sie dabei ausgesetzt und wie schaffen sie es, diese zu meistern? Warum erscheint die Liebe des Liebenden zu einer Zeit glaubwürdig, zur andern nicht? Warum im Gedicht anders als in der historischen Erzählung oder im religiösen Symbol?

 

 

 

Ausgehend von dem Gedicht

„Wenn ich ein Vöglein wär’“ aus dem 18. Jahrhundert widmet Lucian Hölscher sich grundsätzlichen Fragen nach den verschiedenen Formen der Aneignung des Fernen und Fremden in Religion, Geschichte und Dichtung der Neuzeit. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Verhältnis von historischen und poetischen Wirklichkeitskonstruktionen: „Um also noch einmal ganz pointiert zu sagen, was den Unterschied ausmacht: Die historische Wirklichkeit muss sich in immer neuen Geschichten zur Sprache bringen, um wahr zu bleiben. Das Gedicht, das Lied, sie tragen ihre Wahrheit in ihrer Form, ohne sie wären sie nichts.“

Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2008

 

Bei poetenladen.de finden Sie Walter Fabian Schmids kurze Ausführungen zu Lucian Hölschers Münchner Poesierede und die Veranstaltung vom 10.12.2008 im Lyrik Kabinett München zum nachhören.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

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