− Zu Gottfried Benns Gedicht „Das sind doch Menschen“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −
GOTTFRIED BENN
Das sind doch Menschen
Das sind doch Menschen, denkt man,
wenn der Kellner an einen Tisch tritt,
einen unsichtbaren,
Stammtisch oder dergleichen in einer Ecke,
das sind doch Zartfühlende, Genüßlinge
sicher auch mit Empfindungen und Leid.
So allein bist du nicht
in deinem Wirrwarr, Unruhe, Zittern,
auch da wird Zweifel sein, Zaudern, Unsicher-
heit,
wenn auch in Geschäftsabschlüssen,
das Allgemein-Menschliche,
zwar in Wirtschaftsformen,
auch dort!
Unendlich ist der Gram der Herzen
und allgemein,
aber ob sie je geliebt haben
(außerhalb des Bettes)
brennend, verzehrt, wüstendurstig
nach einem Gaumenpfirsichsaft
aus fernem Mund,
untergehend, ertrinkend
in Unvereinbarkeit der Seelen −
das weiß man nicht, kann auch
den Kellner nicht fragen,
der an der Registrierkasse
das neue Helle eindrückt,
des Bons begierig,
um einen Durst zu löschen anderer Art,
doch auch von tiefer.
„Gaumenpfirsichsaft“: Das ist eines jener Reizwörter mit Rausch- und Wallungswert, wie Gottfried Benn sie gern gebraucht, den Himmel von Sansibar oder das Meer der Syrten zu beschwören. Zur blauen Stunde lockt er den Leser mit außergewöhnlichen Süd- und Schamanenwörtern in Landstriche, wo die Hirtenflöte tönt und der Hibiskus blüht, entführt ihn in exotische Bezirke, wohin ihn selbst eine quälende Sehnsucht, ein schließlich unstillbares Verlangen zieht. „Brennend, verzehrt, wüstendurstig“, so benennt der Dichter diesen Daseinszustand. Rätselhafter, aber auch eindringlicher kann man das Begehren nicht beschreiben. Dieser „Gaumenpfirsichsaft aus fernem Mund“ ist ein Trunk, der Befriedigung, ja Erlösung von alltäglicher Mühsal verheißt, auch wenn der Gelabte am Ende daran zugrunde geht. Nach diesem Trunk giert ein Durst der besonderen Art: Es ist das unerfüllbare Verlangen in Seelenkämpfen Liebender, die nicht zusammen sein können.
Nicht jede Dämmerstunde ist eine „heure bleue“, in der ein Dichter seine geheimen Wünsche ausspricht. Aber immer sind es für Gottfried Benn die Stunden, in denen er von seinem Wirtshaustisch aus die Gäste an den Nachbartischen beobachtet. Aus zahlreichen Gedichten, die ausnahmslos an Ort und Stelle des Augenzeugen in seiner Wirtshausecke erlebt und geschrieben scheinen, geht Benns Einschätzung des Menschen mit seinen Stärken und Schwächen, seinen Überschüssen und Defiziten hervor. Nicht er allein in seinem Durst nach Gaumenpfirsichsaft, auch die anderen an den Nebentischen zittern, zaudern, zweifeln wie er.
Ob Kredithaie mit schlechtem Gewissen bei ihren Geschäftsabschlüssen, ob Habenichtse, antriebsschwach, ja gelähmt in ihren verzweifelten Bemühungen: Gottfried Benn gesteht jedem einzelnen lebhafte Empfindungen und heftige Gefühle zu, hebt die undämmbare Übermacht der leiblichen Bedürfnisse hervor und wird nicht müde, die Geheimnisse des Allgemein-Menschlichen, die Genüsse des einfachen Lebens im Gedicht zu benennen. Er, der sich einmal als armen Hirnhund, ein andermal als entwicklungsschwachen Formenpräger bezeichnet hat, teilt seine Empfindungen, sein Leid, den Gram seines Herzens mit dem Mann und der Frau am Stammtisch – und bleibt doch ausgeschlossen aus dem Lebensraum dieser Allerweltsmenschen, die er nicht einmal mit Namen kennt. Es sind zartfühlende, genußfreudige, liebende Menschen mit Hoffnungen und Zweifeln wie er selbst, wie du und ich.
Offen bleibt, und es kann auch von ihm nicht herausgefunden werden, ob sie bei ihrem Geschäftstrieb je ein Genügen, mit ihren Allerweltsieben und -liebschaften je eine Hingabe über die Triebe und Lüste ihres Geschlechts hinaus empfunden, ob sie diesen Durst der besonderen Art nach Gaumenpfirsichsaft im Mund und im Hirn verspürt haben. Gottfried Benns Gedicht „Das sind doch Menschen“ ist ein Doppelbekenntnis. Es offenbart seinen eigenen Durst, den eines Schwärmers und Phantasten, verteidigt aber auch den anderen Durst, den von Lieschen Müll und Otto Normalverbraucher, deren Herzenswunsch auf triviale Befriedigung gerichtet ist. Zugleich ist es eine Absage des Extravaganten, der sich nach den Wonnen des Gewöhnlichen sehnt, an die hoffärtige Auffassung, dieser Durst anderer Art sei nicht so hoch zu bewerten wie der platonische, der von Schöngeistern und Moralpredigern für einen Durst der besonderen, der außergewöhnlichen Art gehalten wird.
Offensichtlich klar umrissen und zugleich geheimnisumwittert ist die Rolle des Kellners in Gottfried Benns Gedicht. Mensch mit seinem eigenen Durst wie jeder andere in dieser Berliner Eckkneipe, tritt er an einen Tisch heran, die Bestellung aufzunehmen, bedient den Zapfhahn und die Registrierkasse – kann aber, weil er unbefragt bleibt, des Dichters Kronzeuge nicht sein. Und so bleibt es überraschenderweise ungewiß, ob der Dichter allein dieses besonderen Durstes teilhaftig ist.
Ludwig Harig, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002
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