– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Erinnerung an den Tod“ aus Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe. –
HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Erinnerung an den Tod
alkibiades mein spießgeselle
bist du lange fort
ich weiß nicht: wohin bist du gegangen
ach nur bei der regatta bist du nicht an bord
und die forellen muß ich jetzt alleine fangen
und selbst das mokkamahlen macht mir nicht mehr spaß
und wenn es regnet wirst du nicht mehr naß
jetzt bin ich traurig wenn ich grog bestelle
alkibiades mein spießgeselle
lange bist du fort
in meinem schrank liegt noch die alte pfeife
woanders (im notizbuch steht vielleicht der ort)
in einem zimmer das ich nicht mehr ganz begreife
liegt unser roter kater und liegt unsre braut
die kneipen sind jetzt alle leer und laut
die nächte angenagt von grüner helle
alkibiades mein spießgeselle
du bist lange fort
ich muß dich, lieber, wohl zu end vergessen
zuweilen schlaflos fällt noch ein vertropftes wort
ein streich ein schlips ein heisersein ein essen
ein angstruf mir von weißen vögeln ein
sonst bin ich alt und lächelnd wie ein kieselstein
und warte gern auf die uns forttut
auf die sanfte welle
alkibiades
alkibiades mein spießgeselle
Variationsreich betont Reinhold Messner seine Grunderfahrung als Bergsteiger, in den Eisfeldern des Himalaja sei er dem Tod begegnet, habe er das Sterben gelernt. Dieses vorweggenommene Wahrnehmen eines künftigen Erlebens ist ein Déja-vu der besonderen Art: Es hat den Beigeschmack des Aufstoßens aus dem hohlen Bauch. Ihm steht der Dichter Hans Magnus Enzensberger gegenüber, der einen leichtfertigen, einen leichtfüßigen Weggefährten herbeizitiert, seine Weise der Auseinandersetzung mit dem Tod zu bezeugen.
Fünfmal ruft Enzensberger den athenischen Staatsmann und Feldherrn Alkibiades an, fünfmal beschwört er den Meister politischer Winkelzüge, das Genie des intellektuellen Doppelspiels, fünfmal verbündet er sich mit dem doppelten Überläufer, dem frivolen Mysterienlästerer, dem zwar selbstsüchtigen und ehrgeizigen, aber auch charmanten und weltläufigen Gesprächspartner der akademischen Zirkel seiner Zeit. Doch warum hat er einen seit zweitausend Jahren von der Geschichtsschreibung der Charakterlosigkeit geziehenen Spießgesellen an seine Seite gerufen, nicht einen prophetischen Rauner?
1957, in seinem ersten Gedichtband, verteidigt Hans Magnus Enzensberger auch mit diesem Gedicht die Wölfe gegen die Lämmer: In freundlichen, traurigen und bösen Gedichten bekundet er, hinter der Maske des schwarzen Humors verborgen, das Lustvolle des Drohens, des Schmähens, des Verführens. Möglich ist, daß Enzensberger einen Freund, einen guten Bekannten, vielleicht sogar sich selbst mit dem Namen Alkibiades anspricht, denn sein Vorsatz, das Bedrohliche des Todes in alltäglichen, ja trivialen Beispielen des Zuendegehens herunterzuspielen, schließt die Selbstbezichtigung mit ein. Nicht ein anderer, er selbst ist es ja, der den sonst so ernsthaft bedichteten Tod auf das Spielfeld des Komischen rückt, wo sich der Riß zwischen Sein und Schein zugleich am realistischsten und am außergewöhnlichsten offenbart. Regattafahren, Forellenfangen, Mokkamahlen sind ihrer falschen Feierlichkeit ebenso entkleidet wie die alte Pfeife, der rote Kater und die durchzechten Kneipennächte ihrer pubertären Verehrung.
In heiterer Gelassenheit einerseits, andererseits aber auch mit einem ironischen Bedauern nimmt er Abschied von den alten Gepflogenheiten, denn der zwielichtige Kumpan, auf den er sich bezieht, ist schon lange nicht mehr an seiner Seite. Er erinnert sich an ihn, doch ins Erinnern drängt sich das Vergessen.
In dialektischer Durchtriebenheit spielt der Dichter beides ununterscheidbar ineinander: Sich an den Tod des Komplicen erinnern bedeutet ihm, sein eigenes Leben zu Ende vergessen. Wie manches andere ist auch dieses Gedicht von Enzensberger ein Abschiedsgedicht, ein bewußt anrüchiges zwar, in dem er vorgibt, sich am Ende lustvoll auf die sanfte Welle der Styx heben zu lassen. Den Namen der Göttin des Unterweltflusses nennt er nicht, vielleicht weil er ihn absichtlich verschweigen will. Sie gehört, wie Enzensberger selbst, zu den Widersachern des herrschenden Zeitgeistes. Zum Kampf gegen die Titanen hat sie sich als erste eingestellt, eine Spießgesellin von Enzensberger und Alkibiades, dessen Abwesenheit der Dichter betrauert, zuerst in erstauntem Ausruf, dann in gespieltem Lamento, schließlich in lapidarer Feststellung, zu der sich der Spötter am besten versteht.
Ludwig Harig, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2003
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