– Zu Hugo Balls Gedicht „Epitaph (Für mich selbst)“ aus Hugo Ball: Sämtliche Werke und Briefe. Band I: Gedichte. –
HUGO BALL
Epitaph
(Für mich selbst)
Der gute Mann, den wir zu Grabe tragen,
Sieht wächsern aus und scheint erstarrt zu sein;
Doch war er so verliebt in allen Schein,
Daß man sich hüten muß, ihn totzusagen.
Er liebte es in allen Lebenslagen
Dem Unerhörten nur Gehör zu leihn.
Umgeben so von hundert Fabulein
Kann man nur zögernd ihm zu glauben wagen.
Drum wenn auch jetzt sein schmaler Maskenmund
Geschlossen liegt und nicht mehr sprechen mag:
Er lauscht vielleicht nur in den Schöpfergrund…
Und steht dann wieder auf wie jeden Tag.
Laßt ihn getrost bei seinem Leichenspiele.
Er lächelt schon… und wir sind kaum am Ziele…
Wer sich mit Hugo Ball beschäftigt, gerät über das faszinierende Werk eines Dichters hinaus in den abenteuerlichen Sog eines Artistenlebens. Cabaret Voltaire und Galeria Dada in Zürich zur Zeit des Ersten Weltkriegs: Das waren die Stätten, an denen dieser Gaukler der Sprache im blechernen Kostüm auftrat mit dem kühnen Vorsatz, „der seßhaften bürgerlichen Kultur eins auszuwischen“.
Noch hatten sich nicht hohle Feierlichkeit und phrasenhaftes Pathos nationalsozialistischer Volksdichtung breitgemacht; doch ein reaktionäres kleinbürgerliches Kriegsgeschrei florierte in deutschen Lesebüchern und Anthologien. Hugo Ball, 1886 im pfälzischen Pirmasens geboren, emigrierte in die Schweiz, erkennend, „daß die Flammenträger der Ideen ihrem Lande besser dienen könnten mit der geistigen Waffe, dem Worte“.
In Laut-, in Klanggedichten musizierte er, rollte die Augen, rümpfte die Nase und gestikulierte mit glänzenden Stulpenhandschuhen. „Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind“, verkündet er in seinem Manifest, „der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit.“
Hugo Ball treibt ein extravagantes Lebens- und Leichenspiel zugleich. Es ist sowohl ein Spiel mit Wörtern als auch ein Spiel mit Ideen. In seinem Todesjahr 1927 krönt der Einundvierzigjährige sein weltoffenes Werk mit einem streng gebauten Sonett in fünffüßigen Jamben: Es ist seine Grabschrift, ein unverrückbares Erinnerungsmal, das er sich selbst setzt. Schon von unheilbarer Krankheit gezeichnet, bleibt er bis zuletzt seiner originellen Ausdrucksweise treu. „Ich hatte das unverdaute Gehäuse einer Spargel in mir“, schreibt er drei Monate vor seinem Tod an seine Frau Emmy.
Hugo Ball selbst ist der gute Mann, der zu Grabe getragen wird. Doch der Tote ist nur scheintot. Vernarrt in die nach allen Seiten offene Welt der Vorstellung, schlägt er dem engen Wirklichkeitssinn ein Schnippchen. Von Täuschung und Blendwerk, von verwegen erzählten Geschichten animiert, hebt er im Spiel mit Sein und Schein alle Widersprüche auf. Mit gespitzten Ohren lauscht er dem Unerhörten, kommt der Schöpfung auf die Spur, wagt es gar, dem Vorsatz des Schöpfers auf den Grund zu gehen. Unverzagt begibt er sich täglich in dieses groteske Leichenspiel, er ist drauf und dran, das Geheimnis zu erkunden:
Er lächelt schon…
Hugo Balls „Epitaph“ ist das Selbstporträt eines Dichters, der sich nicht mit den Realitäten des Seins abfinden will. Sein Lauschen in den Schöpfergrund verbindet sich mit dem Fahnden und Forschen in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung:
Gesucht und gespiegelt wird das goldene Zeitalter, wo bis ganz hinten ins Paradies hineinzusehen ist.
Sein und Schein nähern sich einander, überschreiten gar ihre altbewährten Grenzen und gehen ineinander über, was man gemeinhin nicht zu glauben wagt.
Doch in den Spielen des Dichters ist alles möglich: „Was wir zelebrieren, ist eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich“, ruft Ball an anderer Stelle verzückt aus, „das sind Dinge, die es vielleicht noch niemals gegeben hat.“ Balls freimütige Einsicht, daß wir mit diesem Ideenspiel der Sprache „kaum am Ziele“ sind, läßt an Goethe denken. Im Gespräch mit Eckermann leugnet er den starren Blick auf das Augenscheinliche und sagt:
Wir sehen alles in Verbindung mit etwas Anderem, das vor ihm, neben ihm, hinter ihm, unter ihm und über ihm sich befindet.
Ludwig Harig, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010
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