– Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Zueignung“ aus Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. –
GERTRUD KOLMAR
Zueignung
Sie nahm den Silberstift
Und hieß ihn hingehn über die weiße matt glänzende Fläche:
Ihr Land. Er zog
Und schuf Berge.
Kahle Berge, nackte kantig steinerne Gipfelstirnen, über Öde sinnend;
Ihre Leiber
Schwanden umhüllt, vergingen hinter dem bleichen Gespinst
Einer Wolke.
So hing das Bild vor dem schwarzen Grunde, und Menschen sahen es an.
Und Menschen sprachen:
„Wo ist Duft? Wo ist Saft, gesättigter Schimmer?
Wo das strotzende, kraftvoll springende Grün der Ebenen
Und der Klippe bräunlich verbranntes Rot oder ihr taubes graues Düster?
Kein spähender Falke rüttelt, hier flötet kein Hirt.
Nie tönen groß in milderes Abendblau die schön geschwungenen Hörner wilder Ziegen.
Farbenlos, wesenlos ist dies, ohne Stimme; es redet zu uns nicht.
Kommt weiter.“
Sie aber stand und schwieg.
Klein unbeachtet stand sie im Haufen, hörte und schwieg.
Nur ihre Schulter zuckte, ihr Blick losch in Tränen.
Und die Wolke, die ihre zeichnende Hand geweht,
Senkte sich und umwallte, hob und trug sie empor
Zum Schrund ihrer kahlen Berge.
Ein Wartender,
Dem zwei grüngoldene Basilisken den Kronreif schlangen,
Stand im Dämmer auf, glomm und neigte sich, sie zu grüßen.
Die Geste, mit der das Gedicht, Schlußgedicht des Zyklus „Welten“, den Leser entläßt, ist von vielsagender Symbolik: Ein weibliches Künstler-Ich wird in die Höhe emporgetragen und dort von einem mit magischen Hoheitszeichen ausgestatteten „Wartenden“ ehrerbietig empfangen, auf diese Weise die Wertschätzung und Anerkennung findend, die ihm von der Mitwelt versagt wurde. Ein Gedicht mithin, das, wie der Originaltitel – er lautet ursprünglich (und eigentlich richtig) „Kunst“ – ausdrücklich zu erkennen gibt, Fragen der Kunst und des Künstlertums reflektiert. Seinen programmatischen Anspruch hat Hermann Kasack, der verdienstvolle Herausgeber des Kolmarschen Werks nach 1945, richtig erkannt, aber auch eigenmächtig verstärkt, als er mit dem Titel die Stellung des Gedichts im Ganzen des Zyklus veränderte: in der von ihm besorgten Ausgabe des lyrischen Gesamtwerks steht das Gedicht am Anfang, und der neue Titel „Zueignung“ unterstreicht die ihm zugewiesene Rolle als Einleitungs- und Programmgedicht.
Ihre Zugehörigkeit zur deutschen Literatur und Kultur hatte Gertrud Chodziesner, die Tochter aus bürgerlich assimilierter jüdischer Familie – der Vater war ein berühmter Strafverteidiger in Berlin –, mit der Wahl der deutschen Namensform ihrer preußisch-polnischen, Geburtsstadt als Autorname zu erkennen gegeben. Noch 1934 erschien unter diesem Namen die Sammlung Preußische Wappen.
Dann machte der Rassismus des Dritten Reiches die Namenswahl hinfällig und verwies die Dichterin auf das Judentum ihrer Abstammung zurück.
Unter dem Druck der antisemitischen Verfolgung nahm das von Anfang an vorhandene, zunächst jedoch eher familiär-biographisch motivierte Grundgefühl des „Andersseins“ Züge dessen an, was Gertrud Kolmar in dem Gedicht „Wir Juden“ als Judentum vom „Rad und Galgen“ definiert:
Und wir, wir sind geworden durch den Galgen und durch das Rad!
Schon ganz früh und auf bestürzende Weise konsequent und kompromißlos hat die Dichterin sich mit der Rolle des wehrlosen „Opfers“ identifiziert. „Welten“, der letzte abgeschlossene Gedichtzyklus Gertrud Kolmars, in der zweiten Hälfte des Jahres 1937 geschrieben, markiert den Übergang von einer bis dahin eher konventionellen Technik zu einer freieren Form der lyrischen Gestaltung. Die festen Bauteile Reim, Vers, Strophe werden durch unregelmäßige prosanahe Zeilen und Blöcke ersetzt. Was die Idee des Opfers anlangt, wird sie zum einen mit frühgeschichtlich-archaischen Vorstellungen in Verbindung gebracht („Das Opfer“). Zum andern wird sie in Zusammenhänge gestellt, die über das Judentum hinaus auf Asiatisch-Fernöstliches weisen. So wird „Asien“ (im gleichnamigen Mittelgedicht des Zyklus) als die „Mutter, die du mir warst, eh mich die meine wiegte“ apostrophiert und das höhere Wissen vom „Nicht-Tun“, das taoistische Ideal eines reinen Seins ohne „Tun“ und „Wirken“ beschworen.
Zwei erzählende, beschreibende Blöcke stehen sich, durch eine Leerzeile getrennt, antithetisch gegenüber. In beiden Blöcken bestimmt Asiatisch-Chinesisches die Darstellung. Der erste beschreibt die Entstehung (und Wirkung) eins Landschaftsbildes, das die typischen Merkmale chinesischer Landschaftsmalerei zeigt: Monochromie, Betonung der Vertikale, Darstellung von Bergen, Wolken, leerem Raum, Verzicht auf die (von den „Menschen“ erwartete) Farbigkeit.
Chinesisch beeinflußt ist auch der zweite Block, der den Vorgang der Apotheose des Künstler-Ichs darstellt. In ihm wird das Vorstellungsmuster jener Maler-Legende sichtbar, wonach der altgewordene Wu Daozi in das von ihm vollendete Landschaftsbild hineingeht, „den Pfad hinauf wandert“, wie es heißt, und „im Nebel der Berge für immer verschwindet“. In Gertrud Kolmars Gedicht verschwindet das Maler-Ich nicht spurlos in der gemalten Landschaft, sondern wird von der gemalten „Wolke“ emporgetragen und von dem Repräsentanten der höheren Ordnung ehrenvoll begrüßt – eine Abweichung, die man als eine spezifisch weibliche Interpretation der Legende durch Gertrud Kolmar auffassen mag.
Mit dem Abtransport in das Vernichtungslager Auschwitz am 2. März 1943 ist die Dichterin für immer aus dem Gesichtskreis der Lebenden verschwunden. Im Wissen um die drohende physische Vernichtung hat sie im Gedicht den utopischen Glauben an das andere, höhere Bürgerrecht der Kunst entworfen.
Ludwig Völker, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwanzigster Band, Insel Verlag, 1997
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