Manchmal überrascht die Nacht den,
der sie durchquert. Die Nacht,
die alles aufsaugt, die die Stille
bewacht oder erneuert, die Gedankenspiele,
Leichtsinnigkeiten, das Blut eines Unschuldigen.
Die geheiligte Nacht, die du deinerseits überraschst
in ihrer Dichte, die intakte Nacht,
ohne Kompromisse. Eine gleichsam
imaginierte Geschichte, perfekt in ihren
Schismen, ihren Auswirkungen, ihren Verbrechen.
Wie damals –
am 4. Februar 1983 – als du sie taumelnd durchquertest,
immer mehr Blut tropfte
von deiner Stirn, vorwärts, im Stockdunkeln
von der 207. Straße bis zu 100 Park Terrace West.
Zu Hause warf der Spiegel dir
dein entsetztes Gesicht zurück…mechanisch
riefst du Judith an, sie sagte dir nur,
dass du die Eingangstür halb offen lassen solltest,
bevor du bewusstlos zu Boden gesunken bist.
Dann andere Räume, weiße, ganz weiße.
Alles leichter, alles weicher
wie der Schnee den du wie betäubt
in Flockenwirbeln sahst,
die gegen die Windschutzscheibe stießen.
Nun ist es nur eine Erzählung, ein Stummfilm,
wie von selbst sich bewegende Lippen der Bahrenträger und Pfleger,
immer wieder dieselben Fragen:
Traum und Wirklichkeit in derselben Sequenz,
immer derselben, immer derselben.
Es ist nur eine Erzählung,
ein Stummfilm, der die Nacht wiederholt: diese
Nacht, die sich verabredet hat
mit einer anderen Nacht vor dreißig Jahren.
Mount Sinai, 4. Februar 2013
Dieses Buch, für das mir 2015 der Premio Pascoli und der Premio Viareggio-Giuria zuerkannt wurde, enthält Gedichte, die zwischen November 2012 und November 2013 entstanden sind.
Es ist in zwei Teile gegliedert, die gleichzeitig antithetisch und komplementär sind. Es wurde bereits ins Französische und ins Englische übersetzt.
Den ersten Teil widme ich François Truffaut.
Die zitierten Namen sind jene tatsächlicher Gefährten meiner Jugend, die ich bis 1957 in Vietri und Salerno verbracht habe. Danach übersiedelte meine Familie nach Rom.
In diesen Teil füge ich, mit einigen Veränderungen, zwei Gedichte ein, deren erste Verse „Die Choreographie der Zukunft / wurde vorbereitet“, beziehungsweise „Ich wende mich geduldig den unvereinbaren Ereignissen zu“ lauten; beide Gedichte sind ursprünglich in der Sammlung Disunita Ombra (Archinto, RCS, 2013) enthalten.
Das Gedicht, das mit „Das Zimmer ist blütenweiß“ beginnt, ist aus einer intertextuellen Anregung entstanden, die sich im letzten Kapitel des Romans Zenos Gewissen von Italo Svevo findet. Und einer weiteren Überlegung Svevos sind die beiden letzten Verse des Gedichts mit dem Beginn „Jede Nacht grabe ich in meiner Höhle“ geschuldet.
Die beiden letzten Verse des Gedichts mit dem ersten Vers „Wieder betrachtest du dich erstaunt“ sind Nadja von André Breton entnommen.
Der zweite Teil versammelt nächtliche Texte, die zumeist im Zustand des Halbschlafs und in halb-traumartigen Augenblicken oder hypnagogen Zuständen geschrieben, bzw. übertragen wurden. Diese Gedichte sind zum Teil durch die Lektüre der Hymnen an die Nacht des deutschen Dichters Novalis inspiriert worden, der für meine literarische Entwicklung von großer Bedeutung ist.
Die letzten fünf Verse des Gedichts mit dem Gedichtanfang „Im Schlaf wiederholt sich die Szene“ sind dem Idioten von Fjodor Dostojeweskij entnommen.
Der zehnte Vers des Gedichts mit dem Titel „Bevor du einschläfst“ ist von E.E.Cummings. In eben diesem Gedicht spielt die Figur des „Verschwenders“ auf ein Phantasma in der Erzählung Settimana di sole von Tommaso Landolfi an; eine Erzählung, die meiner Ansicht nach zu den außergewöhnlichsten Erzählungen des italienischen 20. Jahrhunderts gehört.
Luigi Fontanella, Nachbemerkung
Dieser Band Jugend und Nacht, der 2015 den namhaften Pascoli-Preis und den bedeutenden Viareggio Giuria-Preis gewonnen hat, enthält Texte, die auf den ersten Blick auf teils merkwürdige, teils befremdliche Art unzugänglich anmuten, wobei sich der Autor darin auf höchst eigenwillige Weise mit einem der wesentlichen Themen der Literatur befasst, nämlich mit der „Suche nach der verlorenen Zeit“ oder besser mit der Suche nach Kindheit und Jugend. Nur genaueres und konzentriertes Lesen ermöglicht einen bewegenden Einblick in einen weit zurückliegenden Bereich, den der Dichter auf sprachlich überzeugende Weise zurückzuerobern versucht, nämlich jenen seiner frühen Jahre.
Luigi Fontanella, 1943 geboren, hat diese Zeit im Süden Italiens, in Salerno verbracht. In den Gedichten des ersten Abschnitts „Jugend“ erinnert sich der Autor an Kinderspiele, Fußballspiele, Zwistigkeiten, Freundschaften, die erwachende Sexualität. Was ausgespart bleibt, ist das engere Umfeld des sensiblen Kindes, d.h. die Familie. Das ist insofern erstaunlich, als die Familie nicht nur in Süditalien, sondern allgemein eine wichtige Rolle bei der physischen und psychischen Entwicklung eines Kindes spielt. Hier aber ist von den Eltern nur andeutungsweise die Rede, die Mutter mutet streng und lieblos an, der Bruder wird zwar erwähnt, bleibt jedoch schemenhaft blass. Die Bindung an diese Personen scheint unwesentlich zu sein, so als sei dieses Kind schon sehr früh, vielleicht zu früh, auf sich allein gestellt gewesen, so als habe es sich von Anfang an „anders“ als alle anderen gefühlt.
Die zentrale Fragestellung scheint überhaupt zu sein: Wodurch bin ich zu dem geworden, der ich heute bin? Diese Frage bleibt selbstverständlich unbeantwortet, da jede Erinnerung vage, unvollständig und trügerisch ist. Die Rückwendung des Autors zu seiner Kindheit und Jugend vermag natürlich nur bruchstückhaft Augenblicke festzuhalten, die das Gedächtnis reproduzieren kann. Die Sehnsucht nach dieser „verlorenen Zeit“, deren Verlust unwiderruflich und unvermeidlich ist, wird stark spürbar.
Wenig verwunderlich, dass die Erinnerung zumeist schmerzliche, enttäuschende Erfahrungen zu Tage fördert, da sie unweigerlich unauslöschliche Spuren hinterlassen. Glücksmomente gibt es wenige.
Eingebaute Zitate von Italo Svevo, André Breton, Dostojewskij, E.E. Cummings, Tommaso Landolfi beweisen die Belesenheit des Autors.
Der 2. Teil der Sammlung trägt den Titel „Nacht“, wobei der Autor angibt, diese Texte sozusagen im Halbschlaf, zwischen Träumen und Wachen, im hypnagogen1 Zustand verfasst zu haben.
Als Vorbild werden die Hymnen an die Nacht (1800) von Novalis genannt, eine der bedeutendsten Dichtungen der Frühromantik. Das Motto „Abwärts wend’ ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht“ ist daraus entnommen.
Während aber bei Novalis die Nacht ein sakrales Element ist, der Raum religiöser Erfahrungen und die Sehnsucht danach eine Sehnsucht nach dem Tod als Tor zum ewigen Leben, so ist sie im Gegensatz dazu in den Gedichten dieses Abschnitts der Raum, der Erinnern ermöglicht. Der Mensch ist bei Novalis ein „Fremdling im Licht“, der sich nach seiner Heimat und seinem Ursprung sehnt, nach der Nacht.
Bei Fontanella gibt es in diesem Zusammenhang Anklänge, die jedoch keineswegs religiöser Natur sind. Die Personifizierungen „Schwester Nacht“, „Mutter Nacht“ sind wohl weiblich (sowohl im Italienischen wie im Deutschen), bergen jedoch nicht, schützen nicht, schenken auch kein Vergessen, erlauben keine Wiederkehr. Die existentielle Vereinzelung und Einsamkeit jedes Menschen sind durch nichts und niemanden zu verhindern.
Jegliches Geschick wird vom Zufall bestimmt. Alle Verluste sind endgültig. Was verloren ist, kann auch durch den Akt des Schreibens nicht wieder zurückgewonnen werden. Selbst die Liebenden wissen keinen Rat.
Der Schluss des letzten Gedichts drückt aus, was für viele Dichter vor Fontanella letzte, schmerzliche, aber unabänderliche Einsicht war:
„Vietato parlare. Vietato scrivere.“ („Sprechverbot. Schreibverbot.“) Oder um den berühmten letzten Satz aus Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus zu bemühen:
Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
Franziska Raimund, Hochstrass, im April 2023, Nachwort
Alessio Juvent spricht in einer ZOOMkonferenz mit Luigi Fontanella 2021 über Adolescence and Night
Luigi Fontanella präsentiert sein Buch Raccontare La Poesia (1970–2020) am 21.10.2021 im Center for Italian Studies an der Stony Brook Universität New York.
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