– Zu Lutz Seilers Gedicht „schlachten, träumen“ aus Lutz Seiler: vierzig kilometer nacht. –
LUTZ SEILER
schlachten, träumen
wer das erzählen wollte: kopfgetreu, ein draht-
gestell, zwei unterkiefer, abgerissen
aaawie kalenderblätter: das
tier stand schon in gläsern, als
zu mittag der beschauer den
roh gekühlten rest ins licht
seiner vergängnis hielt… ich
sah ganze dörfer brotlos in der schwebe, gegen-
pläne, melkmaschinen & defekte
anatome klumpten teils im sprung und teils
im flug hier wache ich doch auch
die kettenhunde ausser sicht: ich sah
aaagenerationen in efeu gekrallt oder noch
aaain den daunen. wer
am seidnen faden, wessen nadel
stach & was
im stickwerk deines linnens stand: das
wusste keiner mehr von denen
sacktest du wie jeder ab
am abend schwer ins schädelkissen deiner
eignen vorzeit ein – brett ran. schacht zu. so gut
aaawar schlaf; doch an
den bleichen innenseiten der bezüge klebten
feucht die scheitel deiner ahnen, asservaten
über schecks & schreckpistolen ab-
gezockte engel hockten
bleiern atmend in den bergen
deiner mitgift ein: das
träumst du alles
was der fall ist, langsam, erdwärts
aaaschritt für
aaaschritt, so dass
im gehen sich die achse
deiner schwere dreht mit übertragungen
von oberflächen, übungsschlacke, ammoniak & etwas
fugengras: ein schmaler
echopfad am fuss verhallt: warst du
was tickt, das eingeweckte
tier im glas? dass spröde im
gewölbe, kühl & tastend dicht aus abgekochten
schatten wuchs ein ast, sein pfeifen
hielt im dunkel an, ein ton, sein lot
zu gott im gras – hörst du
wie die schritte innen, aufwärts an
den schädel schlagen, wie
der gang deiner gedanken an
den sohlen klebt ist was
der fall ist nicht zu spät? egal
ob einschlaf oder totschlag: lies
bevor du deine augen schliesst
was initial, im klein gestickten, buchstabiere
aaawer am kurzen
ende deiner decke steht
Zum Schreiben gehören Zeiten, in denen es nicht weitergeht. Es gibt Tage, an denen man endlos Runden läuft durch das Zimmer und das Material, aber eigentlich sich selbst umkreist, sich immer wieder etwas laut ins Ohr spricht, um nur immer wieder hören zu müssen: stimmt nicht. Ein Derwisch sitzt auf der Stimme und macht sich steif. So lange, bis das Sprechen stimmt, dann wird er lebendig, dann gibt er seinen, jenen unbeschreibbaren Teil zum Ganzen dazu, und die Dankbarkeit ist groß, auf beiden Seiten. Ebenso groß wie die Verzweiflung, wenn das nicht gelingt.
Eines Abends vor etwa acht Jahren, als ich auf ähnliche Weise schon einige Zeit nicht weitergekommen war und Verzweiflung aufzog, stieg ich in den Keller. Vielleicht war ich bereits etwas verwirrt, in jedem Fall übermüdet, wie ein Tier, das zu lange eine unsichtbare Beute umkreist hat, suchte ich im Halbdunkel die Regale ab und fand schließlich, was ich wollte: ein paar leere Gläser, mit Kohlenstaub bedeckt. Als ich sie auswusch, sah ich, daß sie im Deckel das maritime Symbol und den Schriftzug mit dem alten tröstlichen Namen trugen: es waren ANKER-Gläser. Rillengläser der Firma ANKER aus Sachsen, wie sie in unserer Familie über Generationen gebraucht und weitergegeben worden waren. Zurück an meinem Tisch, griff ich zur Schere und begann sorgsam und ohne zu zögern meine Manuskripte zu zerschneiden. Quer durch Verse und Strophen schnitt ich Worte oder Wortgruppen aus dem Papier, selten mehrere Zeilen am Stück. Das bereitete Freude, ein angenehmes Gefühl, ich kam gut voran, und so zerschnitt ich auch die vorigen Entwürfe und Fassungen, die im Schubkasten lagen, und füllte damit meine Ankergläser. Dann verschloß ich sie. Ich klebte ein Stück Rollenpflaster auf und datierte die Gefäße mit Jahreszahl und Saison: Herbst 1996. Ich hatte eingeweckt.
Damals verspürte ich nicht den geringsten Antrieb, mir über meine fixe Idee Rechenschaft abzulegen. Das änderte sich erst, als ich im Sommer 2003 meine Gläser öffnete und darin Anlaß fand, mich zu fragen, warum das Einwecken an jenem Abend zum Schreiben gekommen war, weshalb dieser eher hilflose Rückgriff auf eine alte Technik, die keine literarische war?
Einwecken – in jedem Jahr gab es eine Frucht, die übertrieb. Tagelange Exzesse der Vorratswirtschaft, die Herdstelle in der mit Wasserdampf gefüllten Wirtschaftsküche, davor die raschen Umrisse der vertrauten Gestalten. Auf den großen Flammen standen die Einkochapparaturen, die mit den über den Deckeln wie Antennen hervorstehenden Thermometern wirkten wie Raumschiffe kurz vor dem Start. Daß diese Raketen nicht abhoben, wurde von meinem Platz, von meiner Leitzentrale am Küchentisch aus, eher kritisch beurteilt, ihre Explosion schien unmittelbar bevorzustehen. In, wie es hieß, „guten Jahren“ gab es eine Flut, die uns vom Garten her überschwemmte. „Das ist zuviel“, höre ich noch oder ein „Ich kann nicht mehr“, ein Stöhnen aus dem Gewölbe herauf, wo sich das Eingeweckte stapelte, nicht mehr nur in den Regalen, auch in den Gängen und auf der Steintreppe, die direkt von der Küche nach unten in die Kellerräume führte. Von Beginn an schien es unvorstellbar, all diese Früchte jemals zu essen. Aber aufzugeben, etwas dem Verfall preiszugeben, das kam nicht in Frage. Im Gegenteil, hektisch wurden zusätzliche Gläser, Gummis und Spangen besorgt und schließlich, Tage später, war der Ansturm endlich aufgefangen und verteilt in die Ankergläser dieses Jahrgangs, deren Exemplare aufgrund ihrer Unzahl noch Jahrzehnte später auftauchen würden in den Winkeln der Regale, das Obst mit einer dünnen, kreideweißen Kruste überzogen, von der gesagt wurde, das sei kein Schimmel und für das Essen also kein Hindernis. Was ich dabei wirklich glaubte, fand ich später in dem Kellergedicht „down there“ von W.H. Auden:
verkrustet mit Jahren von schlatzigem Schleim, ein Hort vielleicht
von Kriechtieren oder einem Gespenst
Nur im Kontext der Kriegserfahrung und der mit ihr verbundenen Ängste konnte begründet sein, daß meine Großmutter auch nach dieser Invasion und noch in ihrer Erschöpfung das Wort von einer dankbaren Frucht im Munde führte. Nein, keine vergleichbare Not war meinem Schreiben vorausgegangen. Und nein, für „dankbar“ hielt ich meine Aufzeichnungen nicht, im Gegenteil. Aber auch in meiner Not war ich spontan auf diese Technik meiner Herkunft verfallen, mit der eine scheinbar aussichtslose Situation mechanisch bewältigt werden konnte. Und warum sollte ich meine Gläser nicht als Gefäße aus dem „Arsenal der technischen Aushilfen“ ansehen, von dem E.A. Poe spricht in seiner „Philosophy of composition“.
Mit Hilfe dieser Gläser hatte ich mein Material nicht nur beiseite geschafft, ich hatte es auch in die Zeit versetzt.
Eine Konserve behält ihren Saft und damit Frische, doch jeder weiß, das Eingeweckte schmeckt anders als die unbehandelte Frucht. Zwischen dieser und dem später irgendwann geöffneten Glas liegt das Verfahren, die Behandlung und vor allem: Zeit. Das Eingeweckte schmeckt nach Zeit. Heute würde ich sagen, das ist das Beste am Gedicht, wenn man es vor sich hin spricht und es schmeckt nach Zeit. Die Arbeit am Gedicht entspricht einer Investition von Zeit, im eigentlichen Sinne des Wortes. Das Ergebnis ist die Zeitkraft des Gedichts, die wiederum für seine Bildkraft entscheidend ist. Dabei geht es nicht um eine bestimmte Zeitform, sein Faszinosum ist, daß Zeit vergeht. Für meine Arbeit am Gedicht bedeutet das zum Beispiel, zu suchen nach einer Vergangenheit genau des Moments, in dem das Gedicht erstmals aufschien, dem Moment seines allerersten Beginns. Mit diesem besonderen, nicht paraphrasierbaren Moment umzugehen ist nicht einfach: Einerseits muß er bewahrt werden. Gelingt mir das, scheint er als eine Art Kindgestalt des Gedichts auch in seiner letzten Fassung noch unverletzt vor – trotz der inzwischen mühsamen und nervenden Arbeit bezieht das fertige Gedicht gerade von dort einen wesentlichen Teil seiner Kraft. Andererseits, wie gesagt, die vertikale Arbeit, das Entfalten der Zeitschichten, in die dieser Gedichtkern eingelagert ist, die Suche nach dem Verlauf der Linien seines Magnetfelds durch Geschichte, Biographie oder Technik.
Wenn ich heute zurückdenke an das Glücksgefühl, das ich empfand beim Kleinschneiden meiner Manuskripte, sehe ich manches klarer. Abgesehen von der Befriedigung, die allein das Aggressive, das rein Destruktive meiner Handlung mitbrachte, mußte es auf dem Boden meiner Verzweiflung eine unbestimmte Erwartung gegeben haben – die Annahme, daß das, was ich tat, nicht nur die Gegenwart befreie, sondern auch Zukunft herstelle. Ich verlegte mein Material auf ein „ideales Jetzt“ in der Zukunft, eine kommende Gegenwart mit wunderbaren Schreib-Augenblicken, die dieses Material hervorrufen würde, wenn ich ihm dann neu begegnen könnte – Momente des Erwachens, jenes Zugriffs vor dem Begriff, den das Gedicht braucht, um Gedicht zu sein: in den Gläsern steckten die Phantasien einer Zukunft meines Schreibens.
Ankergläser – in mancher Hinsicht scheint hier das Gegenteil von einer Flaschenpost vorzuliegen. Mit diesem Wort hatte Paul Celan vor sechsundvierzig Jahren anläßlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises eine Möglichkeit seines Gedichts umschrieben. Ankergläser und Flaschenpost: beides Gefäße im Wortfeld des Maritimen, doch denkbar verschieden sind ihre Bewegungsabläufe, ihr Ort und ihre Geschichte. Im Umfeld der Flaschenpost eine Verlorenheit, ein Verschollensein auf beiden Seiten, sowohl Absender als auch Empfänger sind davon betroffen.
Der Zweifel über den Adressaten, über die Berechtigung eines Denkens vom Adressaten überhaupt, und die diesen Zweifel mehr oder weniger belagernde Hoffnung auf eine bestimmte, dem Gedicht und seiner Sprache nachfolgende Wirkung – dieses Thema scheint mir heute weit ins Schreiben selbst zurückgenommen, als ein Bestandteil der Selbstreflexion innerhalb der Schreibarbeit. Der Zweifel: vom Autor wird er nicht mehr angetragen, von seiner Seite gibt es kaum Anlaß für einen außerliterarischen Umgang mit diesem schwierigen Thema. Wenn ich heute schreibe, mich äußere, kann ich von vornherein nicht mehr der selbstverständliche Sprecher einer Botschaft verbunden mit der Annahme eines Publikums sein. Eine endgültige Verschiebung der Prädisposition, die nicht nur auf das Verhalten des Autors Einfluß hat, sondern auch auf seinen Text. Flaschenpost und Ankergläser – statt allgemein vom „Autor“ zu sprechen, bliebe ich besser bei den Gefäßen, denn nur auf den ersten Blick dominiert die Differenz. Mit beiden Gefäßen wird Zeit gewonnen, wird auf Zeit gesetzt. Das Ankerglas mit den Fragmenten – vielleicht kann es hier probeweise für eine Verschiebung der Verheißung angesehen werden, die im Bild von der Flaschenpost unterwegs ist. Oder anders gesagt: als Flaschenpost waren diese Ankergläser in meinem eigenen Schreiben unterwegs. Beide Gefäße verwandeln ein Scheitern in der Gegenwart mittels alter Technik in eine Hoffnung auf die Zukunft. Und auf diese Weise wurde doch auch die Gegenwart erträglich, so konnte die Arbeit weitergehen, so konnte es schließlich auch mit mir weitergehen. Sicher lag im Zerschneiden und Einwecken meiner Manuskripte (freilich ohne abzukochen) ein Wunschdenken im Umgang mit der Sprache, ihre Rückführung auf den Status des Materials, eines poetischen Rohstoffs, sie, wenn das möglich wäre, zu behandeln wie eine Art natürliche Substanz. Auf den ersten Blick macht das Hantieren mit der Schere einen rabiaten Eindruck, aber ich zerschnitt nur Struktur, und ich beschädigte dabei kein einziges Wort. Den gesamten Vorgang sehe ich heute eher als einen Akt der Schonung, der Vorsicht, auch im Sinne des Vorrats. Aber das Einwecken steht nicht nur für den Wunsch nach Schonung und einem substantiellen Zustand der Sprache, sondern auch nach einem besonderen Ort ihrer Behausung.
Als Kind hatte ich jeden Tag nach der Schule den Ofen zu heizen. Ofen – Asche – Kübel – Keller – Kohlen – Ofen: das war meine nachmittägliche Umlaufbahn. Dabei konnte es eine Stunde dauern, bis ich aus dem Keller wieder auftauchte. Betäubend süßlich lag ein Totemausgeruch in der Luft, und in den Ecken schimmerte bläulich Zyankali. Der Keller versetzte mich in Traumzustände, Zuständige völliger Abwesenheit und Entspannung. Fast bewegungslos stand ich mit der Kerze in der Hand (das elektrische Licht war defekt) und beleuchtete, besser gesagt, ich belauschte die Regale. Hinter mir an der Wand hing die riesige Grundplatte einer Modelleisenbahn, neben mir das Vertiko meiner Urgroßmutter mit vom Zündeln schwarzen Stellen und vor mir die Reihen der Konserven, eine Sammlung von musealem Ausmaß. Die Lektüre der Gläser: ich las die sauber beschrifteten Pflasterstücke, die Handschrift meiner Mutter, meiner Großmutter, selten fremde Schrift und Jahreszahlen, die in meinem kindlichen Verständnis unvorstellbar weit in der Vergangenheit lagen. Vielleicht war das meine erste Lektüre über das Vergehen von Zeit. Es gab eine Stille, die von diesen verstaubten Gläsern auszugehen schien und die ich mit einer Art Geplapper, mit etwas Stimme, einem Selbstgespräch beantwortete. Eine Art Urszene vielleicht in der Geschichte der eigenen Stimme. Die stumme Gegenwart dieser Konserven, ihre organische Starre, schlug etwas an in mir, und ich „gab Laut“. Jedenfalls so lange, bis ich mit meiner Kerze, meinem Leselicht, bei den unteren Regalböden angekommen war. Dort begannen die Gläser mit Fleisch und Wurst, Archive von Leber, Blut und Fett. Wir schlachteten noch selbst, jedes Jahr, auf dem Hof meines Großvaters. Schlachtfest hieß: das Kind hält die Schlegel des panischen Tiers zwischen den Pfosten, während der Fleischer am Schädel das Bolzenschußgerät ansetzt. Oder: das Kind soll mitkommen und den Darm des Tiers halten beim Ausspülen über dem Ausguß, das Kind muß sich übergeben. Es bekommt seinen ersten Wodka eingeschenkt, der es an die hinter ihm befindliche Wand der Waschküche wirft. So gibt es etwas zu lachen und zum Trost die Hälfte des begehrten Gehirns, dem magische Kräfte nachgesagt werden und dessen kleine, ölige Masse bereits in der Pfanne brät. Jedes Jahr Schlachtfest, das hieß, jedes Jahr neue Gläser mit Blutwurst, Leberwurst, Gehacktem – eine ganze Kindheit und Jugend war das mein Brotbelag. Hausschlachtenes war kostbar und begehrt, natürlich kein Vergleich etwa mit Woyzecks Bohnen, aber auch in meinem Fall lag in der Einseitigkeit das Problem. Wenn man ist, was man ißt, wie es immer hieß, wenn ich diesem morphologischen Kurzschluß Glauben schenkte, mußte ich dann nicht dort vor den Regalen bei jedem Kohlenholen den Gedanken abwehren, meiner Zukunft direkt ins Auge zu sehen, genau genommen, mich selbst zu erblicken im Glas? Von meiner Schreibkrise getrieben, war ich offenbar bereit gewesen, einen nicht geringen körperlichen Widerstand zu überwinden, den das Denken an Eingewecktes mit sich bringen konnte. Sich mit diesen Gläsern nicht nur verproviantiert, sondern im eigentlichen Sinne präpariert zu sehen, ich meine, sich selbst zu sehen in dem, was noch kommen sollte, das blieb untergründig die entscheidende Erfahrung.
Alles hängt zusammen: eine Auffassung vom Gehen durch die Zeit und von der Zeitkraft des Gedichts. Flaschenpost, Ankerglas – Gefäße zur Gewinnung von Zeit. Der Wunsch nach einem substantiellen Zustand der Sprache und schließlich nach einem Ort ihrer Behausung und Betrachtung, letztlich nach einem Ort für die Entstehung des Gedichts, erdnah, still, gefüllt mit Abwesenheit. Und wenn ich die Notizbücher dieser Zeit durchsehe, wird deutlich: meine fixe Idee vom Einwecken als literarischer Technik geht pass mit der Entdeckung von Stoffen aus der Kindheit, also der eigentlichen Zeit des Einweckens, des Archivierens später zeitlos erscheinender Augenblicke für das Gedicht. In diesem Sinne markiert der Punkt, an dem ich damals nicht mehr weiterkam und an Schere und Schneiden dachte, einen Umbruch, eine Neuorientierung im eigenen Schreiben.
Am Ende noch einmal zu den Gläsern. Manchmal nahm ich sie zur Hand, ich schüttelte sie und konnte durch das Glas einzelne Worte erkennen. Meist standen die Gläser zwischen den Notizbüchern, zuletzt hinter den Büchern im Regal. Etwas geschah mit der Zeit. Mit dem Schreiben war es schließlich weitergegangen, und die Verheißung, die in diesen Konserven eingeweckt war oder die ich in ihnen gesehen hatte, schien mir inzwischen zweifelhaft. Sicher, ich hatte manchmal daran gedacht, aber dann immer wieder vom Öffnen der Behälter Abstand genommen. Unmerklich hatte sich ihre Bedeutung in meinen Augen verkehrt. Ich mußte mir eingestehen, daß ich inzwischen statt Verheißung eine Art Bedrohung empfand: Gefäße, in denen nicht mehr und nicht weniger als eine alte, schwerwiegende Schreibkrise eingeweckt war. Etwas, das man unbedingt verschlossen halten sollte, um es besser als ein Symbol der Bewältigung anzusehen. Aber wie so oft gewannen Neugier und Leichtsinn die Oberhand, und sieben Jahre später öffnete ich die Gläser, stopfte jedoch vorsichtshalber ihren Inhalt zunächst unbesehen in verschiedene Briefumschläge und nahm diese in mein Gepäck nach Los Angeles, wo ich den letzten Sommer verbrachte. Kurz gesagt: das Ergebnis war ernüchternd. Im ausgestreuten Papier auf meinem Tisch unter einem Fenster mit Ausblick auf die wunderbare Bucht von Santa Monica fand sich, von Ausnahmen abgesehen, nichts wirklich Vergessenes. Fast jedes Wort, jede Verbindung war so oder ähnlich im Verlauf der letzten Jahre in eines meiner Gedichte eingeflossen. Ich hatte eingeweckt, beiseite geschafft, aber nichts war dem Schreiben verlorengegangen, nichts hatte ihm gefehlt, außer Zeit. Im Ankerglas hatte alles seine Zeit gehabt, die Worte die Zeit bis zum Auftauchen ihres Textes und ich, um ein Zutrauen zu finden zu mir und dieser Sprache.
PS: In einem meiner Gedichte fragt sich ein Du, ob es nicht selbst das Eingeweckte ist, sagen wir, das von der Zeit Umschlossene, das Gedicht heißt „schlachten, träumen“.
Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005
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