PHYSIKALISCHE OPTIK I
unter den fingern zerfällt der abend
wie verbranntes papier · und der himmel zu asche
die hand die schreibt ist immer zu langsam
auf diesem kohlepapier sind die buchstaben
erst zu erkennen wenn man sie über eine flamme
hält · und die sonne ist ein volta’sches
element für die bogenlampe des lichts
das in dieser kälte die überschreibungen
des regens zum vorschein bringt · die kalligramme
auf dem löschblatt der nacht und abschreibübungen
aus dem handgelenk · so kommt ein gedicht
zustande · doch an den rand der maske
einer seite malt man mit wenigen strichen
die bewegungen eines pendels · so ein nacktes herz
gemessen an der selten seltsamen anziehung
der zeilen · auf ihrem steten rückzug erdwärts
strahlen scheinwerfer die bäume an stamm um stamm
damit sie noch morgens dieselben haben
schloß rosenau, 12.8.96
Raoul Schrott
Das Lyrikertreffen 1997 stellt Autorinnen und Autoren des skandinavischen, angelsächsischen und deutschen Sprachbereiches vor. In Lesungen und Diskussionen wird die innere Vielfalt dieser Literaturen vermittelt und reflektiert werden, darüber hinaus die Problematik des literarischen Übersetzens. Sie kann in ihrer ganzen Bandbreite wahrgenommen werden: von der Interlinearfassung, die das Original so wortgetreu wie möglich wiedergibt, bis zur freien Anverwandlung durch den Dichter, der das übersetzte Gedicht zum integralen Bestandteil seines eigenen Werkes macht. Vor diesem Hintergrund erhält der Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie sein Gewicht. Mit ihm werden im Rahmen des Lyrikertreffens der polnische Dichter Zbigniew Herbert und der Übersetzer Klaus Staemmler ausgezeichnet. Wie schon die Preisträger der Vorjahre rufen sie in Erinnerung, daß Sprachkultur sowohl innerhalb einer Sprache sich entwickelt (und auf dem Spiel steht) als auch zwischen den Sprachen.
(…)
Hermann Wallmann, Susanne Schulte und Norbert Wehr, Vorwort
Preis für Internationale Poesie beim Internationalen Lyrikertreffen Münster 1997
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