ADELBERT VON CHAMISSO
Ein russisches Lied
Der Rabe fliegt zum Raben dort,
Der Rabe krächzt zu dem Raben das Wort:
Rabe, mein Rabe, wo finden wir
Heut unser Mahl? wer sorgte dafür?
Der Rabe dem Raben die Antwort schreit:
Ich weiß ein Mahl für uns bereit;
Unterm Unglücksbaum auf dem freien Feld
Liegt erschlagen ein guter Held.
Durch wen? weßhalb? – Das weiß allein,
Der sah’s mit an, der Falke sein,
Und seine schwarze Stute zumal,
Auch seine Hausfrau, sein junges Gemahl.
Der Falke flog hinaus in den Wald;
Auf die Stute schwang der Feind sich bald;
Die Hausfrau harrt, die in Lust erbebt,
Deß nicht, der starb, nein, deß, der lebt.
1838
Ein Beispiel für ein Gedicht-Motiv, das zwei europäische Länder und Kulturräume durchwandert, bis es der aus Frankreich emigrierte Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso (1781–1838) in seinem Todesjahr ins Deutsche bringt: Die ursprünglich schottische Ballade von den zwei Raben wird zum russischen Lied und schließlich zur deutschen Volkssage.
Die alte schottische Ballade „The Twa Corbies“, von Walter Scott Ende des 18. Jahrhunderts neu interpretiert, kürzte der russische Poet Alexander Puschkin nach einer französischen Übersetzung 1828 um die Hälfte – am Ende der Nachdichtungs-Kette steht die 1838 niedergeschriebene Version Adelbert von Chamissos. Bei ihm schrumpft die mittelalterliche „Herrin“, die noch bei Puschkin auftritt, zur bloßen „Hausfrau“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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