Adolf Endlers Gedicht „Postkarte an M. S. in Dinslaken“

ADOLF ENDLER

Postkarte an M. S. in Dinslaken

Unter dem Lampenschirm aus Menschenhaut
Haben sie singend gesessen
Dessen erinnern sie sich nicht mehr
Aber daß ihnen ein Pole die Armbanduhr geklaut
Hat ein Tommy die Geldbörse leer
Das werden sie nie das werden sie nie
Das werden sie niemals vergessen

1957

aus: Adolf Endler: Krächenüberkrächzte Rolltreppe. Wallstein Verlag, Göttingen 2007

 

Konnotation

Die Bewunderer des Dichters Adolf Endler (1930-2009) zeichnen ihr Idol unentwegt als schelmischen Anarchisten, der in seinen Gedichten der Gesellschaft „immer wahnsinnigere Fratzen“ schneidet. Und tatsächlich hat sich der „melancholisch-pathetisch-cholerisch-apathische“ Autor (Endler über Endler) sehr oft als kauziger Maskenkünstler präsentiert, der die Selbstlegitimierungsversuche des „realen Sozialismus“ ebenso ironisch aushebelte wie den nationalen Kitsch des wiedervereinigten Deutschland.
In Endlers 1957 entstandenem Gedicht zeigt sich die schwarze Seite des Skurrilen. Denn hier spricht meist ein poetischer Sarkast, der die Untergänge und Heillosigkeiten der Dichterexistenz und die Hinfälligkeit des Menschengeschlechts besingt. In einer bitteren lyrischen „Postkarte“, die wohl an einen namentlich nicht näher bezeichneten Dichterkollegen, zugleich aber an die Generation der Kriegsteilnehmer gerichtet ist, markiert Endler lakonisch das rassistische Bewusstsein der „willigen Vollstrecker“ (D. Goldhagen) des faschistischen Größenwahns, die sich nach 1945 auf ihr sehr lückenhaftes Gedächtnis beriefen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00