ALBERT EHRENSTEIN
Leid
Wie bin ich vorgespannt
den Kohlenwagen meiner Trauer!
Widrig wie eine Spinne
bekriecht mich die Zeit.
Fällt mein Haar,
ergraut mein Haupt zum Feld,
darüber der letzte
Schnitter sichelt.
Schlaf umdunkelt mein Gebein.
Im Traum schon starb ich,
Gras schoß aus meinem Schädel,
aus schwarzer Erde war mein Kopf.
aus: Albert Ehrenstein: Werke Bd. IV/1: Gedichte, Klaus Boer Verlag 1997
Bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung im Mai 1933 gingen auch die Werke des Expressionisten Albert Ehrenstein (1886–1950) in Flammen auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Wiener Jude und engagierte Pazifist das „Lande der Teutonenbande“ schon verlassen und war auf abenteuerlichen Umwegen in die Schweiz gelangt; später emigrierte er in die USA. Seine fatalistische Klage über die Sinnlosigkeit des Daseins findet sich bereits in seinem lyrischen Debütbuch Die weiße Zeit von 1914.
Im Blick auf solche todesverfallenen Zeilen hat Kurt Pinthus, der Mentor des literarischen Expressionismus, über Ehrenstein gesagt, er habe die „leidvollsten Verse der deutschen Literatur“ geschrieben. Das menschliche Leben ist in Ehrensteins Gedichten vollständig dem Verderben geweiht und siecht in unaufhaltsamer Fäulnis dahin. Der Dichter litt seit 1916 unter der unerfüllten Liebe zu der Schauspielerin Elisabeth Bergner. Nach bitteren Jahren im Exil starb er 1950 in einem Armenhospital in New York.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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