ALFRED LICHTENSTEIN
Abschied
Vorm Sterben mache ich noch mein Gedicht.
Still, Kameraden, stört mich nicht.
Wir ziehn zum Krieg. Der Tod ist unser Kitt.
O, heulte mir doch die Geliebte nit.
Was liegt an mir. Ich gehe gerne ein.
Die Mutter weint. Man muß aus Eisen sein.
Die Sonne fällt zum Horizont hinab.
Bald wirft man mich ins milde Massengrab.
Am Himmel brennt das brave Abendrot.
Vielleicht bin ich in dreizehn Tagen tot.
1914
Im August 1914 beteiligte sich ein Großteil der deutschen literarischen Intelligenz an der „geistigen Mobilmachung“ für den Ersten Weltkrieg. Im Sog der kollektiven Rauschbereitschaft standen auch „die Herzen der Dichter in Flammen“, wie der kriegsbegeisterte Thomas Mann damals schrieb. Dagegen demontierte der expressionistische Dichter Alfred Lichtenstein (1889–1914) in hellsichtigem Spott den Mythos und Opfermut und Heldentod.
Lichtenstein arbeitet virtuos mit einer Sprache der Desillusionierung: In lakonisch gereihten Paarreimen wird jeder Anflug von Pathos und hohem Ton verscheucht. Das Ich, das hier spricht, weiß um die Unentrinnbarkeit des Gemetzels. Das Entstehungsdatum des Gedichts ist verbürgt, der Autor hat es im Untertitel preisgegeben: „Kurz vor dem Aufbruch zum Kriegsschauplatz. Für Peter Scher“. Am 8. August 1914 wurde Lichtenstein an die Front transportiert. Die Prognose der letzten Gedichtzeile war ziemlich genau: Am 25. September 1914 starb er in Vermandovillers an der „Westfront“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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