ALFRED LICHTENSTEIN
Die Wehmut
Ich hab’ einen Haß, einen grimmigen Haß
Und weiß doch selbst nicht recht auf was.
Ich bin so elend, so träge und faul
Wie’n abgeschundner Ackergaul.
Ich hab’ einen bösen Zug im Gesicht.
Mir ist niemand Freund, ich will es auch nicht.
Ich hab’ eine Wut auf die ganze Welt.
In der mir nicht mal mehr das Laster gefällt.
Und schimpfe und fluche, ich oller Tor
Und komme mir sehr dämonisch vor.
1910/11
Zu den frühesten Gedichten des ironischen Expressionisten Alfred Lichtenstein (1889–1914), die 1910/11 entstanden, gehört diese Artikulation eines universellen Welt-Hasses. Das Ich, das hier seine recht unbestimmte Hasserklärung präsentiert, strebt jedoch nicht nach grimmiger Selbsterhöhung, sondern eher nach der Sabotage der eigenen Größenphantasie.
Es ist ein Wesensmerkmal von Lichtensteins Gedichten, dass sie an keiner Stelle die Exaltationen oder Provokationen, die seine lyrischen Protagonisten als Botschaft in die Welt hinausposaunen wollen, als pathetisches Programm ernst nehmen, sondern stets mit einem ironischen Vorbehalt versehen. Das hasserfüllte Ich entpuppt sich hier entsprechend als „oller Tor“ und als „abgeschundener Ackergaul“, der einen recht kläglichen Eindruck hinterlässt. Das Hassgeschrei vieler Poeten fand im August 1914 ein Ventil, als sie sich in Kriegsbegeisterung verrannten. Lichtenstein blieb skeptisch und starb schon wenige Wochen nach Kriegsausbruch als Soldat an der Westfront.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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