ALFRED LICHTENSTEIN
Doch kommt ein Krieg
Doch kommt ein Krieg. Zu lange war schon Frieden.
Dann ist der Spaß vorbei. Trompeten kreischen
Dir tief ins Herz. Und alle Nächte brennen.
Du frierst in Zeiten. Dir ist heiß. Du hungerst.
Ertrinkst. Zerknallst. Verblutest. Äcker röcheln.
Kirchtürme stürzen. Fernen sind in Flammen.
Die Winde zucken. Große Städte krachen.
Am Horizont steht der Kanonendonner.
Rings aus den Hügeln steigt ein weißer Dampf.
Und dir zu Häupten platzen die Granaten.
1914
Lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs träumte die literarische Intelligenz vom großen Sturm des Krieges, der die behagliche Bürgerlichkeit und die lähmende Langeweile hinwegfegen sollte. Alfred Lichtenstein (1887–1914), der Dichter des Frühexpressionismus, war da hellsichtiger. Seine Erwartung des Krieges ist durchtränkt von katastrophischer Angstlust, gemischt aus Faszination und Abscheu.
Dieses Gedicht, das Lichtenstein drei Wochen vor der Mobilmachung 1914 schrieb, ist das letzte in einer Folge von drei Texten aus seiner Zeit als Rekrut. Die kühle ironische Distanz, mit der er sonst in seinen Kriegs-Gedichten das Geschehen kommentiert, weicht hier einer Folge gehetzter, gedrängter Bilder. Alles steht im Zeichen der Simultaneität. Der Dichter wusste, dass nicht nur „der Spaß“, sondern auch das Leben „vorbei“ war: Wenige Wochen nach der Niederschrift des Gedichts fiel er an der Somme.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Schreibe einen Kommentar