ALFRED LICHTENSTEIN
Nebel
Ein Nebel hat die Welt so weich zerstört.
Blutlose Bäume lösen sich in Rauch.
Und Schatten schweben, wo man Schreie hört.
Brennende Biester schwinden hin wie Hauch.
Gefangne Fliegen sind die Gaslaternen.
Und jede flackert, dass sie noch entrinne.
Doch seitlich lauert glimmend hoch in Fernen
Der giftge Mond, die fette Nebelspinne.
Wir aber, die, verrucht, zum Tode taugen,
Zerschreiten knirschend diese wüste Pracht.
Und stechen stumm die weißen Elendsaugen
Wie Spieße in die aufgeschwollne Nacht.
1913
Im epochalen „Abendlied“ des Matthias Claudius (1740–1815) konnte 1771 noch „der weiße Nebel wunderbar“ aus den Wiesen aufsteigen. 150 Jahre nach Claudius vollzog der ironische Expressionist Alfred Lichtenstein (1889–1914) einen radikalen Bruch mit der poetischen Tradition. Sein „Nebel“ ist ein meteorologisches Phänomen voll zerstörerischer Energie. In diesem Nebel verbergen sich Dämonen und bösartige „Biester“.
Das Gedicht ist 1913 entstanden, als die alte Welt des deutschen Kaiserreichs schon zu zerbröckeln begann. Bei Lichtenstein findet sich das Vorgefühl des gesellschaftlichen und individuellen Untergangs besonders ausgeprägt in seinen lyrischen Schreckensvisionen. Feindseliger kann eine Beschreibung einer Natur- oder Stadtlandschaft kaum ausfallen. Die letzte Strophe des Gedichts steigert dann noch die Destruktions-Metaphorik. Denn die dem Tod geweihten Subjekte bahnen sich nun ihrerseits mit aggressiver Entschlossenheit ihren Weg durch die „wüste Pracht“ des Nebels.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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