ALFRED LICHTENSTEIN
Sommerfrische
Der Himmel ist wie eine blaue Qualle.
Und rings sind Felder, grüne Wiesenhügel –
Friedliche Welt, du große Mausefalle,
Entkäm ich endlich dir… O hätt ich Flügel –
Man würfelt. Säuft. Man schwatzt von Zukunftsstaaten.
Ein jeder übt behaglich seine Schnauze.
Die Erde ist ein fetter Sonntagsbraten,
Hübsch eingetunkt in süße Sonnensauce.
Wär doch ein Wind… zerriß mit Eisenklauen
Die sanfte Welt. Das würde mich ergetzen.
Wär doch ein Sturm… der müßt den schönen blauen
Ewigen Himmel tausendfach zerfetzen.
1913
Weltekel, Daseinsverachtung und Todessehnsucht gehen bei dem ironischen Frühexpressionisten Alfred Lichtenstein (1889–1914) ein makabres Bündnis ein. Jede Zeile dieses lapidaren Misstrauensvotums gegen das Leben ist getränkt mit sarkastischem Spott gegen alle, die der „großen Mausefalle“ Welt noch irgendeinen Sinn abgewinnen wollen. In seinem 1913 entstandenen Gedicht hat der Dichter die epochale Erschütterung des Weltkriegs schon vorweggenommen.
Nichts ist dem Dichter so zuwider wie die Behaglichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, in der man über die zukünftige Einrichtung der Welt räsoniert und nur Geschwätz hervorbringt. Der Verächter des Bürgerlichen reagiert darauf mit der Anrufung der apokalyptischen Gewalt, die die idyllischen Reize der „Sommerfrische“ wie auch den falschen Frieden der diplomatisch gezähmten Weltordnung hinwegfegt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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