ANDREAS REIMANN
Befreiung
Wer nichts will, muß es wollen. Und mitunter
gleich muscheln öffnen dann die sinne sich.
Ein wunder ist es zwischen all dem plunder!
Und wie ein kind erkennt als wesentlich
den kleinsten käfer, das geringste blatt,
wird ihm bewußt: wie soll mit neuem maß
er messen das, was er vergessen hat?
Und wie, das immer wiederkehrt, das gras?
Wer wie der zeiger einer sonnenuhr
das licht ausstehet, statt von schein zu schein
ihm nachzujagen wie dem traum vom gold,
den spinnt es ein mit seiner honigspur
dem bernstein-bunt. Er wird gefesselt sein.
Und frei, so frei, wie er es einst gewollt.
2005
aus: Andreas Reimann: Der trojanische Pegasus. Gedichte 1957–2004. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2007
Im Jahr 1965 war der damals 19jährige Andreas Reimann (geb. 1946) als hochbegabter „Benjamin“ der „Sächsischen Dichterschule“ ans Leipziger Literatur-Institut gekommen. Da er aber eine gewisse Renitenz gegenüber den literaturpolitischen Dogmen der SED erkennen ließ, war seine Karriere schon am Ende, ehe sie richtig beginnen konnte. Reimann reagierte mit Beharrungstrotz: Von seinen ersten Gedichten mit Kunstanspruch bis zu den heutigen weit ausgreifenden Oden und Elegien hat er an seiner Passion für den hymnischen Ton und die klassische Formenstrenge festgehalten.
In schönen Paradoxien („Wer nichts will, muß es wollen“) und Gleichnissen beschwören Reimanns Blankverse die Öffnung der Sinne, das genaue Anschauen der Phänomene und die Befreiung von allen Fesseln durch entschlossenen Lebensgenuss. Ohne dass an irgendeiner Stelle des 2005 entstandenen Gedichts politische oder auch autobiografische Motive direkt expliziert werden, ist doch spürbar, dass hier von einem Subjekt die Rede ist, dass nach langer Unruhe und langer Suche nach Utopien die ersehnte Freiheit erreicht hat.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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