Anna Jonas’ Gedicht „Mehr oder weniger als was ich wollte“

ANNA JONAS

Mehr oder weniger als was ich wollte

ich habe ein Dach über dem Kopf
Schuhe an den Füßen
die Butter fürs Brot
ich habe einen Tisch
einen Stuhl und ein Bett
ich habe einen toten Vater
eine tote Mutter
ich werde einen toten Bruder haben
ich habe es gut gehabt
sehr gut gehabt
nicht so gut gehabt
ich habe Zeit gehabt
kaum Zeit gehabt
viel Zeit gehabt
ich habe ein Leben gehabt
ich habe einen Mann
der mich liebt
gehabt
habe ich gehabt
was ich gehabt habe
was habe ich gehabt
was ich aufgeschrieben habe
ich habe mehr gehabt
weniger gehabt
ach was gehabt

1981

aus: Anna Jonas: Nichts mehr an seinem Platz. Paul List Verlag, München 1981

 

Konnotation

Das Erstellen einer vorläufigen Lebensbilanz im Gedicht kann auch bittere Befunde zeitigen. Die Inventur des eigenen Daseins, wie sie hier das lyrische Ich der Berliner Schriftstellerin Anna Jonas (geb. 1944) vorführt, mündet jedenfalls in die Summierung von Verlusten. Die alltägliche Reproduktion des Ich ist gesichert, aber beim Blick darüber hinaus scheint alles zu zerfallen.
Der Text zählt lakonisch die Lebenspraxis und Lebensziele des lyrischen Subjekts auf. Rasch durchkreuzt der Tod – der Eltern und des Bruders – die Benennung positiver Aussichten. Schließlich verstrickt sich das Ich des 1981 geschriebenen Gedichts in ein minimalistisches Spiel mit der Konjugation des Verbs „haben“. Am Ende steht nicht nur ein prinzipieller Zweifel am Gelingen des Lebens, sondern auch an der Verlässlichkeit der Sprache.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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