Archilochos’ Gedicht „Dieses begehren nach ihren armen…“

ARCHILOCHOS (nach Raoul Schrott)

Dieses begehren nach ihren armen
ihrer umarmung wie eine schlange
die sich unter dem herz windet daß
mir das blut stockt • schwarz rinnt
es mir über die augen als würde sie
durch meinen hals sich beißen und
ihre zunge meine sein –

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaelend
lieg ich da im bett im dunkeln und
die gier gräbt sich in den bauch ein
und ins hirn • ein einziger schmerz
wie ein nagel durch meine knochen
daß ich mich nur krümm und wind

um 580 v. Chr.

 

Konnotation

Die Ehre, der erste Dichter persönlicher Gefühle zu sein, wird gemeinhin dem griechischen Dichter Archilochos zuteil. Der vermutlich um 600 v. Chr. auf der Insel Paras Geborene soll zeit seines Lebens arm gewesen sein, der Sohn einer Sklavin. Doch, so erzählt die Mythe, als der Junge im Auftrag seines Vaters eine Kuh zum Markt brachte, begegneten ihm drei Frauen, die auf die ihnen von Archilochos entgegen gerufenen, zotigen Verse, unerwartet reagierten: Sie, die drei Musen, beglücken den jungen Mann mit der unschätzbaren Gabe der Dichtkunst.
Die Leidenschaft, buchstäblicher Liebesschmerz lässt das Subjekt des Gedichts sich krümmen und winden. Wie er sich in diesem Fragment zu verstehen gibt, ist der Dichter ein von unbändigen Gefühlen Besessener. Dieses Gefühl erfüllt den Körper mit Schwärze, lässt das Blut stocken. Man darf an die antike Säftelehre denken: dort stand die schwarze Galle für die Melancholie, die einen Erwachsenen in Hilflosigkeit stürzen konnte und ihn passiv werden ließ.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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