ÀXEL SANJOSÉ
Wirsing
Soviel Wirsing auf der Welt,
soviel Vorstellung und Wille,
soviel Wahn, soviel Promille –
alles wegen Macht und Geld.
Ach, es ist ein weites Feld:
Soviel Wahl und soviel Wehe
soviel Wespen, soviel Ehe –
nichts dabei, das ewig hält.
Wer hat alles das bestellt?
Soviel Wermut, Waldorf, Wiener,
Widder, Wagen, Kleinverdiener –
soviel Wirsing auf der Welt.
2003
aus: Titanic, Heft 10, 2003
Ein ursprünglich aus dem Mittelmeerraum stammendes Gemüse tritt als philosophisch gewürzter Hauptakteur eines Gedichts auf? Das mag die Puristen moderner Lyriktheorie irritieren. Die Elegie auf einen Wirsing scheint en passant eine große Wehklage über den Zustand der Welt anzubieten. Àxel Sanjosé (geb. 1960), der Autor dieser sehr komischen Apotheose auf ein Gemüse und auf den Buchstaben „W“, kennt die Resonanzen der Schwermut aus der Lyrikgeschichte – und schmuggelt sie ausgerechnet in ein Nonsens-Gedicht ein.
In seiner „ernsthaften“ Lyrik, nachzulesen etwa in seinem Band Gelegentlich Krähen (2004), bevorzugt Sanjosé einen strengen sprachskeptischen Lakonismus. Aber er experimentiert auch gern mit den Tonlagen der Komik. So veröffentlicht er im Satire-Blatt Titanic heiter gestimmte „Lebensmittellyrik“, die ihre Unernsthaftigkeit vergnügt zur Schau stellt. Dort erschien im Oktoberheft 2003 erstmals das Wirsing-Gedicht. Sanjosé scheut nicht das Bekenntnis, dass die „Nonsens-Lyrik“ auf gleiche Art mit der Sprache umgehe wie ernsthafte Dichtung. „Sie lässt nur eine Dimension weg, die der Tiefe.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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