B.K. Tragelehns Gedicht „Staat und Revolution“

B.K. TRAGELEHN

Staat und Revolution

Jede Köchin müsse den Staat lenken können, schrieb L.
D. h. es müsste eingerichtet werden
Der Staat als Küche die Küche als Staat
Und wenn jede Köchin den Staat lenken kann
Und wenn der Staat eine Küche die Küche ein Staat ist
Fällt der Gegensatz von Küche und Staat
Weg.
Dann wird gekocht und gegessen.

1971/72

aus: B.K. Tragelehn: NÖSPL. Gedichte 1956–1991, Stroemfeld Verlag, Frankfurt a.M.-Basel 1996

 

Konnotation

Die Renitenz des 1936 in Dresden geborenen Schriftstellers und Regisseurs Bernhard K. Tragelehn gegenüber den ideologischen Doktrinen der DDR war folgenreich. Der Meisterschüler Brechts inszenierte 1961 Heiner Müllers Stück Die Umsiedlerin und wurde daraufhin wegen „konterrevolutionärer“ und „antikommunistischer“ Umtriebe aus der SED ausgeschlossen. Auch in seinen Gedichten erprobt Tragelehn seit je die unorthodoxe Lesart marxistischer Denkfiguren.
Um 1971/72 schrieb Tragelehn einen Gedicht-Zyklus, der sich mit den Maximen und „Haltungen“ Lenins, der Galionsfigur der Oktoberrevolution, beschäftigt. Eine berühmte Sentenz aus Lenins 1917 verfasster Schrift Staat und Revolution wird hier in absurd-komischer Weise durchgespielt – mit dem diskreten Hinweis darauf, dass der Mangel an sinnlicher Lebenspraxis in den realsozialistischen Gesellschaften nie behoben wurde.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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