BERTOLT BRECHT
Was ein Kind gesagt bekommt
Der liebe Gott sieht alles.
Man spart für den Fall des Falles.
Die werden nichts, die nichts taugen.
Schmökern ist schlecht für die Augen.
Kohlentragen stärkt die Glieder.
Die schöne Kinderzeit, die kommt nicht wieder.
Man lacht nicht über ein Gebrechen.
Du sollst Erwachsenen nicht widersprechen.
Man greift nicht zuerst in die Schüssel bei Tisch.
Sonntagsspaziergang macht frisch.
Süßigkeiten sind für den Körper nicht nötig.
Kartoffeln sind gesund.
Ein Kind hält den Mund.
1937
aus: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 14, Gedichte 4. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993
Bei der Lektüre dieser problematischen pädagogischen Binsenweisheiten. die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Kindern des Bürgertums als Merksätze verabreicht wurden, gerät man ins Grübeln. Denn Erwachsenensprüche dieser Art, wie sie der große Bertolt Brecht (1898–1956) im Jahr 1937 in einem Kindergedicht bündelte, hat man noch bis ins späte 20. Jahrhundert zum unantastbaren Erziehungsprogramm erhoben.
Obwohl Brecht in seinen Stücken sehr viel Wert auf didaktische Bemerkungen legte, enthält er sich hier jeder Wertung. Tatsächlich genügt es, die meist nur auf einer Pädagogik der permanenten Verbote und der Gewaltandrohung beruhenden Merksätze aneinander zu reihen, um ihre Hohlheit kenntlich zu machen. In jedem Satz ist der erhobene Zeigefinger des strengen Erziehers herauszuhören. Der letzte Vers verdeutlich schließlich, worauf das reaktionäre Erziehungsideal zielt: auf die Unmündigkeit der Kinder.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
Gut gesagt, sowohl von Bertolt Brecht, als auch von Michael Braun. Dank an beide!