BERTOLT BRECHT
Wechsel der Dinge
Und ich war alt, und ich war jung zu Zeiten
War alt am Morgen und am Abend jung
Und war ein Kind, erinnernd Traurigkeiten
Und war ein Greis ohne Erinnerung.
War traurig, wann ich jung war
Bin traurig, nun ich alt
So, wann kann ich mal lustig sein?
Es wäre besser bald.
1955
aus: Bertolt Brecht: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000
Im Medium der Poesie wird das feste Zeitsystem mitunter außer Kraft gesetzt. Jugend und Alter haben in diesen späten Versen Bertolt Brechts (1898–1956) den Platz gewechselt: Das „Kind“ erinnert „Traurigkeiten“, der Greis ist „ohne Erinnerung“, die vertrauten Dimensionen von Jungsein und Altsein werden verschoben.
Die beiden Vierzeiler entstammen beide dem Zyklus „Wechsel der Dinge“, der 1955, ein Jahr vor Brechts Tod, entstanden ist. Die Konstante der Existenz, von der das Ich spricht, ist hier ein tiefes, ungetröstetes Traurigsein, das auch durch die Selbstaufmunterung des Ich zum „Lustigsein“ nicht aufzuheben ist. Es ist eine Trauer, die wohl auch aus der Einsicht in den katastrophischen Verlauf der Geschichte erwachsen sein mag. Der junge Brecht, der die hedonistische Figur des Baal erfand, war für diese Trauer ebenso anfällig wie der alte Brecht, der in den Buckower Elegien seinen Geschichtsoptimismus verloren hatte.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Vielen Dank