CHRISTA WISSKIRCHEN
Die Menschen!
Erstaunlich, wie einer dastehn kann,
an einem Geländer zum Beispiel, etwas erhöht,
und wundert sich über die Menschen.
Die Menschen! sagt er. Wie sie es treiben!
Und schräg nach unten
deutet er mitten ins Merkwürdige. Bis dann
jäh der Nacken zuckt
von einem scharfen Handschlag. Das war
nicht gezielt, doch getroffen.
1991/92
aus: Jahrbuch der Lyrik 9. Hrsg. von Christoph Buchwald u. Robert Gernhardt. Luchterhand Literaturverlag. München/Zürich 1993
Am Anfang jeder Philosophie steht das Staunen, hat Platon, der Mentor der abendländischen Philosophie, behauptet. Auch der poetischen Erkenntnis geht ein Staunen voraus, das sich im Gedicht als Offenbarungserlebnis artikuliert. Von einer solchen kleinen Erleuchtung, die dann aber jäh ernüchtert wird, handelt auch das Gedicht der 1945 geborenen Kinderbuchautorin und Lyrikerin Christa Wißkirchen.
Von seiner erhöhten Beobachterposition aus kann der grüblerische Protagonist des 1991/92 entstandenen Gedichts in stiller Kontemplation den Zustand des Menschengeschlechts begrübeln – bis ihm völlig unerwartet Gewalt widerfährt. Das Gedicht lässt offen woher dieser jähe Einbruch der Gewalt kommt und wie die neue Situation sich entwickelt. Zur Verunsicherung trägt bei, dass die kleine Gewalttat offenbar keine gezielte Aktion ist. Das Gedicht suggeriert jedenfalls einen beunruhigenden Zusammenhang zwischen Menschsein und Gewalt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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