CHRISTIAN MORGENSTERN
Der Papagei
Es war einmal ein Papagei,
der war beim Schöpfungsakt dabei
und lernte gleich am rechten Ort
des ersten Menschen erstes Wort.
Des Menschen erstes Wort war A
und hieß fast alles, was er sah,
z.B. Fisch, z.B. Brot,
z.B. Leben oder Tod.
Erst nach Jahrhunderten voll Schnee
erfand der Mensch zum A das B
und dann das L und dann das Q
und schließlich noch das Z dazu.
Gedachter Papagei indem
ward älter als Methusalem,
bewahrend treu in Brust und Schnabel
die erste menschliche Vokabel.
Zum Schlusse starb auch er am Zips.
Doch heut noch steht sein Bild in Gips,
geschmückt mit einem grünen A,
im Staatsschatz zu Ekbatana.
um 1905
Bei einem größeren Leserkreis wurde Christian Morgenstern (1871–1914) vor allem mit seinem Gedichtband Galgenlieder bekannt. Man sollte jedoch nicht unerwähnt lassen, daß die humoristischen Gedichte nur einen Teil seines Werks ausmachen und es dem Dichter darum ging, einer als absurd empfundenen Welt ein lustvoll-ironisches Moment entgegenzusetzen. Im Grunde war Morgenstern der große Entspannungstechniker der deutschen Literatur, dessen Gedichte freilich auch fatalistisch, makaber und unheimlich sein konnten.
Die Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte, aufgefädelt auf die Perlenschnur des Alphabets. Doch braucht der Dichter nicht einmal alle Buchstaben, um uns diese Geschichte zu erzählen. A, B, L, Q und Z, den Rest kennen wir. Es ist ein fröhliches Spiel mit Überlieferung und Erinnerung, das Morgenstern hier treibt. Das ganz und gar Erstaunliche daran ist aber, dass er dazu nur einen Papagei braucht. Der am Ende – wiewohl alt geworden wie Methusalem – leider auch das Zeitliche segnen muß. Er geht nämlich am letzten Buchstaben des Alphabets zugrunde.
Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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