CHRISTIAN MORGENSTERN
Herr Meier hält sich für das Maß der Welt
Herr Meier hält sich für das Maß der Welt.
Verständlich ist allein, was ihm erhellt.
Herr Meier sagt, wozu doch eure Kunst,
wenn nicht für mich! Sonst ist sie eitel Dunst.
Noch mehr, bei weitem mehr: Herr Meier meint,
dass dann die Kunst im Grunde sträflich scheint.
Man muss sich eiligst von Herrn Meier wenden,
um nicht mit Mord und Raserei zu enden.
1905
Die Toleranzgrenzen in Sachen Kunst sind in großen Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit eng gesteckt. Alles, was nicht innerhalb des schmalen Verständnishorizonts bleibt, wird sofort als „sträflich“ und inakzeptabel disqualifiziert. Christian Morgenstern (1871–1914) hat in seinen Galgenliedern (1905) einen Kunstexperten porträtiert, der das gesunde Volksempfinden geltend machen will.
Morgensterns ominöser Herr Meier verlangt die unmittelbare Nutzanwendung von Kunst, einen „Gebrauchswert“, der sofort identifizierbar sein muss. Kontemplation und Reflexionsanstrengung in der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk sind nicht vorgesehen. Eine solche notorische Ignoranz kann selbst einen Meister-Humoristen wie Morgenstern in Verzweiflung und „Raserei“ treiben.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Damit hat Morgenstern prophetisch den Untergang Deutschlands
durch die Nazis vorausgesagt