CHRISTIAN MORGENSTERN
Wer denn?
Ich gehe tausend Jahre
um einen kleinen Teich,
und jedes meiner Haare
bleibt sich im Wesen gleich,
im Wesen wie im Guten,
das ist doch alles eins;
so mag uns Gott behuten
in dieser Welt des Scheins!
1905
„Man weiß nicht“, so schrieb sein Bewunderer Kurt Tucholsky (1890–1935) über ihn, „was man mehr bewundern soll: die Clownerie oder die tiefe Weisheit.“ Tatsächlich hat Christian Morgenstern (1871–1914), der Meister der humoristischen Groteske, in seinen Gedichten stets raffinierte Sinn-Fallen aufgestellt, die einer philosophischen Sentenz ebenso täuschend ähnlich sehen wie listigem Nonsens. Seine philosophische Komik bestätigt und sabotiert zugleich die Einsichten der großen Denker.
Die Frage nach den letzten Dingen und tiefschürfende Mythologeme zum Sinn des Seins werden in diesem kleinen Poem aus den Galgenliedern (1905) in ihrem Pathos entzaubert. Was zuvor noch ein philosophisches Elementarereignis war, wird hier durch kleine Bedeutungsverschiebungen und fehlerhafte Reime zur ausgelassenen Lachnummer. So dass als Erkenntnis-Konstante nur eine Banalität übrig bleibt: „Das ist doch alles eins.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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