CHRISTIAN WAGNER
Im Tannwald
Unheimlich an hört sich im Wald das Knarren
Der Tannen, die, von andern überhangen,
Hinauf zum grauen Abendhimmel starren.
So stört in Nächten oft, in kummerbangen,
Der Schlafende den andern durch ein Schnarren
Und seltsam Rufen, wirr im Traum begangen.
nach 1870
Aus der labyrinthischen Verschlungenheit des Walds ist hier kein Entkommen. Der schwäbische Naturbeschwörer Christian Wagner (1835–1918) hat seinen Tannwald so dicht mit Zeichen des Unheimlichen und rätselhaften Geräuschen bestückt, dass es kein Außerhalb mehr gibt. Die Sprachkraft des Dichters Wagner sei „um so außerordentlicher“, so urteilte der jüdische Literaturforscher Werner Kraft, „wenn die Ohnmacht das Gestrüpp stehen lässt, durch das die Sprache mit der Macht einer Naturkraft bricht“.
Die bedrohlichen Naturlaute reichen bis in die wirren Träume des Schlaflosen hinein, den Wagner hier als Protagonisten seiner „Tannwald“-Phantasie aufruft. Die zwei ineinander gebundenen Terzette lassen den Ursprung und die Bedeutung der Geräusche offen, die den Tannwaldgänger quälen. Hier vollzieht sich eine Heimsuchung, deren Sinn und Ziel unbekannt bleiben. Eine erlösende Aufklärung wird verweigert.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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