CHRISTINE BUSTA
Legende
Einmal waren wir Vögel:
wir flogen zusammen
und kreisten durch unermessliche Tage.
Wir hockten gedrängt im Nest,
wenn die funkelnde Nacht heraufkam,
und schwereloser war nichts
als Flaum an Flaum unser Leben.
Als heute der scharfe Bergwind
uns Arm in Arm vor sich hertrieb,
erkannt’ ich dich wieder am schnelleren Herzschlag.
Vom Munde gerissen war uns die Sprache, die lähmt
und wir flogen noch einmal,
jäh in der Kehle den Laut
reiner, sinnloser Lust
1955
aus: Christine Busta: Lampe und Delphin. Otto Müller Verlag, 4. Aufl., Salzburg 1995
Die Idee einer christlichen Poetik realisierte die Wiener Lyrikerin Christine Busta (1915–1987) durch die motivische Hinwendung zur „Landschaft des Nazareners“ und zur „Wohnstatt des tröstlichen Worts“. Ein begütigendes Sprechen, das die „seligen Dämmerzustände unserer Seele zwischen Traum und Tag“ aufnimmt und in poetische Gleichnisse verwandelt – das war die Domäne dieser Dichterin. So entsteht auch in der 1955 erstmals publizierten „Legende“ ein „schwereloser“ Zustand, der nah an das Geheimnis der Schöpfung heranführt.
Das lyrische „Wir“ behauptet hier eine symbiotische Ureinheit von Mensch und Natur, die in der Gegenwart offenbar verlorengegangen ist. Dieses Bewusstsein einer existenziellen Nähe zu allen Kreaturen findet sich in der Gegenwartslyrik des 21. Jahrhunderts kaum noch. Für Christine Busta war dieses pantheistische Weltgefühl ein unverzichtbares Element der Dichtung: „So schwach wir auch sein mögen, in der Zuneigung zum Mitmenschen können wir noch mit vergehendem Atem das Mysterium der Schöpfung erneuern.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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