CHRISTINE LAVANT
Jede Stelle der Erde
Jede Stelle der Erde
schmeckt nach dem, was ich wissen werde,
wenn ich den Apfel gegessen habe
und die sieben lebendigen Kerne vergrabe
im Mondhof unter dem Feigenbaum.
Meine Stirne zerschlägt jede Nacht einen Traum,
um den Apfel herüberzuholen.
Ein paar Sterne leuchten verstohlen
und stehen um künftige Kerne mir bei
und fallen zu früh, übertaucht vom Geschrei
der Hähne, die alles verraten.
Gestützt auf mich wächsernen Spaten
stolpert tagsüber mein Sinn um die Erde,
die alles schon weiß, was ich wissen werde.
1956
aus: Christine Lavant: Die Bettlerschale. 7. Aufl. Otto Müller Verlag, Salzburg 2002
Die Dichterin Christine Lavant (1915–1973) erlebte den eigenen Körper zeit ihres Lebens als ständiges Martyrium. Seit ihrer Geburt setzten ihr Hautgeschwüre und Lungenentzündungen und eine chronische Lungentuberkulose zu. Wie ihr Leben von Schmerzen geprägt war, so schreiben sich in ihren Gedichten das Bewusstsein der eigenen Hinfälligkeit und ein ausgeprägter Blick auf die Nachtseiten der Realität ein. Folkloristische und mythologische Konstanten ziehen das Koordinatennetz ihrer wunderbaren Gedichte.
Eine stets wiederkehrende nächtliche Heimsuchung wird beschrieben. Dabei verbindet Lavant unterschiedliche lunare Motive miteinander und zeigt ein Bewusstsein, dessen Erleben bis in den Traum verfolgt wird, von der realen Präsenz der Unterwelt. Das Zentralmotiv hierbei ist der Granatapfel, ein Zeichen der Askese und ein Symbol für Fruchtbarkeit, Blut und Tod. Lavant rekurriert mit ihrem Symbol zunächst auf den biblischen Moment der Erkenntnis. Vor allem ist es der Rekurs auf den Persephone-Mythos, der das ständige Todesbewusstsein zur Anthropologie erhebt.
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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