Clemens Brentanos Gedicht „Abendständchen“

CLEMENS BRENTANO

Abendständchen

Hör, es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen!
Golden weh’n die Töne nieder;
Stille, stille, laß uns lauschen!

Holdes Bitten, mild Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
blickt zu mir der Töne Licht.

1802

 

Konnotation

Im Winter 1802 entwickelt Clemens Brentano (1778–1842) in wenigen Tagen das kleine Singspiel „Die lustigen Musikanten“, das sich an der italienischen Commedia dell’arte orientiert. Was dort als ein Duett zwischen dem blinden Piast und seiner Tochter Fabiola angelegt ist, erscheint in zahllosen Anthologien zur deutschen Lyrik als ein lyrisches Musterbeispiel für den gemüthaften Zauber deutscher Romantik. Unter dem Titel „Abendständchen“, der nicht von Brentano stammt, spricht dieses Gedicht von synästhetischer Wahrnehmung.
In der sinnlichen Gleichzeitigkeit von Farbenhören und Tönesehen werden die Grenzen von Wirklichkeit und Vorstellung aufgehoben. Das romantische Bewusstsein ist empfänglich für dieses „goldene Wehen“ der Töne – und damit auch für den Zauber der Synästhesie und die vollkommene Musikalisierung der Welt, ihre Verwandlung in einen Zustand fortdauernder Sehnsucht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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