DAVID FRIEDRICH STRAUSS
Wer weiß zu leben?
Wer weiß zu leben? Wer zu leiden weiß.
Wer zu genießen? Der zu meiden weiß.
Wer ist der Reiche? Der sich beim Ertrag
des eigenen Fleißes zu bescheiden weiß.
Wer lenkt die Herzen? Der den herben Ernst
stets in ein heitres Wort zu kleiden weiß.
Wer ist der Weise? Der das falsche Gold
vom echten schnell zu unterscheiden weiß.
Und wer der Fromme? Der vom Menschen wohl,
doch nichts von Christen oder Heiden weiß.
1878
Seine große religionskritische Studie Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/36) hat die Theologen zu erbitterten Debatten provoziert und die Schüler Hegels (1770–1831) entzweit. David Friedrich Strauß (1808–1874), ein Jugendfreund Eduard Mörikes (1804–1875), fundierte den Inhalt der neutestamentlichen Jesus-Geschichte auf das Prinzip des Mythos und traf erstmals eine Unterscheidung zwischen dem Jesus von Nazareth und dem Christus des Glaubens. Er definierte sich selbst als Theologe mit dichterischem Talent: „Ein Gedicht wußt ich zu machen, / Doch ein Dichter war ich nicht.“
Der letzte, posthum erschienene Band von Strauß’ Gesammelten Schriften enthielt 1878 ein „Poetisches Gedenkbuch“, in dem die im Nachlass des Philosophen aufgefundenen Gedichte versammelt sind. Hier finden sich auch Sinnsprüche, die Strauß zu einer kleinen lyrischen Sittenlehre der Mäßigung und Toleranz gebündelt hat. Dieser letzte Spruch markiert in dialektischem Frage- und Antwortspiel die wichtige Differenz zum privilegierten Wahrheitsanspruch der christlichen Religionen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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