Dieter Wellershoffs Gedicht „Todessekunde“

DIETER WELLERSHOFF

Todessekunde

Die Ampeln dieser Stadt leuchten
rot und grün zugleich.
Bleibe ich stehen, gehe ich?
Gelb zwinkert: ein Tigerauge in der Dunkelheit.
Auf Gleis zwölf drehen sich schwarze Windmühlenflügel.
Gleis zwölf. Bin ich richtig hier?
Das Tigerauge zwinkert: keine Gefahr!
Aber das könnte eine Täuschung sein.
Es ist eine Sekunde vor zwölf.
Die Zeit vergeht nicht.

1984

aus: Dieter Wellershoff: Zwischenreich. Gedichte. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008

 

Konnotation

Es ist der finale Lebensmoment, ein Augenblick, in dem das desorientierte Ich alle Koordinaten seiner Existenz verliert und die widersprüchlichsten Signale empfängt, ohne sich noch seines Standorts vergewissern zu können. Es gibt keine Richtung mehr, die das Subjekt einschlagen könnte, die Zeichen, die auf es einstürmen, sind in ihrer Bedeutung nicht mehr entzifferbar. Der passionierte Erzähler und Gelegenheitsdichter Dieter Wellershoff (geb. 1925) demonstriert wie in seinen Romanen seine Vorliebe für den existenziellen Ausnahmezustand.
Die Dimensionen der Weltwahrnehmung sind in der „Todessekunde“ eigentümlich verzerrt, eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Reizsignalen ist nicht mehr möglich, Zahlen und Zeichen fließen aufgehoben. Dieter Wellershoff hat sich in dieser kurzen Traumsequenz aus dem Jahr 1984 – wie in vielen seiner Romane – an das dunkle Geheimnis des Sterbens herangeschrieben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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